"Wir erleben eine Katastrophe"
In Ostafrika droht eine neue Hungerkatastrophe durch eine Zunahme extremer Wetterverhältnisse. 28 Millionen Menschen könnten betroffen sein
Im Osten Afrikas bahnt sich eine neue humanitäre Katastrophe an. Bis zu 28 Millionen Menschen seien von extremem Hunger bedroht, erklärte die Entwicklungsorganisation Oxfam am Montag. Ausbleibende Regenfälle seien der Grund. Der Krieg in der Ukraine könnte die Probleme noch einmal verschärfen.
Selbst wenn die Regenfälle noch in diesem Monat einsetzen sollten, werde sich die Situation nicht komplett entspannen, betonte Gabriela Bucher, Vorstandsvorsitzende von Oxfam International. Ostafrika stehe vor einer zutiefst alarmierenden Hungerkatastrophe. "Gebiete in Äthiopien, Kenia, Somalia, Südsudan und darüber hinaus erleben eine Katastrophe", so Bucher.
Anja Osterhaus, Leiterin Programme bei Oxfam Deutschland, betonte gegenüber Telepolis die Folgen des Klimawandels in der Region. "Ostafrika ist mit am stärksten von den Folgen der Erdüberhitzung und klimabedingten Extremereignissen betroffen", sagte sie.
In den letzten Jahren hätten extreme Wetterverhältnisse wie andauernder Starkregen zugenommen. Das sei "vor allem auf den starken Temperaturunterschied an der Meeresoberfläche zwischen den westlichen und östlichen Gebieten des Indischen Ozeans" zurückzuführen, so Osterhaus.
Das Horn von Afrika ist dagegen von Dürren bedroht. Dort fielen die letzten drei Regenzeiten schwach aus. Nun sind zum Beispiel für Somalia die schlimmsten Dürren seit 40 Jahren vorhergesagt. Sie seien eine Folge des La-Niña-Wetterphänomens, erklärte Osterhaus.
Schon jetzt sind die Folgen katastrophal. In Kenia ist laut Oxfam die Ernte um 70 Prozent zurückgegangen, und das Land hat den nationalen Katastrophenzustand ausgerufen. 3,1 Millionen Menschen leiden unter akutem Hunger und benötigen nun Hilfe. Fast die Hälfte aller Haushalte in Kenia muss sich Lebensmittel leihen oder auf Kredit kaufen.
In Äthiopien herrscht demnach die größte Ernährungsunsicherheit seit 2016, allein in der Region Somali leiden rund 3,5 Millionen Menschen unter kritischem Wasser- und Nahrungsmittelmangel. Fast eine Million Nutztiere sind verendet, und die Hirten, deren Überleben ausschließlich von der Viehzucht abhängt, stehen vor dem Nichts.
Mehr als 671.000 Menschen haben, so Oxfam, kürzlich ihre Heimat in Somalia verlassen, weil fast 90 Prozent des Landes von einer schweren Dürre betroffen sind. Dies wird wahrscheinlich zu akuter Unterernährung bei fast der Hälfte der somalischen Kinder unter fünf Jahren führen.
Bucher rief die internationale Gemeinschaft auf, dringend zu handeln. Und Osterhaus betonte, dass viele Hilfsorganisationen in der Region aktiv seien – und sie könnten helfen, wenn ihnen die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt würden.
"Aber die Vereinten Nationen haben festgestellt, dass nur drei Prozent der insgesamt sechs Milliarden US-Dollar, die für humanitäre Hilfe in Äthiopien, Somalia und dem Südsudan aufgebracht werden müssen, bisher zur Verfügung stehen", so Osterhaus. Für Kenia stünden bislang nur elf Prozent der benötigten Mittel zur Verfügung.
Man müsse wieder einmal feststellen, dass die – durch den Klimawandel steigenden – Bedarfe nicht gedeckt seien. Offenbar sei die Dringlichkeit unterschätzt worden, so Osterhaus. Hinzu komme aber auch, dass sich die Entscheidungen über die Finanzierung nicht immer an den Bedürfnissen vor Ort orientierten, "sondern auch andere politische und geostrategische Aspekte eine Rolle spielen".
Ohne die Hilfsgelder droht den Menschen großes Leid, und der Hunger dürfte viele Menschen zur Flucht veranlassen. In Ostafrika und am Horn von Afrika seien allein im letzten Jahr rund 1,2 Millionen Menschen auf der Flucht gewesen.
Zwölf Prozent aller neuen Binnenvertriebenen weltweit, betonte Osterhaus. Und allein im ersten Quartal 2022 wurden laut Oxfam über 13 Millionen Menschen in Äthiopien, Kenia und Somalia auf der Suche nach Wasser und Weideland vertrieben.
Angesichts der Verschärfung der Lage muss damit gerechnet werden, dass sich noch viel mehr Menschen gezwungen sehen werden, ihre Heimat zu verlassen, denn die Krise in Ostafrika wird sich bis Juni dieses Jahres und darüber hinaus mit großer Wahrscheinlichkeit nur noch weiter verschärfen: Selbst, wenn die Regenfälle im März, April und Mai durchschnittlich oder überdurchschnittlich ausfallen, wären in Kenia, Äthiopien und Somalia allein 7 bis 11 Millionen Menschen akut von Hunger bedroht.
Anja Osterhaus
Der Krieg in der Ukraine dürfte die Probleme noch zusätzlich verschärfen. So wird geschätzt, dass allein aus Russland knapp drei Millionen Tonnen Weizen weniger exportiert werden. Aus der Ukraine könnten es rund vier Millionen Tonnen weniger sein.
Durch die steigenden Preise für Nahrungsmittel und Rohstoffe ist es den hochverschuldeten Ländern Afrikas kaum möglich, den Hunger zu bekämpfen. Darüber hinaus importieren die Länder Ostafrikas bis zu 90 Prozent ihres Weizens aus der Ukraine und aus Russland.
In Somalia zeigen sich die Auswirkungen schon deutlich: Die Preise für Grundnahrungsmittel sind schon mehr als doppelt so hoch wie vor einem Jahr. Kurzfristig könnte geholfen werden, indem andere große Exporteure einspringen, sagte Osterhaus. Auf lange Sicht könne nur eine erhöhte Produktion in allen Teilen der Welt helfen – und wenn auch aus anderen Ländern exportiert würden.