"Wir brauchen keine Rettung, wir brauchen Respekt"
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Undine de Rivière über das horizontale Gewerbe - Teil 2 des Interviews
Zu Teil 1 des Interviews: "Viele Sexarbeiterinnen arbeiten selbstbestimmt".
Anders als die ekstatische Käuflichkeit etwa von Politikern und Journalisten wird die Sexarbeit immer noch in die Schmuddelecke abgedrängt. Undine de Rivière plädiert in ihrem Buch "Mein Hurenmanifest" für einen lockeren und rechtlich abgesicherten Umgang. Teil 2 des Interviews.
Frau de Rivière, bei wie vielen Sexarbeiterinnen gehen Sie von Menschenhandel und Zwangsverhältnissen aus?
Undine de Rivière: Ich habe das in meinem Buch anhand eines Zahlenbeispiels durchgerechnet: Jedes Jahr meldet das BKA mehrere hundert Verdachtsfälle von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und Zuhälterei, also der sogenannten Rotlichtkriminalität. Gerichtlich bestätigt werden davon jährlich unter hundert. Das BKA kann ja so viele Verdachtsmomente melden, wie es will - relevant sind tatsächliche Verurteilungen. Dann wird immer mit einer riesigen Dunkelziffer argumentiert, für die es aber keine Studien gibt und für die auch keine Studien geplant sind.
Ich habe mir überlegt, ob sich diese mit der Dunkelziffer von Vergewaltigung und sexueller Nötigung vergleichen lässt - also schwere Verbrechen, die ähnlich schambehaftet sind und oft nicht angezeigt werden. Dazu gibt es Forschung, da haben wir eine Aufklärungsquote von fünf Prozent. Also auf eine Verurteilung kommen zwanzig Fälle, die tatsächlich passiert sind. Wenn wir das auf die Sexarbeit übertragen, kommen wir bei hundert Fällen, die gerichtlich bestätigt worden sind, auf 2000 tatsächliche Fälle pro Jahr.
Wir wissen nicht genau, wie viel Sexarbeit es in Deutschland gibt. Schätzungen gehen von 47.000 bis 400.000 Sexdienstleistenden aus. Gehen wir der Einfachheit halber einmal von der Zahl in der Mitte, von 200.000 aus. Bei 2.000 Fällen von sexueller Ausbeutung jeglicher Couleur sind also ein Prozent der Sexarbeiterinnen betroffen. Das finde ich nicht unplausibel, und das ist weit von der propagierten Zahl von 90 Prozent Zwangsprostitution entfernt.
Lebt man diesbezüglich in Deutschland eventuell auf der Insel der Glückseligen? In England gab es in Kleinstädten wie Rotherham pakistanische Gangs, die Minderjährige zwangsprostituiert haben …
Undine de Rivière: Es sagt ja keiner, dass diese Fälle gar nicht vorkommen - nur eben längst nicht so oft, wie behauptet wird. Natürlich ist hier jeder Fall einer zu viel, aber die Presse nimmt sich dieser Problematik sehr gern an, weil von sexualisierter Gewalt gerne gelesen wird. Das hat nichts damit zu tun, wie oft diese Fälle tatsächlich vorkommen oder ob diese Form von Berichterstattung überhaupt nottut.
"Eine Verpflichtung ist völlig unsinnig"
Was halten Sie von der Kondompflicht?
Undine de Rivière: Ich halte grundsätzlich viel davon, dass Kondome in der Sexarbeit verwendet werden. Genauso wie bei anderen Menschen, die den Status an sexuell übertragbaren Infektionen bei ihrem Gegenüber nicht kennen. Ich halte aber einen Zwang oder eine Verpflichtung für völlig unsinnig.
Wenn man sich zum Beispiel die bayerische Hygieneverordnung und wie sie umgesetzt wird ansieht, leuchtet die Polizei bei ihren Razzien gerne mal mit der Taschenlampe auf die Genitalien, um festzustellen, ob der Kondompflichtverordnung auch Genüge getan wurde. Das ist absolut inakzeptabel, weil es die Privatsphäre der Beteiligten verletzt. So etwas lässt sich nicht unter menschenwürdigen Bedingungen nachprüfen.
Viel wichtiger ist die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit, die aber über Freiwilligkeit und Aufklärung funktioniert. Wir haben in Deutschland sowohl mit die niedrigste HIV-Rate als auch die niedrigste Rate bei anderen sexuellen Infektionen in Europa. Die freiwillige und anonyme Aufklärungsarbeit der HIV-Beratungsstellen und Gesundheitsämter hat wahnsinnig gut gegriffen, das funktioniert wunderbar. Es gibt nur nicht genug Gelder, um dies flächendeckend umzusetzen. Dafür ist aber jetzt Geld da, um diese Zwangsmaßnahmen durchzusetzen - das ist völlig absurd.
"Grundrecht außer Kraft"
Undine de Rivière: Wie hat man sich diese Razzien vorzustellen, passieren die oft und sind die dann brutal?
Undine de Rivière: Das kommt auf das Bundesland an und darauf, wer an den verantwortlichen Stellen sitzt. In der Hälfte der Bundesländer hat die Polizei ein anlassunabhängiges Kontrollrecht an allen Orten, an denen Sexarbeit stattfindet. Nach dem neuen Prostituiertenschutzgesetz hat die zuständige Behörde (die oft die Polizei selbst ist) außerdem auch Zugang zu Privatwohnungen, in denen der Sexarbeit nachgegangen wird. Damit wird unser Grundrecht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung außer Kraft gesetzt. Das wäre mit einer Einbindung von Sexarbeit in das ganz normale Gewerberecht nie möglich gewesen.
Die Razzien werden teilweise mit Waffen und Hunden durchgeführt, man fällt in voller Montur zu jeder Tages- und Nachtzeit ein. Teilweise auch schlicht und einfach deswegen, um zu üben: Wir haben in einigen Fällen mitbekommen, dass bei der Gelegenheit Polizeischüler ausgebildet werde, weil das Rotlichtmilieu so schön harmlos ist im Vergleich zur organisierten Kriminalität.
Teilweise sind die Razzien auch Schikane: Beispielsweise in München nutzt die Polizei regelmäßig - also ein- bis zweimal die Woche - ihr anlassunabhängiges Kontrollrecht, um Bordelle aufzusuchen, dort einzufallen, teilweise die Tür aufzubrechen, wenn nicht geöffnet wird, und dort den Betrieb aufzumischen. Dort wird den Betreibern erklärt, dass, wenn sie die Mieterinnen proaktiv bei der Sitte vorbeischicken, um dort die Personalien aufnehmen zu lassen, die Razzien nur mehr zweimal im Monat durchgeführt würden.
Dadurch ist die Registrierung von Sexarbeitenden in München seit Jahrzehnten weitgehend durchgesetzt. Sollte sich herausstellen, dass der Betreiber Mieterinnen akzeptiert, die nicht bei der Sitte registriert sind, wird dann wieder öfter eine Razzia durchgeführt. Diese Registrierung führt übrigens nicht dazu, dass es weniger Fälle von Menschenhandel oder Ausbeutung gibt. Aber das anlassunabhängige Kontrollrecht führt dazu, dass wir wie Verbrecher behandelt werden.
"Verschiedene Vorteile"
Was ist Ihre Meinung zu Flatrate- und Gang-Bang-Parties? Ist das nicht eher eine derbe bis fiese Angelegenheit?
Undine de Rivière: Ich persönlich finde das eine ganz angenehme Art zu arbeiten, ich mache das auch gelegentlich. Und ich kenne Kolleginnen, die ausschließlich so arbeiten wollen, denn es hat verschiedene Vorteile: Zum einen muss man mit dem Kunden nicht selbst verhandeln, man bekommt ein festes Tageshonorar, unabhängig davon, wie viel gerade los ist. Es gibt also ein geringeres unternehmerisches Risiko. Zum anderen ist der Zusammenhalt und die Kollegialität unter den dort tätigen Sexarbeitenden allgemein höher, weil die Konkurrenz wegfällt.
Man muss sich auch nicht vorstellen, dass man mit zig Männern Stunde um Stunde durchvögelt, sondern es werden zum Beispiel Shows geboten: Dort stehen dann zwanzig Männer um eine Stripperin herum, eine Assistentin holt fröhlich fünfzehn davon einen runter, worauf die für die nächste Stunde außer Gefecht gesetzt sind. Außerdem läuft auch sehr viel nicht über direkten Geschlechtsverkehr, sondern über Zuschauen, es sind dort sehr viele Voyeure unterwegs. Flatrate-Clubs leben von männlicher Selbstüberschätzung: Man dürfte zwar zehnmal, kann aber nur zweimal. Es ist also ganz angenehm, so zu arbeiten und viel viel zahmer, als man es sich vorstellt.
Bedauerlicherweise ist in diesem Bereich viel Schaden durch geschmacklose Werbung entstanden: Wenn halbnackte Sexarbeiterinnen in den Fußgängerzonen "All You Can Fuck"-Flyer verteilen, muss man sich nicht wundern, wenn die Leute das dort nicht so lustig finden, weil es dort fehl am Platz ist. Teilweise wird auch eine Sprache verwendet, die einfach menschenverachtend ist.
Vieles an Werbung in der Sexarbeit finde ich persönlich übrigens völlig daneben, andererseits aber auch verständlich: Werbung appelliert immer an Gefühle, nicht an den Intellekt. Und wenn es um sexuelle Dienstleistungen geht, erwischt man die Kundschaft eher mittels dirty talk als über eine nüchterne Schilderung des Serviceangebots.
Die Arbeitsweise bei Gang-Bang-Parties hat also Vor- und Nachteile - und für manche Kolleginnen bietet sie eben mehr Vorteile. Wichtig ist der Erhalt der Vielfalt verschiedener Arbeits- und Abrechnungsformen, so dass sich jede Sexarbeiterin selber aussuchen kann, wie sie gerne arbeiten möchte.
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