Winnetou und die Missachtung der kulturellen Identität
Eine Geisterdebatte
In einem Interview zieht die Philosophin und Feministin Svenja Flaßpöhler gegen die Betroffenheitsideologie und den beleidigten Opferstandpunkt zu Felde, wie er sich in alternativen, linken und feministischen Kreisen nicht erst seit heute beharrlich eingehaust hat.
Flaßpöhler wirbt stattdessen für die intellektuelle Reflexion, die es für eine kritische, tabufreie Diskussion von Diskriminierung braucht - sonst verfehlt man den Witz und Grund der Sache und ertrinkt in seiner beleidigten Betroffenheit, die einen Mangel an rationaler Distanz zum Phänomen erkennen lässt und sich mit moralisierenden Nebensächlichkeiten, bisweilen an der Grenze zum Lächerlichen, aufhält.
Die darin implizierte Kritik der Identitätspolitik lohnt eine ausführlichere Analyse und theoretische Einordnung. Dabei bietet sich die aktuelle Diskussion um die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg als ebenso plastisches wie drastisches Beispiel an.
Nun finden sie also wieder statt, die beliebten Karl-May-Festspiele von Bad Segeberg1, in denen Karl Mays bekannte Romanfigur Winnetou wie stets im Rahmen einer märchenhaft-fiktiven Szenerie für den Sieg der gerechten Sache kämpft. Diese zur Trivialliteratur gerechnete Fantasiewelt des Sachsen Karl May, der wohl nie einen Apachen zu Gesicht bekam, ruft inzwischen herbe Kritik hervor2.
Mita Banerjee, Professorin für Amerikanistik in Mainz, meint, dass in diesen Festspielen "die Vielfalt indianischer Kulturen keine Berücksichtigung findet", und stellt dafür ein Gedankenexperiment an: "Stellen sie sich vor, irgendwo in Afrika feiert ein Land ein Festival, bei dem eine erfundene Geschichte über einen Deutschen aufgeführt wird und alle tragen ausschließlich Lederhosen und Dirndl und essen nichts als Sauerkraut. Immer. Wir würden sagen: Das ist ja ein absolutes Klischee. In Wahrheit bin ich ganz anders und bei uns gibt es so viel mehr." Die Kritikerin spricht des Weiteren von einer "kolonialen Geste" und davon, dass das Bild der Indianer den Indianern gehöre und nicht "uns".
Einer Amerika-Referentin im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum fehlt gar die Stimme der "Native Americans" als Korrektiv der Aufführungen; sie plädiert zudem für die Streichung des Begriffs "Indianer". Der Winnetou-Darsteller hält dagegen und weist darauf hin, dass es sich bei Winnetou um eine Märchenfigur handele; die Geschäftsführerin der Karl-May-Festspiele merkt schließlich an: "Die Karl-May-Festspiele erheben überhaupt nicht den Anspruch, die Realität im Nordamerika des 19. Jahrhunderts darzustellen. Wir bringen die Traumwelt des Schriftstellers Karl May auf die Bühne."
Was ist davon zu halten?
Ist eine korrekte sprachliche Präsentation diskriminierter Gruppen eine wirkliche Unterstützung?
Erst einmal ist zu vermuten, dass die wirkliche soziale Situation der indianischen Bevölkerungsgruppen - die immer schon ein buntscheckiges Muster verschiedenster Kulturen und Lebensweisen darstellten - in den USA von einer Moraldebatte über die richtige Wortwahl und korrekte Darlegung von Sitten und Gebräuchen in einer auf Trivialliteratur gestützten, deutschen Freilufttheateraufführung nicht im mindesten tangiert wird. Dieser banale Sachverhalt verweist auch schon auf ein zentrales Merkmal der auf Anerkennung der kulturellen oder religiösen Identität drängenden Debattenkultur: Die Protagonisten einer politisch korrekten Identitätspolitik scheinen zu glauben, mit der anerkennungsbeflissenen (Um)benennung und korrekten sprachlichen Präsentation diverser diskriminierter Gruppen schon einen Beitrag zu deren Unterstützung geleistet zu haben - und dies völlig unabhängig davon, ob die Betroffenen dies überhaupt genauso sehen.
In der damit häufig verbundenen Weigerung, sich mit den politökonomischen, historischen und kulturellen Ursachen der Diskriminierung der jeweiligen Personengruppe aus analytisch-theoretischer Distanz auseinanderzusetzen, werden die Grenzen zwischen Moral und Interesse, zwischen Fiktion und Realität verwischt, wenn nicht völlig eingerissen. Da die Revision der Diskriminierung auf dem Felde der ideellen Anerkennung erfolgen soll, ist die praktische Relevanz des aktuellen Diskussionsanlasses sekundär; Fiktion und Realität gelten vor der Folie dieser Sichtweise als gleichwertig.
Pointiert illustriert: Enthält "Game of Thrones" eine korrekte Darstellung der englischen Rosenkriege? Wird in der "Vikings"-Serie auf Netflix das wirkliche Leben der Wikinger angemessen gewürdigt? Ist der Suppenkaspar eine diskriminierende Darstellung renitenter Kinder, die doch zurecht Widerstand gegen die mauen Ernährungsangebote (Suppe!) autoritärer Erwachsener leisten? Verunglimpft Tolkien in "Der Herr der Ringe" Kleinwüchsige, indem er ein goldgieriges Zwergenvolk einbaut?
Der moralisierende Wille, die empörte Einforderung von ebenso kritikloser wie ideeller, insofern abstrakter Anerkennung an die Stelle einer Kritik der Ursachen und politisch-ökonomischen Praxis von Diskriminierung und Ungleichbehandlung zu setzen, treibt alberne Blüten des unfreiwilligen Humors hervor, da bisweilen auf allen noch so abwegigen Ebenen nach symbolischen Verletzungen dieser Anerkennung richtiggehend gefahndet wird.
Mit ihrer undifferenzierten Vermengung von gültigen Prinzipien rechtlich-politischer (Un)gleichbehandlung, abwertenden Einstellungen von Teilen der Staatsbürger*innen gegenüber diversen Minderheiten und ökonomischen Interessen, die die politisch vermittelten Differenzierungen, beispielsweise zwischen "Inländern" und "Ausländern", systematisch nutzen und daraus ihre Vorteile ziehen, bewegt sich eine derartige Kritik immer auf der abstrakt moralischen Ebene, auf der nur eines wichtig zu sein scheint: Die subjektiv wahrgenommene persönliche Anerkennung als "gleichwertiges", d.h. gleich geschätztes Mitglied einer unkritisch vorausgesetzten Gemeinschaft von Deutschen oder wem auch immer.
Ist es erstrebenswert, von allen möglichen Leuten, auch Rassisten, anerkannt zu werden?
Konsequent werden im nächsten Schritt. von Identitätsschützern "Triggerwarnungen" an diejenigen gefordert, die sich auf diese Opferrolle eingelassen haben und, anstatt eine kämpferisch-argumentative, kritische Gegenposition gegen alle wirklich diskriminierenden Dumpfbacken einzunehmen, ihre emotionale Verletzlichkeit pflegen, so dass sie manchmal schon in Tränen ausbrechen, wenn bestimmte "böse" Wörter, und seien sie bloß Bestandteil der Literatur einer vergangenen Epoche, in der sie nun mal zum sprachlichen Usus gehörten, fallen.
Dergleichen verhindert das eigene Nachdenken - auch z.B. darüber, ob es wirklich so erstrebenswert ist, von allen möglichen Leuten, darunter vorurteilsgeprägte Ignoranten und bodenständige Rassisten, anerkannt zu werden. In anderen Worten: Der Anerkennungswahn blockiert die rationale Reflexion der Ursachen und Handlungsgründe, die zu Diskriminierungen führen ebenso wie eine kritische Charakterisierung der imaginierten staatsbürgerlichen Gemeinschaft, innerhalb derer offensichtlich nicht wenige ihre "gemeinschaftliche" Identität über den Ausschluss der in ihren Augen nicht Dazugehörigen definieren: Der Rigorismus der staatsbürgerlichen Eingrenzung beruht auf Kriterien der Ausgrenzung, die in der Banalität des alltäglichen Nationalismus gerne an zufälligen Äußerlichkeiten festgemacht werden, die als Hinweis darauf interpretiert werden, dass jemand als Bestandteil eines nicht schon seit Generationen hier eingehausten Menschenschlags zu gelten hat.
Dass alle irgendwann von irgendwoher gekommen sind und wahrscheinlich im Laufe der langen Menschheitsgeschichte irgendwohin verschwinden werden, tut für diesen Standpunkt nichts zur Sache. Anstatt da eingemeindet werden zu wollen, sollte man sich die Unsinnigkeit, aber auch die Gründe dieses bodenständigen Alltagsnationalismus klar machen und dergleichen mittels politischer Aufklärung bekämpfen.
Aber Vorsicht: Nicht jeder Mensch, der eine/n nach der Herkunft fragt, ist schon ein Rassist, der auf die Befragten herabblickt oder deren Anwesenheit in seinem ureigenen Ökotop in Frage stellt: Dies ohne Würdigung der Motive der jeweiligen Frager zu unterstellen, reflektiert das ebenso verunsicherte wie beleidigte Minderwertigkeitsgefühl, das die von seiner wunderbaren deutschen Gemeinde zurückgewiesene Person verinnerlicht hat. Sich von dem gesamten völkisch-nationalen Blödsinn zu emanzipieren, stellt dagegen ein durchaus probates Mittel dar.
Der antikritische Charakter des "Identitätsgetues"
Der Autor dieses kritischen Kommentars jedenfalls würde sich ob seiner Dummheit schämen, wenn er sich über eine erfundene Geschichte mokierte, in der "die Deutschen" nur Sauerkraut essen und Lederhosen tragen: Was ficht einen Menschen, der zufällig in Deutschland geboren ist und dort lebt und arbeitet, eine märchenhafte Aufführung an, die - je nach inhaltlicher Ausgestaltung des Stücks - bestenfalls als unterhaltsam oder überzogen, satirisch gelungen oder lächerlich banal empfunden werden kann? Zudem: Muss man sich mit einem x-beliebigen Bild "des" Deutschen so distanzlos identifizieren, dass man selbst bei erdachten Roman- und Theaterfiguren in den persönlichen Betroffenheitsmodus verfällt?
Identitätspolitik und identitäres Betroffenheitsgetue beziehen sich implizit apologetisch auf eine nationale, völkische oder kulturelle Identität, die als politische Definitionsleistung in die Welt gekommen ist und auf ökonomischen Gegensätzen beruht, die hierdurch eine politisch regulierte Verlaufsform erhalten. Die einem qua Geburt oder Zuwanderung zugefallene Zugehörigkeit zu einer politischen Gebietskörperschaft mit ihren rechtlichen, sprachlich-kulturellen und gewohnheitsmäßigen Besonderheiten stellt kein Persönlichkeitsmerkmal dar, das gegen andere verteidigt werden oder auf dessen Grundlage man sich unbedingt ideell in das fiktive "Große Ganze" eingemeinden muss.
Die globalen Szenen und Communities in Wissenschaft, Politik, Kunst, Sport und Populärmusik widersprechen diesem bodenständigen Identitätsgetue doch schon längst, das deswegen vor allem von denen bemüht wird, die sich von diesen transnationalen Entwicklungen, die sie nicht bzw. falsch begreifen, bedroht fühlen.
Im unbedingten Wunsch nach abstrakter Anerkennung scheint insofern der zutiefst antikritische Charakter des "Identitätsgetues" (Léon Wieseltier) durch: Der fragwürdige Identitätsbegriff wird im Wunsch, zur großen Staats- oder Volksgemeinschaft (oder zu welchem Verein auch immer) als anerkanntes Exemplar dazu zu gehören, unkritisch aufgenommen, anstatt sich die Differenzen zu erklären, die es nun mal gibt, und sich deren Charakter und Gründe klar zu machen, um beurteilen zu können, zu welchen man sich positiv stellt und welche es wert wären, abgeschafft zu werden.
Letzteres jedoch geht nicht über Sprachregelungen und emotionalisierte Betroffenheitsdiskurse, sondern nur durch eine rationale politische Auseinandersetzung mit den Zuständen, Mächten, Personen und Institutionen, die ein Interesse am Fortbestand der Diskriminierung haben, da sie ideologischen und/oder materiellen Nutzen daraus ziehen.