Wir brauchen mehr Ströbele-Geist in der Politik!

Hans-Christian Ströbele (1939-2022). Bild: Boris Niehaus (JUST), CC BY-SA 3.0

Hans-Christian Ströbele ließ sich nie kaufen – weder durch Posten noch durch eine Profitlobby. Ein Nach- und Aufruf eines langjährigen Parlamentskollegen.

Am 7. Juni 1939 geboren, wuchs Hans-Christian Ströbele ... Moment, die biografischen Daten kann man überall nachlesen. Viel zu erfahren ist derzeit auch über seine Arbeit als Anwalt und seine Hauptthemen – etwa sein Engagement gegen Aufrüstung, das er bis zuletzt auch gegenüber der Politik der Ampelkoalition aufrechterhalten hat.

Ich rufe lieber nach, was den Politikertypen Ströbele ausmachte, so wie ich ihn im Bundestag erleben durfte.

Marco Bülow ist Publizist, Politiker und Aktivist.

Wir sind beide 2002 zum ersten Male direkt gewählt worden. Lange Zeit war er der einzige Grüne, dem dieses Kunststück gelungen ist.

Mein bisher einziger Nachruf galt dem Politiker und Träger des Alternativen Nobelpreises, Hermann Scheer. Das ist wohl kein Zufall. Im Bundestag, wo ich beide kennengelernt und mit ihnen zusammengearbeitet habe, wären solche Politikertypen wie Scheer und eben Hans-Christian Ströbele weiterhin wertvoll.

Müsste ich es in eine Kurznachricht pressen, dann würde sie so lauten:

Der Urgrüne Ströbele war vor allem ein radikaler Demokrat, vor dem ich mich wirklich verneige. Aufrichtig, authentisch, aufsässig. Ein Vordenker – früher konnte man Querdenker sagen – der seine Ideale nicht an der Karrieregarderobe abgegeben hat. Widerborstig, ohne kompromisslos zu sein. Ein Politiker, der heute mehr als zuvor auf der roten Liste steht.

Kompromisslos war er gerade nicht, aber für die etablierte Politik war er viel zu unbequem. Das bedeutet dann schnell, man wird persönlich diskreditiert, anstatt sich unbequem mit den Inhalten auseinanderzusetzen.

Als renitenter Einzelgänger wurde er gescholten; er sei ein Nestbeschmutzer, wurde ihm vorgehalten. Aber er ließ sich nicht mobben, beirren und nicht kaufen – weder durch Posten noch durch eine Profitlobby. Galt er noch als akzeptabel in der jungen, selbst etwas aufsässigen Grünen-Partei, eckte er intern umso stärker an, je mehr sie sich dem gängigen Parteiensystem anpasste.

Keine Karriere in Profipolitik

Viele Profipolitikern nervte immer mehr, was er von sich gab – bis zum Schluss. Einer seiner letzten Tweets im Juli lautete:

BR mit Grünen jetzt für CETA Freihandelsabkommen einschließlich Klagerecht der Konzerne. Dagegen hatten wir massenhaft demonstriert. Nichts es nicht verabschiedet. Es ist Zeit für die Basis. Dann mal ran.

Es gab zwar viele Proteste der Grünen und Sozen gegen das Abkommen. Aber jetzt sollte man doch nicht mehr daran erinnern! Ströbele macht das nicht mit. So war er immer: streitbar und integer.

Politikertypen wie Scheer und Ströbele kamen schon mal in den Bundestag. Aber egal, wie beliebt sie wurden, wie gut sie waren: Nach ganz oben kamen sie in unserem System nie.

Vor allem, weil sie die Spielregeln nicht mitspielten, sie ja sogar ändern wollten. Regeln wie der Fraktionszwang und eine starke Profitlobby setzen die Maßstäbe; Argumente, Ideale oder gar Visionen spielen kaum eine Rolle. Ich habe das am Ende meiner Zeit im Bundestag als "Ausverkauf" und "Lobbyland" beschrieben.

Mich hat gerade ein Ströbele während meiner 19 Jahre im Bundestag und während meines Kampfes für mehr Transparenz, für mehr Regeln in der Profipolitik und gegen den überbordenden Profitlobbyismus beflügelt und oft aufrechterhalten.

Nicht, weil wir auch inhaltliche Überschneidungen hatten. Es war vielmehr die Art und Weise, wie er für unsere Demokratie eingestanden und alles für sie gegeben hat. Gerade auch für das Recht, anders zu denken und zu sein. Wie er gleichzeitig entschieden gegen Antidemokraten, Umweltzerstörung, Rüstungswahn und neoliberale Doktrin vorgegangen ist.

Die Hoffnung musste sicher auch bei Hans-Christian Ströbele, einem Urgestein seiner Partei, immer wieder erneuert und bestärkt werden. Vor allem auf die Jüngeren, diejenigen, die nachkommen. Auf die Ströbele immer setze, denen er auf Augenhöhe begegnete.

Teilweise erfüllt sich diese Hoffnung auch. Wenn wir etwa sahen, wie viele Menschen vor der Corona-Pandemie auf die Straße gegangen sind, wie viele weiterhin Politik erneuern wollen, gegen Diskriminierung ankämpfen, das Klima retten wollen.

Junge Abgeordnete schneller angepasst

Als dann so viele neue junge Abgeordnete, vor allem der Grünen und der SPD, ins Parlament kamen – und sogar an der Regierung beteiligt wurden – schien vieles möglich. Doch da passiert bisher sehr wenig, abgesehen von flotten Insta-Bildern.

Vielmehr mussten wir erleben, dass die Anpassung der Jüngeren meist schneller und umfangreicher vollzogen wird. Eher waren es Ältere wie Ströbele, die wirklich Flagge zeigen.

Das hat sicher damit zu tun, dass der Nachwuchs der Parteien aus einem immer kleineren Reservoir rekrutiert wird. Die Parteien im Bundestag haben in 20 Jahren die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, die Überalterung schreitet rasant voran.

Junge Menschen, gehen immer seltener in eine Partei. Das Parlament wird trotz mehr Parteien immer homogener, vor allem, was die soziale Herkunft, aber auch, was die Anpassung an die undemokratischen Spielregeln angeht.

Gerade weil wir mehr Vielfalt, mehr wirkliche Debatte, weniger Symbolik und Doppelmoral bräuchten, wäre mehr Ströbele-Geist in der Politik nötig. Dazu müssen wir uns mehr einmischen, dafür müssten sich die Parteien wandeln. Vor allem aber müssen die Spielregeln geändert werden.

Macht es also Hans-Christian Ströbele nach: Traut euch im Bundestag. Die Bevölkerung ist eure Chefin, nicht der Fraktionsvorsitzende, nicht der Kanzler und schon gar nicht die Profitlobbyisten. Ihr seid nur eurem Gewissen verpflichtet.

Dafür stand Hans-Christian Ströbele wie kein anderer. Und das wäre das stärkste aller Vermächtnisse. Schön wäre auch eine Art Ströbele Stiftung, die dieses politische Erbe verteidigt.

Marco Bülow ist Publizist, Politiker und Aktivist. Von 2002 bis 2021 war er direkt gewählter Abgeordneter der SPD im Bundestag. Im November 2018 trat er nach 26 Jahren aus der SPD aus und war drei Jahre fraktionsloser Abgeordneter, bevor er im Oktober 2020 Mitglied der Partei DIE PARTEI wurde.