Wir brauchen mehr Putin-Versteher

Seite 3: Haben wir die Kuba-Krise 1962 vergessen?

Meine Gegenfrage an westliche Hardliner: Wie würden denn die USA reagieren, wenn Kanada oder Mexiko als direkte Nachbarn zu den Vereinigten Staaten einen Militärpakt mit Russland schlössen? Das haben wir doch 1962 bei der Kuba-Krise gesehen.

Die USA wollten um jeden Preis verhindern, dass Russland nahe den USA Atomraketen stationiert. Die Welt geriet an den Rand eines Atomkriegs. Und soeben haben Atomwissenschaftler die "Weltuntergangsuhr" auf "90 Sekunden vor zwölf" gestellt.

Noch nie standen wir so nah am atomaren Abgrund. Das hat vor wenigen Wochen auch US-Präsident Biden – ebenfalls ein Realpolitiker – so gesagt. Was muss denn noch passieren, bis sowohl Bellizisten als auch Pazifisten neu denken lernen und unser gemeinsames Überleben sichern?

Helmut Schmidt hat oft daran erinnert, dass "Russland seit Gorbatschow nirgendwo seine Grenzen militärisch verletzt und sich nach außen friedlicher verhalten hat als jemals zuvor in zaristischen oder sowjetischen Zeiten". Im Kalten Krieg ging Gorbatschow auf den Westen zu. Jetzt müsste der Westen auf Putin mit einem Angebot zugehen.

Auch Helmut Kohl sprach von "großen Versäumnissen seitens des Westens in den vergangenen Jahren." Kohl: "Die Aufbruchsstimmung in der Ukraine (2014) wurde nicht mehr klug begleitet.

Ebenso hat es an Sensibilität im Umgang mit unseren russischen Nachbarn gemangelt, insbesondere mit Präsident Putin." Ohne den Versuch, gegenseitigen Verstehens können Konflikte in aller Regel nicht gelöst werden. Selbstverständlich hat jedes Land das Recht, um Aufnahme in die Nato zu bitten.

Aber dabei sollte nie wieder das Sicherheitsinteresse Russlands außer Acht bleiben. Auch für den Westen gilt, aus Fehlern zu lernen. Und es war ein großer Fehler, dass man jene vergessen hat, die sich als Verlierer fühlten. Kohl setzte dem Slogan der Friedensbewegung "Frieden schaffen ohne Waffen" vor 40 Jahren den Slogan entgegen "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen".

Das heißt: Abrüsten statt wie jetzt immer weiter aufrüsten. Nur so könnte heute die ewige Spirale der Gewalt aufgehoben werden. Jeder verhungerte Mensch ist in dieser reichen Welt eine Schande für unsere Menschlichkeit.

Wir geben jedes Jahr über zweitausend Milliarden US-Dollar fürs Militär aus. Geld, das dann für die Überwindung von Armut und Elend und bei der Bildung fehlt.

Besteht eine Chance, mit Putin in Dialog zu kommen?

Auch der Weg des Real-Pazifismus beginnt mit kleinen Schritten. Vielleicht könnte es helfen, auf diplomatischem Weg Putin zu signalisieren, dass auch der Westen aus seinen bisherigen Fehlern lernen will. Vielleicht!

Und Vorschläge unterbreiten für gemeinsame Abrüstung, bei der alle gewinnen würden. Spätestens jetzt im Atomzeitalter macht uns Sicherheit nur dann sicherer, wenn sie wirklich immer auch die Sicherheit der anderen bedeutet. Auch die Sicherheit der Ukraine und die Sicherheit Russlands. Daran müssen doch alle interessiert sein.

Wer eine Alternative hat, die das Leid der Ukrainer schneller und effektiver beenden helfen kann, möge sich melden. Dass Frieden auch in schwierigen Zeiten möglich ist, hat der Russe Gorbatschow vorgemacht. Jetzt der Westen dran.

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