"Wir dürfen jetzt nicht in Panik verfallen"
- "Wir dürfen jetzt nicht in Panik verfallen"
- "Die größte Gefahr besteht darin, dass soziale Verteilungskämpfe entstehen"
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Der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Ralf Stegner spricht im Telepolis-Interview über Angela Merkels Krisenpolitik, aussichtslose Asylverfahren und drohende Verteilungskämpfe in Deutschland
Herr Stegner, mit welchen drei Adjektiven würden Sie die Flüchtlingsdebatte der vergangenen Tage beschreiben?
Ralf Stegner: Schrill, populistisch, angstmachend.
Was genau macht Angst?
Ralf Stegner: Jeder Kollege, der sich wie die CSU mit Stammtischsätzen an der Debatte beteiligt, handelt fahrlässig. Wir müssen bei der Lösung dieser schwierigen Herausforderung darauf achten, weder Probleme zu leugnen, noch mit Angstkampagnen und Vorurteilen zu hantieren. Die rosarote Brille bringt uns nicht weiter, Alarmismus allerdings auch nicht. Kurzum: Nicht zündeln, sondern aufklären und anpacken.
Bislang geht die Bundesregierung offiziell von 800.000 bis eine Million Flüchtlinge für dieses Jahr aus. Zuletzt hieß es, die Behörden hätten Zahl intern bereits deutlich nach oben korrigiert...
Ralf Stegner: Ich will mich nicht an Spekulationen beteiligen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Deutschland eine hohe Zahl an Flüchtlingen verkraften kann. Wir dürfen jetzt nicht in Panik verfallen.
Aber?
Ralf Stegner: Wenn wir bedenken, in welch kurzer Zeit zuletzt tausende Menschen über die Grenzen kamen, muss jedem klar sein, dass das so nicht ewig weitergehen kann. Sowohl Polizei und Verwaltung als auch die vielen ehrenamtlichen Helfer sind mancherorts an ihren Belastungsgrenzen angelangt. Enorm viele Menschen helfen, aber auch deren Kräfte sind begrenzt.
Was folgt daraus?
Ralf Stegner: Es reicht nicht, all das nur zu beschreiben. Wir brauchen jetzt schnell einen Dreiklang aus Fluchtursachenbekämpfung, europäischen Lösungen und einem vernünftigen Umgang mit den Flüchtlingen, die sich bereits im Land aufhalten und auch noch zu uns kommen.
Nach Schätzungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ist den deutschen Behörden die Identität von mehr als einer Viertelmillion Flüchtlingen im Land nicht bekannt. Haben Sie angesichts dieser Zahlen Verständnis für die Forderung Horst Seehofers, die Kanzlerin müsse verkünden, die Aufnahmekapazität Deutschlands sei erschöpft?
Ralf Stegner: Ich rate zur Besonnenheit. Rundumschläge und Schwarzmalerei braucht es genauso wenig wie Beschönigungen. Das individuelle Prüfrecht auf Asyl steht im Grundgesetz - und das bleibt auch so. Es wird weder angepasst noch umgangen oder ausgehöhlt.
"Die SPD steht zum Grundrecht auf Asyl, daran wird nichts geändert"
Ärgert es Sie, dass auch aus Ihrer Partei ähnliche Stimmen zu hören sind? Ihr Parteifreund Thomas Oppermann beispielsweise fordert von der Kanzlerin mehr "Führungskraft". Sie solle anerkennen, dass Deutschlands Möglichkeiten "nahezu erschöpft" seien.
Ralf Stegner: Die SPD steht zum Grundrecht auf Asyl, daran wird nichts geändert. Es ist Quatsch, der SPD nachzusagen, sie rücke in die Nähe der CSU. Wir holen uns keine Orientierung beim Rechtspopulisten Orban aus Ungarn. Herr Seehofer scheint hingegen entschlossen, sich nach dessen Vorbild zu richten.
Wo sehen Sie derzeit den dringendsten Handlungsbedarf?
Ralf Stegner: Die Asylverfahren dauern viel zu lange. Und hierfür trägt einer die Verantwortung: Thomas de Maizière. Schauen Sie in unsere Nachbarländer, die Niederländer beispielsweise prüfen Asylanträge innerhalb weniger Wochen - und wir? Bei uns dauern solche Verfahren im Schnitt rund fünf Monate, das kann doch nicht sein. Ich erinnere daran, dass wir Sozialdemokraten eine personelle Aufstockung im BAMF bereits vor einem Jahr gefordert haben. Leider ist da bislang nur wenig geschehen.
Mehr als 275.000 unerledigte Asylanträge haben sich im Bundesamt für Migration inzwischen angestaut. Geprüft werden sie von 550 Entscheidern, deren Zahl indes verdoppelt werden soll. Reicht das aus?
Ralf Stegner: Das kann ich nicht beurteilen. Klar ist: Herr de Maizière muss sich intensiver darum kümmern - und nicht ständig neue Vorschläge machen, von denen man schon vorher weiß, dass sie entweder nicht verfassungskonform oder nicht praktikabel sind.
Hat es Sie überrascht, dass Angela Merkel die Gesamtkoordination in der Sache nun Kanzleramtchef Peter Altmaier überträgt?
Ralf Stegner: Das ist zumindest keine Belobigung für den Innenminister. Ich halte es für richtig. Wenn zur Bekämpfung der Fluchtursachen und zum Bemühen um eine gemeinsame humanitäre Flüchtlingspolitik in Europa endlich eine funktionierende bundesweite Koordinierung in Deutschland hinzukäme, wäre das ein richtiger Ansatz. In dieser historischen Situation die Herausforderung annehmen, alle Kräfte bündeln, Ländern und Kommunen praktisch helfen, Prüfverfahren auf verfassungskonforme Weise erheblich beschleunigen und die Probleme konkret anpacken. Darum geht es jetzt. Wenn wir die Verfahren beschleunigen, sind wir überdies in der Lage, eine Vielzahl von Problemen zu lösen.
Welche Probleme meinen Sie?
Zum einen erführen die Antragsteller umgehend, ob sie in Deutschland bleiben dürfen - sie könnten somit schneller Fuß fassen in unserem Land. Zum anderen wäre die Verteilung der Menschen auf die Bundesländer weniger kompliziert, die Kommunen würden entlastet. Insgesamt könnten wir die Flüchtlinge besser versorgen, einige Schwierigkeiten bei der Unterbringung entfielen und damit verringern sich auch Konflikte, die dort entstehen. Wir wären - endlich - in der Lage, uns angemessen dem wichtigen Thema der Integration zu widmen. Denn das kommt ja erst noch zu auf unsere Gesellschaft.