Wir brauchen eine echte Verkehrswende!

Wieviele Straßen brauchen wir eigentlich noch? Der Autoverkehr muss sich deutlich reduzieren, wollen wir die Klimaschutzziele erreichen. Dafür muss der Öffentliche Nahverkehr entsprechend gut ausgebaut werden

Ob in den USA, Südkorea oder den Niederlanden - überall werden Stadtautobahnen zurückgebaut, begrünt oder in Wasserstraßen umgewandelt. Nicht so in Deutschland. Hier wird der Autobahnbau weiter vorangetrieben. "Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten" - dieser Satz bewahrheitet sich hierzulande immer häufiger. Denn weil die Kapazitäten einer vierspurigen Autobahn irgendwann nicht mehr ausreichen, muss sie zu sechs Spuren ausgebaut werden, damit die Blechlawinen auch künftig zügig weiterrollen können.

So wie an der A 67 zwischen Mönchhof-Dreieck und Lorsch in Südhessen. Prognosen zu Folge soll die Bevölkerung in dieser Region künftig noch weiter wachsen. Verkehrsplaner gehen davon aus, dass der Verkehr von 90.000 Autos pro Tag auf der A 5 und auf der A 67 um weitere 7.000 Autos zunehmen wird.

Anfang 2023 soll das Planfeststellungsverfahren der A 5 südlich von Darmstadt eingeleitet werden. Nach aktuellem Stand will das Verkehrsministerium nahezu alle Autobahnen im Rhein-Main-Gebiet in den nächsten Jahren um jeweils zwei Spuren und nördlich von Frankfurt sogar auf zehn Spuren erweitern.

Die Ausbau-Pläne für die A 5 und A 67 seien uralt und längst überholt, kritisiert Birgitte Martin. Für das Bauvorhaben müssten rund 300 Hektar Wald zerstört werden, ein Vielfaches dessen, was kürzlich in Mittel- und Osthessen für den umstrittenen A 49-Ausbau gerodet wurde. Das sei nicht mehr zeitgemäß. Zudem soll bald die ICE-Strecke zwischen Mannheim und Frankfurt ausgebaut werden, so dass die Bahn mit der Autobahn konkurrieren muss. Damit halte die zuständige Autobahn GmbH an Jahrzehnte alten Planungen fest, kritisiert die BUND-Aktivistin.

Deutschland habe eine Vorbildfunktion für alle Welt. Wie können wir von anderen Ländern verlangen, dass diese ihre Wälder schonen, wenn im eigenen Land ungeachtet aller Klimaschutzziele jahrzehntealte Autobahnpläne durchgesetzt werden? Um den Ausbau der A 49 zwischen Kassel und Gießen voranzutreiben, wurde genau vor einem Jahr im Vogelsbergkreis ein mehr als hundert Jahre alter ökologisch wertvoller Mischwald gerodet.

Trotz wochenlanger Proteste wurden die Rodungsarbeiten im Dannenröder Wald mit Polizeigewalt durchgesetzt. Die A 49 soll die Oberzentren Kassel und Gießen miteinander verbinden, heißt es bei Hessen Mobil.

Um die Anschlussstelle Stadtallendorf Nord mit der A 5 zu verbinden, braucht es noch ein Teilstück von 17 Kilometern Länge. Viele Anwohner versprechen sich von der neuen Autobahn eine Entlastung der anliegenden Orte.

Ein Jahr ist seit dem Ende der Rodungsarbeiten vergangen. Der Autobahnbau gehe zügig voran, freuen sich die Betreiber. Bei einer Begehung der Baustelle erklärten Aktivisten, warum sie trotzdem weiter gegen den Weiterbau der A 49 protestieren.

Mitten in einem Trinkwasserschutzgebiet werden nun tiefe Brückenpfeiler gebohrt. Damit werde in Kauf genommen, dass die Trinkwasserversorgung im ganzen Umland bis nach Frankfurt gefährdet wird. Der Ausbau der A49 konterkariert das Prinzip der Klimaneutralität und sei daher verfassungswidrig, sagen die Protestierenden. Im Gegenteil, entgegnet CDU-Politikerin Ines Claus, das Bundesverwaltungsgericht habe sich eindeutig für den Bau entschieden. Der Baufortschritt werde über die Aufsichtsbehörden kontrolliert. Bis 2024 soll die Autobahn mit dem Dreieck Ohmtal fertiggestellt sein.

Straßen und Autobahnen queren Wasserschutzgebiete

Mit mehr als 13.200 Kilometern verfügt Deutschland bereits über eines der dichtesten Autobahnnetze in Europa. 44 Neubauprojekte umfassen insgesamt weitere 972 Autobahnkilometer. Mindestens 18 davon beeinträchtigen Schutzgebiete, wie eine Untersuchung von Greenpeace zeigt. In elf Fällen spricht selbst die Bundesregierung von "hohen Umweltauswirkungen".

In Bayern zum Beispiel ist seit Jahren eine Nordtangente um Passau herum geplant, die die Autolawinen aus der Stadt herausführen soll. Der Bund Naturschutz (BN) sowie mehrere Bürgerinitiativen wollen den Bau verhindern. Drei Minuten eingesparte Zeit seien es nicht wert, Natur- und Landschaftsschutzgebiete zu zerstören, kritisiert der Vorsitzende der BN-Kreisgruppe Passau.

Als "vorsintflutlich" bezeichnete der Vorsitzende des bayerischen BN einen Bundesverkehrswegeplan, der in Bayern 1.500 Kilometer neue Autobahnen und Bundesfernstraßen vorsieht. Dieses Geld sei in Rad- und Fußwegen gerade für den öffentlichen Verkehr im ländlichen Raum besser angelegt.

Die geplante A 39, die zwischen Lüneburg und Wolfsburg parallel zur Bundesstraße B 4 entlang führen soll, ist ein Beispiel für umweltschädliche Bauprojekte in Niedersachsen. Anstatt die bereits vorhandene Bundesstraße für nur 200 Millionen Euro naturschonend auszubauen, kritisiert der BUND, soll eine 1,5 Milliarden Euro teure Piste ein natürliches Gebiet mit etlichen Wasserschutzgebieten durchschneiden. Der verkehrliche und wirtschaftliche Nutzen der A 39 sei nur halb so hoch wie der der Bundesstraße. In einer Übersicht sind einige der geplanten Autobahnteilstücke eingezeichnet.

Eine Karte des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMVI) zeigt noch detaillierter, wie sich die geplanten Baustellen bzw. fertiggestellten Autobahnteilstücke über die ganze Republik verteilen.

Hieran zeigt sich besonders deutlich, in welche fragwürdigen Bauprojekte die Steuer-Milliarden versenkt werden. Besonders im Norden, Westen und Süden des Landes sollen tausende Hektar Böden versiegelt werden – kreuz und quer durch Biosphärenreservate, Natur- und Wasserschutzgebiete.

Wird der Berliner Stadtring weitergebaut?

In einem umstrittenen Bauprojekt in Berlin soll der bisherige Halbkreis der A100 zu einem "Stadtring" ausgebaut werden. Der neue 3,2 Kilometer lange Bauabschnitt soll in sechs bis acht Fahrstreifen mitten durch die Stadt von Neukölln zum Volkspark in Treptow führen. Die Baupläne stammen aus den 1950er Jahren. 70 Jahre später soll das Vorhaben nun umgesetzt werden. Inzwischen ist es fraglich, ob die Autobahn überhaupt weitergebaut wird. Immer wieder kommt es zu Protesten, so wie im Oktober 2021, als sich Hunderte Menschen im Autobahngraben versammelten.

Grüne und Linke wollen den Bau auf eine schmalere Bundesstraße reduzieren und dafür neue Wohnungen, Radwege und Grünflächen vorantreiben. Der Bau sei zu weit fortgeschritten, um ihn noch zu stoppen, sagen Befürworter und verweisen auf die hohen Kosten. Rund 700 Millionen Euro soll die Autobahn kosten - rund 200.000 Euro pro Meter.

Auch SPD-Politikerin Franziska Giffey setzt sich für die Fertigstellung der Autobahn ein, um den Innenstadtverkehr zu entlasten, wie sie argumentiert. Tatsächlich würde die Verlängerung der A100 die Verkehrsverbindungen in den Osten Berlins verbessern, Umwege würden wegfallen. Rein rechtlich sei der Abbruch sehr wohl noch zu stoppen, erklärt der Verkehrsforscher Andreas Knie im Interview mit der Zeit.

Doch für eine gerichtliche Klage brauche es einen triftigen Grund. Klagen dieser Art seien immer nur dann erfolgreich, wenn der Naturschutz nicht ausreichend beachtet oder andere Fehler nachgewiesen wurden. Mit dem neuen Klimagesetz habe sich die Gesetzeslage verändert, argumentiert der Politikwissenschaftler.

Vertical Farming im Autobahntrog

Wie könnte man den sieben Meter tiefen und 30 Meter breiten bereits ausgehobenen Autobahngraben sinnvoll nutzen? Der Berliner Verein Paper Planes – ein Zusammenschluss aus Architekten, Zukunftsforschern und Stadtplanern – hat eine konkrete Idee: In einer riesigen vertikalen Farm sollen ganzjährig Früchte, Gemüse, Speisepilze, Algen oder wahlweise Insekten gezüchtet werden. Mit den in Kreislaufwirtschaft produzierten Nahrungsmitteln aus pestizdifreien Hydrokulturen mit kurzen Transportwegen zum Endverbraucher könnte man die Stadtbevölkerung auch in Krisenzeiten mit frischen und vitaminreichen Nahrungsmitteln versorgen.

Metertief unter der Erde wären die Kulturen vor Wind, Sonne, Temperaturschwankungen oder Erschütterungen geschützt. Sonnenkollektoren auf den Dächern erzeugen Strom für Beleuchtung und Lüftung. Mittels Lastenräder sollen die Erzeugnisse bis in die Berliner Quartiere transportiert werden. Anschlüsse an S-Bahn-, Autobahn- und Wasserstraßen für den Transport der Produkte sind vorhanden.

Das Gemüseanbauprojekt mitten in der Stadt versorgt dann nicht nur die Bevölkerung in unmittelbarer Nachbarschaft mit Nahrungsmitteln. Es wäre auch ein Beispiel für innovative, nachhaltige Landwirtschaft und urbane Klimaresilienz. Nebenbei würden große Flächen für den Neubau von Wohnhäusern gewonnen, in denen rund 22.000 Menschen ein neues Zuhause finden könnten. Im Rahmen einer Machbarkeitsstudie müsste das Projekt allerdings noch im Detail konzipiert und auf realistische Umsetzung überprüft werden.

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