Wiederentdeckt: The Prisoner of Shark Island

Seite 3: Wunderheiler gestern und heute: Lincoln und Obama

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Vielleicht brachte die Umwandlung von Fort Jefferson in ein Museum Zanuck auf den Gedanken, die Filmrechte am Buch von Mudds jüngster Tochter Nettie zu kaufen, The Life of Dr. Samuel A. Mudd. Sarah Mudd, Netties Mutter, heißt im Film Peggy. Das deutet auf Probleme mit den Angehörigen hin, die damals gern durch solche Namensänderungen gelöst wurden, auch wenn einem das absurd erscheint. 70 Jahre nach dem Attentat auf Lincoln war das Projekt noch immer äußerst heikel. Vermutlich ist das der Grund, warum Booth für Dr. Mudd ein Unbekannter ist, als er sich wegen des gebrochenen Beins behandeln lässt. Ein Film über einen unschuldigen und völlig zu Unrecht verurteilten Dr. Mudd war gewagt. Noch viel riskanter wäre ein Film mit einem Helden gewesen, der den Attentäter kennt, möglicherweise in die Verschwörung verwickelt ist und trotzdem das zu Unrecht verurteilte Opfer eines Justizskandals wird, weil es kein rechtsstaatliches Verfahren gibt.

Der in Georgia geborene Nunnally Johnson schrieb das Drehbuch für einen Film über die unfaire Behandlung des Südens durch den Norden nach dem Bürgerkrieg. Johnson machte das immer so, wenn sich eine Gelegenheit ergab. Auch John Ford, der mit einer Südstaatlerin verheiratete Yankee irischer Abstammung, steht in dem Ruf, die Kultur des alten Südens gern nostalgisch zu verklären. Die Welt in seinen Filmen ist aber viel zu komplex für weiße und für schwarze Hüte. Am besten versteht man The Prisoner of Shark Island, wenn man ihn zusammen mit Young Mr. Lincoln sieht, den Ford vier Jahre später drehte (wieder für Zanuck).

Wenn Barack Obama, der angetreten ist, die Wunden der Vergangenheit zu heilen und ein gespaltenes Land zu einen, Abraham Lincoln als sein großes Vorbild nennt, ist das kein Zufall. Es hat mit konkreter Politik zu tun, aber auch mit der Bedeutung symbolischer Auftritte und der Herstellung assoziativer Verbindungen in einer Mediengesellschaft. Die Funktion von Präsident Lincoln im amerikanischen Film ist immer dieselbe: Er ist der Mann, der den Bürgerkrieg gewinnt und mit aller Kraft die Einheit der zerrissenen Nation wiederhergestellt hätte, wenn er nicht ermordet worden wäre (rund um die Wahl Obamas waren Befürchtungen weit verbreitet, dass er - so wie Lincoln im Film - einem Attentat zum Opfer fallen und deshalb sein angekündigtes Einigungswerk nicht in Angriff nehmen könnte).

The Iron Horse, Union Pacific

Weder Ford in The Iron Horse noch DeMille in Union Pacific möchten auf einen Abraham Lincoln verzichten, der einer transkontinentalen, das ganze Land verbindenden Eisenbahnlinie seinen Segen gibt, bevor er ins Theater geht (in The Plainsman, auch von DeMille, regt er noch schnell die Eroberung des Wilden Westens durch Gary Cooper an, bevor er ermordet wird). Am Anfang von The Prisoner of Shark Island, nach der Kapitulation der Südstaaten, lässt Lincoln bei der Jubelfeier als Versöhnungsgeste von einer Nordstaatenkapelle Dixie spielen, die Hymne des Südens. In Union Pacific bedeutet das Attentat in Ford's Theater, dass die Westernhelden rund um Joel McCrea und Barbara Stanwyck nun noch entschlossener gegen die skrupellosen Spekulanten von der Ostküste kämpfen müssen, damit das Land in Lincolns Sinne zusammenwachsen kann. Wenn Ford vor seinem toten Präsidenten den Schleier fallen lässt, schwingt dagegen bereits die Sorge mit, dass mit Lincoln auch der Rechtsstaat zu Grabe getragen werden könnte.

The Plainsman

Young Mr. Lincoln beginnt damit, dass der junge Abe zufällig ein paar Gesetzbücher in die Hände bekommt. Er ist von diesen Büchern fasziniert und wird Anwalt. In Springfield, wo er praktiziert, herrscht eine vom Sheriff geduldete Form des Faustrechts. Zwei junge Männer von außerhalb sollen einen Einheimischen getötet haben und deshalb aufgehängt werden. Lincoln verhindert durch geschickte Rhetorik das Lynching und erwirkt eine faire Gerichtsverhandlung, an deren Ende die beiden Angeklagten freigesprochen werden. Am Schluss des Films steigt er trotz Gewitter auf einen Hügel wie ein Prophet, der nun im ganzen Land seine Botschaft verkünden wird.

Young Mr. Lincoln

Durch Lincolns Tod in The Prisoner of Shark Island fällt die amerikanische Gesellschaft zurück in eine legalisierte Form des Faustrechts. In Washington ist das Ganze nur viel elaborieter als in Springfield, Illinois. Vor dem Prozess werden die Militärrichter vom stellvertretenden Kriegsminister instruiert. Man stelle die acht Angeklagten vor ein Militärtribunal, erklärt er, weil sich die Regierung von "Männern des Schwertes" härtere Urteile verspreche als von Zivilisten. Es gehe nicht darum, ob die Angeklagten schuldig oder unschuldig seien. Das Land sei in Gefahr, im Chaos zu versinken; ein weiteres Blutvergießen müsse unter allen Umständen verhindert werden. Im Kampf gegen den Terror, heißt das, heiligt der Zweck die Mittel. Das alles erinnert auf eine unheimliche Weise an die Sprüche und Vorgehensweisen der Regierung Bush/Cheney nach 9/11.

Von Fort Jefferson nach Guantanamo und Abu Ghraib

In dieser Notlage, so der Minister, dürften sich die Richter nicht mit solchen Lappalien wie juristischen Formalitäten, einem pedantischen Beachten rechtlicher Verfahrensregeln oder störenden Grundsätzen wie "Im Zweifel für den Angeklagten" aufhalten. Sie müssten vielmehr die "Stimme des Volkes" sein. Und Volkes Stimme macht sich gerade vor dem Gerichtsgebäude Luft, wo der Mob die Hinrichtung der Schuldigen verlangt. In die Verhandlung werden die Verdächtigen nur gebracht, um abgeurteilt zu werden. Für die Richter ist das eine patriotische Pflicht. Die Angeklagten tragen Kapuzen wie die Gefangenen von Abu Ghraib.

The Prisoner of Shark Island

So führt uns die Handlung, die mit einem Fest der Freiheit beginnt, nach nur vier Etappen (Sieg über die Sklavenhalter - Anschlag - Verhaftung - Verurteilung) auf eine Insel, die ein Gefängnis ist. In diesem Mikrokosmos spielt es letztlich keine Rolle, wer sich auf welcher Seite des Gitters befindet. Frei ist hier keiner mehr. Zanuck wünschte sich für die Werbung Szenen, die sich zu den kürzlich verfilmten Der Graf von Monte Cristo und Les Miserables in Bezug setzen ließen (der echte Mudd hatte Victor Hugos Roman während der Haft in Washington gelesen). Ford inszenierte den Ausbruchsversuch des Helden so, dass vor allem eines deutlich wird: Es gibt kein Entkommen.

The Prisoner of Shark Island

Praktisch an Fort Jefferson war, dass die Dry Tortugas der zivilen Gerichtsbarkeit entzogen waren. Im Film will Dr. Mudd nicht fliehen, um dann unterzutauchen. Er will sich nach Key West durchschlagen, um vor einem Zivilgericht ein ordentliches Haftprüfungsverfahren zu beantragen und sich gegebenenfalls einem fairen, nach den Regeln eines Rechtsstaats durchgeführten Prozess zu stellen. Auch das kennt man aus heutiger Zeit nur allzu gut. Nach dem gescheiterten Fluchtversuch wird Dr. Mudd zur Disziplinierung in ein dunkles Loch unter der Erde geworfen. Das ist der Vorläufer der Folter durch Reizentzug, wie sie inzwischen von der CIA praktiziert wird.

The Prisoner of Shark Island

Diese Gefängnisinsel, hieß es in den Pressetexten der Fox, sei "der dunkelste Fleck auf Amerikas Ehre". Hollywood kann sich die Zeile schon mal vormerken, falls man sich dort demnächst an das Thema Guantanamo herantrauen sollte (Michael Winterbottoms The Road to Guantanamo ist eine britische Produktion). Man wundert sich, wie so ein Film 1935 entstehen konnte. Wahrscheinlich ließen sich die Zensoren durch den Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten ablenken, der emotional so aufgeladen war, dass man mit viel Ärger rechnen musste. Die Bewahrer des Motion Picture Production Code waren denn auch stark davon in Anspruch genommen, Mudds Schwiegervater yankeefeindliche Äußerungen zu verbieten und die Dialoge nach dem Wort "Nigger" abzusuchen, das sechsmal gestrichen wurde.

The Prisoner of Shark Island

Interessanterweise hatte niemand etwas dagegen, dass die Schwarzen mit den Augen rollen, offenbar nicht besonders klug sind und eine gebückte Haltung einnehmen, wenn ein Weißer kommt. Aus heutiger Sicht sind solche Darstellungen auf eine bedrückende Weise rassistisch. Allerdings ist auch das komplizierter, als es den Anschein hat. Fords Schwarze wirken nicht zuletzt deshalb so anstößig, weil sie den im Süden favorisierten Stereotypen folgen und sich konsequent dem Geschmack des Nordens verweigern, dessen Präferenzen dadurch, dass wir uns an die dort populären Abziehbilder vom schwarzen Mann gewöhnt haben, nicht weniger rassistisch werden. Natürlich wäre es schön, wenn die Afroamerikaner in Shark Island solch aufrechte und selbstbewusste Menschen wären, wie sie Jahrzehnte später von Sidney Poitier und Halle Berry gespielt wurden. Ehrlicher ist es aber wahrscheinlich, wenn die Schwarzen so kurz nach dem (offiziellen) Ende der Sklaverei in die alten Verhaltensmuster zurückfallen, sobald ihnen ein weißer Herr wie Dr. Mudd die Leviten liest.

John Ford und Lynndie England aus Kentucky

Aus der im Februar 1936 gezeigten Premierenfassung ließ Zanuck etwa zehn Minuten herausschneiden. Man kann nur darüber spekulieren, was entfernt wurde, weil das Material nicht mehr zu existieren scheint. Vermutlich waren vor allem Szenen mit den schwarzen Darstellern betroffen. An den 95 verbliebenen Minuten überrascht, dass der Film nicht mit den glücklich vereinten Mudds endet, sondern mit der Familie des schwarzen Buck (Ernest Whitman). Das ist sehr ungewöhnlich. Auch Buck, ein ehemaliger Sklave von Dr. Mudd, ist ein rassistisches Abziehbild vom "Schwarzen", aber zugleich ist er die positivste Figur im Film. Er meldet sich freiwillig zum Wachdienst auf der Gefängnisinsel, um dem Mann zu helfen, der unschuldig verurteilt wurde und der seine Kinder zur Welt gebracht hat.

The Prisoner of Shark Island

Das weiße Dienstmädchen der echten Mudds ersetzt Ford durch eine Schwarze. Nun keine Sklavin mehr, muss sie sich neuerdings als Lohnempfängerin von Dr. Mudds Schwiegervater - einer bösen Karikatur des Southern Gentleman - schikanieren lassen. Vordergründig dient die Szene der komischen Auflockerung eines ansonsten tragischen Geschehens. Doch sie liefert auch einen Schlüssel zum Verständnis. Die Schwarzen sind die Repräsentanten der Unterschicht, gleich welcher ethnischen Zugehörigkeit. Das Wachpersonal von Fort Jefferson besteht mehrheitlich aus Afroamerikanern (nur die Vorgesetzten sind weiß). In Shark Island führt die sozial benachteiligte Unterschicht das aus, was von den Regierenden in Washington beschlossen wurde. Heute, in den Zeiten von Guantanamo und Abu Ghraib, kommen die Wärter aus den "bildungsfernen Schichten". Sie heißen Lynndie England, Charles Graner oder Megan Ambuhl.

In den vergangenen Jahren haben wir viel darüber gehört, was alles getan werden muss, um die Sicherheit zu gewährleisten, die Freiheit zu verteidigen, die Terroristen in Schach zu halten und dergleichen mehr. Für Ford sind das nur Phrasen. Seine persönlichen Kommentare findet man nicht in den großen Heldenmonologen, sondern in den Gesichtern der Nebenfiguren. Rings um das Gefängnis verläuft ein Graben voller Haie. Das muss so sein, sagt Sergeant Rankin (John Carradine), um die Gefangenen an der Flucht zu hindern. Zur Demonstration wird ein Stück Fleisch ins Wasser geworfen. Ford zeigt uns dazu das Gesicht eines Unteroffiziers (gespielt von seinem Bruder Francis), aus dem der pure Sadismus spricht.

The Prisoner of Shark Island

Der schlimmste Folterer im Gefängnis ist Sergeant Rankin. Am Schluss, von Dr. Mudd gesund gepflegt, ist er der erste, der die Petition für dessen Begnadigung unterschreibt. Kritiker finden das unnötig melodramatisch und unglaubwürdig. Aber für John Ford ist diese Wandlung wichtig. Die Soldaten verhalten sich den Gefangenen gegenüber nicht sadistisch, weil sie daraus eine perverse Lust beziehen. Der Sadismus ist das Ventil, das ihnen dabei hilft, mit einer an sich unerträglichen Situation umzugehen, für die nicht sie, sondern die Entscheidungsträger in Washington verantwortlich sind. Keiner von ihnen wird je zur Rechenschaft gezogen.

Stellen wir uns vor, wir hätten uns nach 9/11 diesen alten Film von dem Mann angeschaut, der Western drehte. Dann hätten wir hinterher viel darüber erzählen können, wie es nun weitergehen würde, von Guantanamo und Abu Ghraib. Das ist doch irgendwie recht gruselig. Aber ganz ehrlich: Wer hätte uns so etwas damals schon geglaubt?