Wiederentdeckt: The Prisoner of Shark Island

Seite 2: Einst und jetzt: Krieg gegen den Terror

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Zu Beginn seiner Wortmeldung erinnerte Ford daran, dass die DGA gegründet worden war, um die Regisseure gegen die Willkür von Produzenten zu schützen, die vielleicht etwas von Geld und Profit verstanden, aber wenig vom Film und die ihr Fähnlein nach dem Wind hängten. Darryl F. Zanuck, den Chef der 20th Century-Fox, nahm er davon ausdrücklich aus. Für Zanuck drehte Ford zehn Filme, von The Prisoner of Shark Island (1935/36) bis zu My Darling Clementine (1946). Die Zusammenarbeit verlief nicht immer reibungslos, war für Fords künstlerischen Werdegang aber sehr wichtig. Shark Island, den er in Interviews zu seinen liebsten Filmen zählte, war ein von Zanuck entwickeltes Projekt.

The Prisoner of Shark Island

Der Film basiert auf einer wahren Begebenheit. Am 14. April 1865 erschoss der Schauspieler John Wilkes Booth in Ford's Theater in Washington Abraham Lincoln. Als dramatischen Abgang hatte er sich einen Sprung aus der Präsidentenloge auf die Bühne gedacht. Allerdings verfing er sich mit seinen Sporen in einer vor der Loge drapierten Fahne. Bei der Landung auf den Bühnenbrettern brach er sich das linke Bein. Booth muss enorme Schmerzen gehabt haben. Auf der Flucht durch Maryland machte er bei Dr. Samuel A. Mudd Halt. Dr. Mudd schiente ihm das gebrochene Bein.

The Prisoner of Shark Island

Ohne die Verletzung wäre es Booth vielleicht gelungen, den Potomac zu überqueren und unter den vielen Südstaaten-Soldaten zu verschwinden, die seit General Lees Kapitulation durchs Land zogen. So wurde er - trotz beträchtlicher Inkompetenz der Verfolger - am 26. April bei einer Scheune in der Nähe von Port Royal in Virginia gestellt. Bei der Belagerung der Scheune kam Booth unter nie ganz geklärten Umständen ums Leben. Von einem toten Attentäter war weder eine Aussage über seine Mitverschwörer zu erhalten, noch konnte er vor Gericht gestellt werden. Eine Verurteilung der Täter ist aber wichtig, weil sie für ein Gefühl der Abgeschlossenheit und damit für Beruhigung sorgt. Angesichts der hysterischen Stimmung in der Bevölkerung wollten Regierung und Militär (das bei der Bewachung des Präsidenten schmählich versagt hatte) zeigen, dass sie bereit waren, schnell und unnachgiebig durchzugreifen. Das ist wohl eine der Erklärungen für das, was folgte.

Vom 9. Mai bis zum 30. Juni 1865 wurde acht Personen, von denen man annahm, dass sie mit Booth unter einer Decke steckten, der Prozess gemacht. Mit der Begründung, dass Lincoln der militärische Oberbefehlshaber gewesen und sozusagen im Kampf gefallen war, wurden die mutmaßlichen Verschwörer vor ein aus neun Offizieren bestehendes Kriegsgericht gestellt. Obwohl die Anklage über 300 Zeugen vernahm, war die Beweislage sehr dürftig. Leute, die Booth nach dem Attentat beherbergt hatten, wurden so wenig vorgeladen wie der Polizist, der als Lincolns Leibwächter eingeteilt gewesen war (vermutlich, um der Washingtoner Polizei die Blamage zu ersparen: der Mann war nach Beginn der Vorstellung in eine Kneipe gegangen).

Einer der Angeklagten wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, drei erhielten lebenslange Haftstrafen, vier die Todesstrafe. Booth hatte ursprünglich vorgehabt, Lincoln zu entführen. Den Plan dazu besprachen er und seine Komplizen in der Pension von Mary Surratt. Mrs. Surratts Sohn gab später zu, an diesem Teil der Verschwörung beteiligt gewesen zu sein. Ob die Pensionswirtin involviert war oder auch nur etwas von den Plänen gewusst hatte, ist ungeklärt. Stichhaltige Beweise gibt es nicht. Auch Mrs. Surratt wurde zum Tode verurteilt. Sie war nicht die erste Frau, die in den USA je hingerichtet wurde, aber doch die erste, die man nach einem auf Bundesebene durchgeführten Verfahren hängte. Die vier Todesurteile wurden am 7. Juli 1865 gleichzeitig vollstreckt. Bis sich die Klappen unter den Galgen öffneten, wurden die Verurteilten mit Schirmen vor der sengenden Sonne geschützt. Gerecht wollte man sein, grausam aber nicht.

The Prisoner of Shark Island

Arzt oder Terrorist?

Vermutlich, um den besten Fluchtweg zu erkunden, war Booth unter dem Vorwand, eine Immobilie kaufen zu wollen, vor dem Attentat durch Maryland gereist und dabei auch in Kontakt mit jenem Dr. Mudd gekommen, der ihm später das gebrochene Bein schiente. Die beiden begegneten sich drei Mal, vielleicht öfter. Mudd stritt zunächst ab, Booth vor der Nacht des Anschlags je getroffen zu haben. Dieses anfängliche Leugnen wurde zu einem der wichtigsten "Beweise" dafür, dass Mudd zu den Verschwörern gehörte. Auch gegen ihn gab es nur wenig belastbare Indizien. Sollte er die Bekanntschaft mit Booth zunächst geleugnet haben, weil er ahnte, dass die Behörden unbedingt ein paar Schuldige brauchten, gab ihm der Prozess durchaus Recht.

Mudd stammte aus einer Familie von Sklavenhaltern und glaubte wie viele seiner Zeitgenossen, dass die Sklaverei von Gott gewollt sei. Das muss man nicht sympathisch finden. Man darf auch mutmaßen, dass ein solcher Glaube mehr mit wirtschaftlichen Vorteilen als mit religiösen Überzeugungen zu tun hatte (das Fundament der Tabakindustrie von Maryland war die Sklavenarbeit). Allerdings rechtfertigt das noch nicht das Vorgehen des Anklägers, der Dr. Mudds Beteiligung an der Verschwörung gegen Präsident Lincoln unter anderem dadurch "bewies", dass dieser einmal einem Sklaven ins Bein geschossen haben sollte. Mudd erging es so wie Mrs. Surratt: Schuldig durch Assoziation. Man kennt das von Guantanamo, wo bis heute Häftlinge gefangengehalten werden, deren Verbrechen darin besteht, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Dr. Mudd wurde mit einer Stimme Mehrheit statt zum Tod zu lebenslanger Haft im schlimmsten Bundesgefängnis verurteilt, das man finden konnte.

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Am Eingang zum Golf von Mexiko, vor der Küste Floridas, liegt eine als Dry Tortugas bezeichnete Inselgruppe (es gibt dort kaum Süßwasser). 1846 begann man auf einer der Inseln mit der Errichtung einer Anlage, die als die größte Festung in Ziegelbauweise der westlichen Hemisphäre gilt und nach dem dritten Präsidenten der USA benannt wurde: Fort Jefferson. Die Militärs, die den Bau durchsetzten, hielten ihn für unverzichtbar für die Landesverteidigung. Kritiker sagten ein Fiasko voraus und wandten ein, dass feindliche Kriegsschiffe nie in Schussweite der Kanonen kommen würden, weil das Wasser zu seicht sei.

The Prisoner of Shark Island

Wie dem auch gewesen sein mag: Nach 30 Jahren, in denen 16 Millionen Ziegelsteine verbaut wurden, stellte man die Arbeiten ein. Fort Jefferson blieb unvollendet. Die Armee hatte die Festung längst in ein Gefängnis umgewandelt. Offizieller Grund: Inzwischen gab es neue Kanonen, denen die einst als undurchdringlich gepriesenen Mauern nicht gewachsen waren. Die allgemein als Dry Tortugas bekannte Haftanstalt war ein Höllenloch, in dem regelmäßig Gelbfieberepidemien ausbrachen, die viele Todesopfer forderten. Dem Gelbfieber war man damals hilflos ausgeliefert, weil man noch keine Kur kannte und nicht wusste, dass es von Moskitos übertragen wird. Während des Bürgerkriegs wurden Deserteure in Fort Jefferson eingesperrt. Wer einen Gefangenen dort hinschickte, nahm dessen Tod billigend in Kauf.

The Prisoner of Shark Island

Als im Herbst 1867 wieder eine der gefürchteten Epidemien ausbrach und alle Militärärzte krank wurden oder starben, übernahm Dr. Mudd deren Aufgaben und machte sich um die Eindämmung des Fiebers verdient (die Insel stand unter Quarantäne, weil man an eine Übertragung von Mensch zu Mensch glaubte). Nach der Epidemie setzten sich die überlebenden Offiziere für seine Begnadigung ein. Im März 1869 wurde Dr. Mudd freigelassen. Für viele war das ein indirektes Eingeständnis von Seiten der Regierung, dass ihm Unrecht widerfahren war. Ein paar Wochen nach ihm begnadigte Lincolns Nachfolger Andrew Johnson auch die beiden anderen Verurteilten, die noch lebten (einer war am Gelbfieber gestorben).

Lang lebe der Verfahrensfehler

Nach der letzten Zählung werden in Guantanamo noch 221 Gefangene festgehalten. Etwa 40 von ihnen, schätzt man, wird irgendwann der Prozess gemacht, weil die Ankläger glauben, über genügend gerichtsverwertbare Beweise zu verfügen. Mehr als 80 Personen (und unserem Freund Obama) könnten wir sofort helfen, indem wir sie bei uns aufnehmen. Nach Auffassung des US-Verteidigungsministeriums könnten sie jederzeit entlassen werden, weil sie "ungefährlich" sind. Übersetzt heißt das: sie sind unschuldig. Das Wort wird vermieden, weil das Pentagon Angst vor Entschädigungsforderungen hat. Falls der US-Bürger Samuel A. Mudd für völlig unschuldige Uiguren ein Maßstab ist, sollten diese sich nicht allzu viel erwarten.

Dr. Richard Mudd, ein Enkel, nahm in jungen Jahren den Kampf für die Rehabilitierung seines Opas auf. Das wurde zu einer Lebensaufgabe. Er schlug sich mit allerlei Behörden, Würdenträgern und Gerichten herum und veröffentlichte 1951 ein zweibändiges Werk mit dem Titel The Mudd Family of the United States. Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck, weil zur Wiederherstellung von Dr. Mudds Reputation auch der Nachweis gehört, dass ein gewisser Thomas Mudd bereits 1665 von England nach Amerika übersiedelte. Damit sind wir wieder sehr nah bei Cecil B. DeMille, der 1950 beim Treffen der Regisseure im Beverly Hills Hotel suggerierte, dass eine Geburt außerhalb der USA automatisch verdächtig macht.

Dr. Richard Mudd wandte sich an mehrere US-Präsidenten. Ronald Reagan ließ wissen, dass er und Nancy zu der Überzeugung gelangt seien, dass Dr. Samuel Mudd unschuldig war. Das hatte vor ihm schon Jimmy Carter so gesehen, allerdings auch mitgeteilt, dass er leider gar nichts machen könne; zuständig sei die Armee. 1990 beantragte der Enkel bei der Kommission für die Änderung von Militärakten, die Verurteilung seines Großvaters wegen der Beteiligung am Lincoln-Attentat zu streichen und die im Nationalarchiv verwahrten Dokumente entsprechend zu ändern. Die Armeekommission leitete eine Überprüfung ein, fand Verfahrensfehler und empfahl die Streichung. Der Fall hätte vor einem Zivilgericht verhandelt werden müssen. Dr. Mudd sei daher zu unrecht verurteilt worden.

Dr. Samuel A. Mudd

Über Schuld und Unschuld sagte das noch nichts. Die zuständigen Stellen hatten deshalb eine gute Begründung, warum sie der Empfehlung nicht folgen mochten. 1992 beantragten zwei Abgeordnete des Repräsentantenhauses, das Urteil aufzuheben. Der Antrag wurde an den zuständigen Ausschuss verwiesen und dort begraben. Mudds Enkel prozessierte noch immer gegen irgendwelche Behörden, als er starb. 2003 weigerte sich der Oberste Gerichtshof, den Fall zur Verhandlung anzunehmen, weil eine Antragsfrist nicht eingehalten worden war. Das war das letzte Wort in der Angelegenheit.

Dr. Mudds Haus in Maryland ist heute ein Museum. Die ehemalige Pension von Mrs. Surratt in Washington steht unter Denkmalschutz; in dem Gebäude befindet sich jetzt ein chinesisch-japanisches Restaurant; wer mal hinkommt und glaubt, dass die Chinesen in Deutschland scharfes Essen servieren, weil es so auf der Speisekarte steht, probiert besser das Sushi und die Tee-Kreationen). Fort Jefferson wurde schließlich aufgegeben - nicht wegen der menschenunwürdigen Lebensbedingungen für Gefangene und Wachpersonal, sondern wegen der Kosten. Anfang 1935 stattete Präsident Roosevelt der Insel einen Besuch ab und erklärte die Festung zum National Monument. Fort Jefferson wurde zur Touristenattraktion, mit der Zelle von Dr. Mudd als besonderer Sehenswürdigkeit (inzwischen ist die ganze Gegend ein Naturschutzgebiet).