Wiktor Medwedtschuk: Der Ukraine-Krieg und "Putins Mann in Kiew"
Wenn die Verfolgung von Oppositionellen und Roma mit westlichen Werten übereinzustimmen scheint. Ein Kommentar
"Er trägt Handschellen, die Haare fallen ihm strähnig und zerzaust in die Stirn, sein Blick geht ausdruckslos an der Kamera vorbei: Die beiden Fotos, welche der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU am Dienstagabend veröffentlichte, zeigen Wiktor Medwedtschuk als gedemütigten Menschen", so beschreibt der Auslandsredakteur der Tageszeitung Neues Deutschland die Festnahme und Demütigung eines gewählten Parlamentariers und Vertreters der größten parlamentarischen Oppositionsplattform in der Ukraine.
Nun müsste ja in den Medien in Deutschland, die die vorgeblichen EU-Werte so hochhalten, eine kritische Berichterstattung selbstverständlich sein. Schließlich müsste die Verhaftung, gar noch Demütigung eines nach bürgerlichen Kriterien gewählten Oppositionspolitikers als massiver Verstoß gegen diese Werte bezeichnet werden.
Tatsächlich wäre ein solches Vorgehen, würde es sich in Russland zugetragen haben, für die Kommentatoren der Medien hierzulande ein weiterer Beweis dafür, dass das Land immer zu einer Diktatur wird.
Wann ist ein Politiker ein Oligarch?
Doch Medwedtschuk war "Putins Mann in Kiew" (Spiegel) und dann noch, wie viele Medien hinzufügen, Oligarch und plötzlich schien dann für die deutschen Wertemedien die Repression gegen einen politischen Oppositionellen nicht mehr so schwerwiegend. Man hatte den Eindruck, sie zeigen schon in der Berichterstattung großes Verständnis.
Das wird beispielsweise durch den Begriff "Oligarch" deutlich, der schon klar negativ konnotiert ist, dass es dazu gar keines weiteren Adjektivs mehr bedarf. Wenn dann ein Oligarch festgenommen wird, denkt auch der durchaus liberale Leser in Deutschland, das hat schon seine Richtigkeit. Denn er assoziiert damit eine Art Mafiosi, der individuelle Schuldnachweis ist dann oft nebensächlich.
Dabei kann man unter einem Oligarchen auch einen Politiker verstehen, der besonders mit der heimischen Wirtschaft und dem Machtgefüge verbunden ist. Sicher ist das keine besonders sympathische Erscheinung, von einem emanzipatorischen Standpunkt aus gesehen. Doch auffallend ist, dass es Oligarchen scheinbar hauptsächlich in Staaten gibt, die sich der Werte-EU verweigern.
So haben die Medien in Deutschland Oligarchen schon mal im ungarischen Orban-Regime ausgemacht, in der polnischen Regierung, wenn die mal wieder zu stark gegen Brüssel und Berlin agieren und natürlich in Russland. Oligarchen sind natürlich auch die Verbündeten und Freunde Putins. Auch mit dieser Bezeichnung wurde Medwedtschuk in den Medien bedacht.
Wenn jedoch in Deutschland Politiker ein besonders enges Verhältnis zur Wirtschaft haben, werden sie in der Regel gelobt. Den langjährigen Blackrock-Mann Friedrich Merz hat bisher niemand als Oligarch bezeichnet. Darin zeigt sich einmal mehr, dass die so hoch gelobten Werte doch sehr relativ sind.
Das soll hier einmal mehr aufgezeigt, aber nicht etwa beklagt werden. Denn diese Selektivität der Werte ist der bürgerlichen Demokratie eingeschrieben und nicht etwa ein Abweichen davon, wie es manche der bürgerlichen Demokratie immer wieder vorwerfen.
Vielleicht wird Medwedtschuk noch mal gebraucht?
Die Verhaftung Medwedtschuk ist auch ein Machtbeweis der besonders nationalistischen Kräfte in der Ukraine, die sich jeglichen Kompromiss mit Russland verweigern. Deswegen fordern diese Kräfte offensiv von ihren Verbündeten immer mehr Waffen. Deswegen sind sie bereit, ihr Land zum Schlachtfeld zwischen der Nato und dem russischen Block zu machen, ohne Rücksicht auf die Opfer und das Leid der Menschen, das damit zwangsweise verbunden ist.
Im Gegenteil: Die Opfer werden, wie wir es in den letzten zwei Wochen am Beispiel einiger Kiewer Vororte erlebt haben, herangezogen, um noch mehr Waffen zu fordern und noch härter Krieg führen zu können, was wiederum die Opferzahlen erhöht.
Demgegenüber müsste die pazifistische Parole gelten, dass jeder Krieg ein Verbrechen ist. Es werden Millionen Menschen nationalistisch aufgehetzt, damit sie sich gegenseitig abschlachten und Städte zerstören, wie es aktuell von den nationalistischen Cliquen, die Russland und die Ukraine beherrschen, geschieht. Wer dieses mörderische Treiben durch Kompromisse und Verhandlungen beenden will, gilt da schon als Staatsfeind und Verräter.
Auch das ist die Logik jedes Krieges. Deswegen muss der Putin-Freund Medwedtschuk verhaftet und gedemütigt werden, und er soll, wenn nach den ukrainischen Nationalisten geht, gegen ukrainische Kriegsgefangene ausgetauscht werden. Medwedtschuks Verhaftung ist auch eine Warnung an den ukrainischen Präsidenten, sich bloß nicht auf Kompromisse mit Russland einzulassen.
Weltweit applaudieren die Schreibtischstrategen, die auf Kosten der ukrainischen Menschen und Städte Russland eine vernichtende Niederlage bereiten wollen. In Deutschland kann man davon ausgehen, dass manche aus der Enkelgeneration in der Ukraine die Niederlage ihrer Großväter in Stalingrad vergessen machen wollen. Diese ganzen Träume gedeihen nur, solange sich die ukrainische Armee gegen die russische behaupten kann.
Daher soll die auch immer mehr bewaffnet werden. Weil zu den fanatischen Kämpfern in der ukrainischen Armee nun einmal die Nationalisten und Faschisten der Asow-Brigaden gehören, darf nach Meinung des Werte-Westens auch nicht mehr über Faschisten in der Ukraine geredet werden. Die sind wieder einmal, wie so oft in der Geschichte, Verbündete der westlichen Wertegemeinschaft.
Schließlich gehörten dazu im Kalten Krieg auch die faschistischen Regime von Franco-Spanien und Salazar-Portugal. Doch wehe, wenn sich das Blatt wendet, wenn Mariupol, wo die Asow-Brigade besonders stark ist, tatsächlich zum Grab der ukrainischen Faschisten wird. Das muss man selbst dann nicht bedauern, wenn man, wie der Autor, Putins Krieg und seine vermeintlich antifaschistische Begründung, ablehnt.
Was, wenn sich also Russland in der Ukraine noch nicht geschlagen gibt? Dann könnten die Putin-Freunde, die man jetzt verfolgt und verhaftet, doch noch gesucht werden. Denn könnte auch Medwedtschuk wieder ins Spiel kommen.
Schließlich wurde er bereits vor Jahren auch auf Vorschlag von Merkel in eine ukrainisch-russische Verhandlungskommission berufen, gerade weil er als prorussisch gilt. Dann könnte er vom Oligarchen wieder zum ukrainischen Oppositionspolitiker mutieren.
Ukrainische Menschenrechtsverletzungen werden übersehen
Einstweilen aber sehen die meisten Medien noch die Chance, dass die Ukraine Russland militärisch in die Schranken weist. Da haben ukrainische Oppositionspolitiker, wenn sie verfolgt werden, keine Unterstützung verdient. Da wird auch großzügig über andere Menschenrechtsverletzungen in dem Land hinweggesehen, beispielsweise über die Behandlung der Roma-Minderheit in dem Land.
In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung Kontext beschreibt Fabian Kienert die jüngsten Verfolgungswellen von Roma und Sinti in der Ukraine bis in die Gegenwart.
Der Rassismus gegenüber Roma gehört keinesfalls der Vergangenheit an. Das Roma Antidiscrimination Network hat am 24. März dieses Jahres Fotos veröffentlicht, die an Pfosten gefesselte Roma zeigen. Ihnen wurde zum Vorwurf gemacht, sie hätten geplündert. Kremlnahe Telegram-Kanäle verbreiten diese Fotos als Propagandamaterial für den Vorwand der Entnazifizierung als Kriegsgrund, in der Ukraine werden sie von Rechtsextremen verbreitet.
Fabian Kienert, Kontext
Eigentlich müssten diese Menschen vor allem bei der Ausreise unterstützt werden. Doch auch hier sind sie, wie Kienert schrieb, weiteren Diskriminierungen ausgesetzt.
Der Rassismus begleitet geflüchtete Roma bis nach Deutschland. Der Gruppe am Mannheimer Hauptbahnhof wurde der Zugang zu den extra für Geflüchtete aus der Ukraine eingerichteten Räumen angeblich deshalb verwehrt, weil dort keine Männer zugelassen seien. Zur gleichen Zeit sollen sich einer Augenzeugin zufolge jedoch mehrere "weiße" ukrainische Männer in dem Raum befunden haben. Chana Dischereit vom Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg, berichtet, die DB-Sicherheitsangestellten hätten sich darauf bezogen, dass eine Woche zuvor Essensvorräten geklaut worden sein sollen von "genau diesem Klientel".
Fabian Kienert, Kontext
Vielleicht ist es gar nicht so falsch, wenn proukrainische Medien in Deutschland unisono beteuern, dass sich die Ukraine vor dem russischen Einmarsch doch schon stark dem westlichen Modell angepasst hat. Die dort und hier verfolgten Roma können das leidvoll bestätigen.