"Wir haben die Erwartung geschürt, Politik müsse den Leuten jeden Tag das liefern, was sie wünschen"
Seite 2: Sondersituation im Osten: "Wir haben über Jahre Hirn exportiert"
- "Wir haben die Erwartung geschürt, Politik müsse den Leuten jeden Tag das liefern, was sie wünschen"
- Sondersituation im Osten: "Wir haben über Jahre Hirn exportiert"
- Auf einer Seite lesen
Warum trauen sich die Landesregierungen nicht, das einmal als Experiment zu machen?
Dirk Neubauer: Weil sie Macht abgeben müssten Die Finanzierung aus der Hand zu geben, bedeutet, Macht zu teilen. Am Ende geht es um eine Machtfrage. Auch in der SPD haben wir das oft diskutiert, weil ich das immer wieder thematisiert habe, aber dann kommt der finanzpolitische Sprecher der Fraktion und sagt: Das ist der goldene Zügel, an dem wir euch führen, den geben wir nicht aus der Hand.
Die definieren sich darüber, etwas entschieden zu haben, mit dem Scheck in die Kommune zu kommen und zu sagen: Guckt mal hier, weil ich der tolle Landtagsabgeordnete bin, kriegt ihr den Sportplatz.
Statt sich um die Sachen zu kümmern, die man auf der kommunalen Ebene nicht klären kann, kriegen sie die Probleme, wie ausreichend Lehrer oder Impfstoffe zu beschaffen, nicht hin, weil sie sich im Kleinklein mit dem gegenseitigen Kontrollieren, Maßregeln oder Festlegen verhaken, wer was machen darf. Die neueste Begründung ist, dass dann ja die AfD, die auch in den Kommunalparlamenten sitzen, Geld in die Hand kriegen. Das muss aufhören.
Hier im Osten haben wir eine Sondersituation. Wir haben über Jahre Hirn exportiert. Das darf man öffentlich eigentlich nicht sagen, aber das ist eine Wahrheit. Was man im Westen unter einem repräsentativen Bevölkerungsdurchschnitt versteht, gibt es hier vielerorts nicht. Hier fehlen ganze Altersgruppen und besserverdienende Bildungsschichten. Das ist bei uns dünn gesät.
Aber es gibt unter 100 Leuten doch noch 10, die mitmachen wollen. Und das sind die Menschen, die wir vor den Kopf stoßen, weil wir ihnen die Möglichkeiten dafür nicht bieten oder entziehen. Wenn wir in so einer gesellschaftlichen Situation auch noch die verprellen, die mitmachen wollen, sind wir irgendwann nackt. Und das wird hier passieren, wenn wir so weitermachen. Sachsen, das prophezeie ich, auch wenn ich hoffe, nicht recht zu haben, tut im Augenblick alles dafür, das erste Bundesland zu werden, das an die AfD geht.
Nun sagt die AfD ja auch immer, sie sei für mehr direkte Demokratie. Käme das Ihnen nicht entgegen?
Dirk Neubauer: Die AfD meint das nicht so, die greifen nur Argumente auf, weil sie merken, dass die ziehen. Ich merke auch, welchen Zuspruch ich für das, was ich tue, bekomme. Die AfD-Leute machen nichts anderes, als solche Dinge zu nutzen, um Polarität zu schüren. Am Ende, wenn ich sie im Kreistag erlebe, ticken die nicht anders, die haben das schnell gelernt. Aber sie besetzen die Themen, weil sie hervorragende Populisten sind.
Ich höre auch öfter mal den Vorwurf, ich sei ein Populist. Das stimmt. Aber wer sagt, dass Populismus per se schlecht ist? Populismus bedeutet im ersten Sinne zu versuchen, komplizierte Dinge so zu formulieren, dass diejenigen, die man anspricht, das auch verstehen können. Dafür schäme ich mich nicht. Alles, was ich sage, kann ich auch herleiten, wie beispielsweise die Verteilung der Gelder. Ich habe auch noch niemand in dem ganzen Landesparteiapparat über alle Fraktionen hinweg kennen gelernt, der mir inhaltlich widerlegen konnte, dass das nicht geht.
Sie würden sagen, dass eine Veränderung von den Kommunen und Landkreisen mit mehr Rechten und Geldern die Gesellschaft insgesamt von unten nach oben demokratisieren und die Partizipation stärken könnte?
Dirk Neubauer: Wir müssten damit anfangen, das Subsidaritätsprinzip wieder zu beatmen, was lange Zeit sträflich missachtet wurde. Was ich, der ich erst kurz dabei bin, sehe, was an Entscheidungskompetenz von den Kommunen auf die nächste Ebene zum Kreis weggeht, vom Kreis zur Landesdirektion und von dort zum Land, dann ist das schon beachtlich.
Der Landtag zieht alles an sich heran, es muss alles dort entschieden werden. Im Gegenzug gibt es jedes Jahr mehr Berichtswesen. Daran kann man das messen, denn je weiter eine Entscheidung entfernt ist, desto mehr muss hinterhergeschickt werden, damit dort überhaupt jemand etwas entscheiden kann.
Es ist ein Irrsinn. Wir melden, wie viele Kinder wir haben, wie viele Leute wegziehen, wir rechnen aus, was das statistisch hochgerechnet für unsere Schule in 20 Jahren bedeutet. Das melden wir alles, aber die kriegen es trotzdem nicht hin, die benötigten Lehrer zu stellen. Darum muss sich eine Landesebene kümmern, ich kann ja als Bürgermeister keine Lehrer ausbilden.
Man muss mal sortieren, was ihr und was wir besser machen können. Dann würden die Leute wieder erleben können, was Demokratie heißt, weil sie sich selbst einbringen können. Wenn man das schaffen würde, würde man auch mehr Menschen haben, die die Zusammenhänge verstehen und wissen, wie schwer es ist, Kompromisse auszuhandeln.
Damit muss man jetzt einmal anfangen. Helfen würde auch, wenn es in der Schule wieder so etwas wie politische Bildung geben würde, so aus ihnen Demokraten und nicht nur Maschinenbediener hervorgehen. Je länger wir das hinausziehen, desto böser wird das Erwachen werden.
Das vollständige Gespräch von Florian Rötzer mit Dirk Neubauer finden Sie auf krass & konkret.