Wir brauchen mehr Putin-Versteher

Seite 2: Was sagt die Charta der Vereinten Nationen?

So steht das auch in der UNO-Charta. Fundamental-Pazifisten widersprechen und schreiben mir, der ich bei Maybrit Illner auch für die Lieferung deutscher Defensivwaffen plädiert habe: "Alle Waffen töten."

So ähnlich habe ich auch lange argumentiert. Deshalb verstehe ich dieses Denken. Doch gerade in den letzten Wochen zeigt sich, dass Abwehrwaffen aus Deutschland vielen Ukrainern das Leben gerettet haben. Auch in den letzten Tagen. An einem Tag Anfang Januar haben russische Soldaten mit 82 Raketen auf zivile ukrainische Ziele geschossen. Davon konnten über 70 mit Abwehrraketen in der Luft zerstört werden.

Deutsche Waffen haben hunderten Ukrainern das Leben gerettet. Wenn wir nicht ideologisch verbohrt sein wollen, müssen wir in dieser Situation umdenken und lernfähig bleiben. Das darf jedoch nie heißen, mit dem Druck auf Dialog nachzulassen.

Aber: Wenn mein Nachbar um Hilfe ruft, darf ich als Christ und Pazifist mir nicht die Ohren zu halten, wenn ich wirksame Abwehrwaffen habe. Das wäre das Gegenteil dessen, was alle Religionen und Weisheitslehren fordern. "Du sollst nicht töten", heißt auch: "Du sollst nicht töten lassen, wenn du das verhindern kannst." Das ist das Ur-Ethos der Menschheit.

"Feindesliebe" heißt niemals, dass man sich alles bieten lassen muss. Das hieße doch, den wunderbaren jungen Real-Pazifisten aus Nazareth zum Deppen zu erklären. "Feindesliebe" heißt: Sei klüger als dein Feind. Versuche immer, dich in ihn hineinzudenken.

Sei Putin-Versteher, nur dann kannst du vielleicht klarkommen mit ihm und eventuell sogar vernünftige Kompromisse mit ihm schließen. Wir dürfen nicht länger uns für die absolut Guten und die Russen für die absolut Bösen halten. Auch der Westen hat Fehler gemacht.

Ich will drei Realpolitiker nennen, die den Westen an seine bisherigen Fehler gegenüber Putin und Russland immer wieder erinnert haben.

Michail Gorbatschow. Während des Kalten Kriegs musste er sich in Ronald Reagan einfühlen, der weiß Gott kein Pazifist war. Doch sie schafften zusammen die größte militärische Abrüstung aller Zeiten. Und das Ende des Kalten Kriegs.

Das hieß 30 Jahre Frieden – ein Geschenk für die ganze Welt, vor allem für Deutschland. Ein wichtiger Aspekt wurde bei den Nachrufen auf Gorbatschow in Deutschland nahezu komplett übersehen.

Er hatte nach 2014 der Annexion der Krim zugestimmt und gesagt: "Das hätte ich, wäre ich heute Präsident, ähnlich gemacht, aber ohne Gewalt, sondern durch Dialog."

Gorbatschow war vom Westen enttäuscht, der "nie an einem stabilen und demokratischen Russland interessiert gewesen" sei. 2017 sagte mir Gorbatschow in unserem gemeinsamen Buch "Nie wieder Krieg": "Der Westen hat sich nach 1990 Russland gegenüber als Sieger aufgespielt."

Gorbatschow machte nicht die "russische Besatzung der Krim", sondern "die Überheblichkeit Washingtons" für die Verschlechterung des Ost-West-Verhältnisses verantwortlich.

Nach 1990 hatte die Nato 16 Mitglieder. Heute sind es 30 und weitere sollen es werden. Das ist für uns im Westen scheinbar kein Problem: Doch für einen von Angst getriebenen Politiker und Geheimdienst-Mann wie Putin und für Millionen Russen sieht diese Nato-Osterweiterung ganz anders aus. Man muss kein Psychologe sein, um das zu verstehen.