"Wir haben die Erwartung geschürt, Politik müsse den Leuten jeden Tag das liefern, was sie wünschen"
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Dirk Neubauer, Bürgermeister der sächsischen Stadt Augustusburg, über Kritik am politischen und Parteiensystem, die Beteiligung der Bürger, warum die AfD so stark wurde und er in die SPD eingetreten und wieder ausgetreten ist
Dirk Neubauer, 1971 in Halle/Saale geboren, ist Bürgermeister der Stadt Augustusburg mit 4.500 Einwohnern in Sachsen. Parteilos gestartet, trat er der SPD bei, um zu zeigen, dass das politische System von innen heraus zu verändern ist. Der Journalist volontierte bei der Mitteldeutschen Zeitung, arbeitete als Reporter und Beauftragter für digitale Medien, war Marketingverantwortlicher für "Jump" und "Sputnik" beim MDR und beriet danach Zeitungsverlage zum Thema Digitalisierung.
2019 erschien sein Buch "Das Problem sind wir". Kürzlich ist er aus der SPD wieder ausgetreten. Anlass zu einem Zoom-Gespräch war sein neues Buch "Rettet die Demokratie! Eine überfällige Streitschrift".
Gerade kam Ihr Buch "Rettet die Demokratie" heraus und Sie sind aus der SPD ausgetreten. Was war denn der maßgebliche Grund für die Entscheidung? Sie hatten ja bereits eine massive Parteikritik im Buch formuliert, aber eher an eine Reformation gedacht. Aber an eine Reformierbarkeit scheinen Sie nun ja nicht mehr zu glauben.
Dirk Neubauer: Das ist eine lange Geschichte, die schon mit den Koalitionsverhandlungen begann. Ich hatte schon gezweifelt, ob ich diesen Spagat zwischen eigener Glaubwürdigkeit und dem, was hinten herauskommt, noch leisten kann. Das setzte sich durch die Pandemie so weit fort, dass wir in Sachsen angefangen haben, eine andere SPD als im Bund zu sein. Alles, was der Bund entschied, aber was hier nicht passte, wurde auf die da oben verschoben. So, als hätten wir nichts miteinander zu tun. Irgendwann kann man das nicht mehr wirklich erklären, da es ja nur eine SPD gibt, die in Berlin und in Dresden mitregiert.
Immerhin gibt es in Ihrer Stadt keinen Stadtrat von der SPD.
Dirk Neubauer: Nein, ich bin hier ja sowieso gewissermaßen der Dorf-Sozi gewesen. Unsere Ortsgruppe bestand aus drei Leuten. In den letzten Jahren ist mir der Glauben abhandengekommen, dass es in den bestehenden Strukturen möglich ist, Dinge zu verändern. Als Kommunalpolitiker bezahlen Sie jeden Tag mit Glaubwürdigkeit. Das ist die einzige Währung, die ich habe. Das ist irgendwann gefährdet.
Als das Signal vom Bund kam, dass unser Covid-Öffnungsprojekt beendet werden muss, war der Punkt erreicht, ab dem es nicht mehr weiterging. Ich habe das Gespräch mit Bundestagsabgeordneten gesucht, ich habe versucht, das auf Landesebene noch zu verhindern, aber es hat niemand auch nur den Hauch eines Interesses gezeigt. Jetzt ist es für mich ein bisschen leichter, ich bin freier in dem, was ich mache. Und es gibt schon länger Bestrebungen mit einigen klugen Leuten, etwas Neues zu gründen. Das ist also keine Abkehr vom Parteiensystem an sich.
"Sack voll ernster Probleme"
Sie würden also gerne eine neue Partei gründen?
Dirk Neubauer: Möglicherweise. Wir sind am Überlegen. Es wird auf jeden Fall eine Plattform werden, die das Ziel hat, sich ohne ideologische Bremsen Sachthemen zuzuwenden und es ermöglicht, mit den Menschen diese zu besprechen. Ich habe in den letzten Jahren in der Landespolitik erlebt, dass viele gute Ideen im Gezänk am Kabinettstisch oder im Parteiengezeter versterben - aus purer Eitelkeit der handelnden Personen. Das können wir uns nicht mehr leisten.
Wir haben einen Sack voll ernster Probleme, die es zu lösen gilt. Mir wird angst, wenn wir angesichts der Klimaprobleme mit einer an sich gut handhabbaren Pandemie schon ins Straucheln kommen. Ich will mir gar nicht ausdenken, was das mit dieser Gesellschaft werden soll, die immer mehr zerfasert und wo die Streitfronten schon quer über die Kaffeetische der Familien gehen.
Aber weil ich prinzipiell keine anderen Ideen habe als Parteien und repräsentative Demokratie, die auch als geeignet ansehen würde, wenn man es richtig macht, werden wir uns sicherlich hier in geeigneter Form einbringen.
Was ist denn Ihre hauptsächliche Kritik am Parteiensystem? Die Parteiführung besitzt beispielsweise eine große Macht allein schon deswegen, weil sie bestimmen kann, wer und auf welchen Platz auf die Liste zur Wahl kommt. Damit ist die Parteiendemokratie schon gelaufen.
Dirk Neubauer: Das ist für mich ein ganz wesentlicher Punkt, wie ich auch im Buch geschrieben habe. Mir hat noch niemand erklären können, warum wir ein System entwickeln können, in dem eine Zahl X von Kandidaten in einem Wahlkreis direkt zur Wahl gestellt wird. Warum sollte sich nicht jeder Abgeordnete selbst die Zustimmung abholen? Das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt neben der Begrenzung der Amtszeiten auf zwei Legislaturen.
Das ist kein neuer, aber ein sehr guter Vorschlag. Ich fange hier bei mir auch an. Mehr als eine zweite Amtszeit werde ich hier nicht machen. Das wären 14 Jahre als sächsischer Bürgermeister. Was soll mir in 21 Jahren gelingen, was ich nicht in 14 Jahren schaffe?
Darunter entstehen auch ewige Strukturen. Unser großes Problem ist ja, dass die ewigen Parteikarrieren dazu führen, dass Ministerposten nicht mit Experten, sondern mit Gefolgsleuten besetzt werden. Die Administration darunter muss selbständig funktionieren. Wenn eine Frau von der Leyen Verteidigungsministerin ohne den Hauch einer Ahnung wird, dann muss die Struktur darunter den Job machen und sicherstellen, dass das weitergeht, auch wenn Frau von der Leyen, ohne gewählt zu sein, zur EU-Kommission wechselt. Das haben wir uns so gebaut, aber das ist nicht richtig.
Die Leute wollen zudem wieder teilhaben. Die Teilhabebereitschaft wächst - und daneben steht dieser abgeschlossene Bereich, dieser Orbit, in den man nur reinkommt, wenn man einen kennt, der einen kennt, der einen kennt. Das sind inzwischen Fremdkörper.
Es gibt eine auch gewollte Distanz zwischen der politischen Welt und dem, was ich hier jeden Tag erlebe. Man will sich gar nicht der Basis belasten und den mühseligen Diskussionen quer durch die Dörfer, aber dann wundert man sich, das die Leute irgendwann einmal aufwachen und fragen, was denn der Unterschied zwischen SPD und CDU ist und was das für uns bedeutet?
Diese Distanz wird heute in jeder Partei ungestraft mit dem Satz beschrieben: Parteipolitik spielt in der Kommune keine Rolle.
Warum haben wir einen so hohen Sockel an Rechtsradikalen?
Allerdings sagen Sie doch auch, wenn Sie eine neue politische Plattform gründen wollen, dass die nicht ideologisch sein soll. Da sollte dann die politische Orientierung oder die Partei doch auch keine Rolle spielen?
Dirk Neubauer: Ich denke, wir wären gut beraten, wenn wir die ideologischen Anteile, die wir in der Parteipolitik mit uns herumtragen, ein Stück zurücksetzen. Ich mache das mal konkret deutlich an der Situation in Sachsen, die ich jeden Tag erlebe. Warum ist die AfD hier so erstarkt, warum haben wir einen so hohen Sockel an Rechtsradikalen?
Das konnte nur funktionieren, weil von Anfang an mit Ausgrenzung reagiert wurde. Mit denen reden wir nicht. Deshalb ist die AfD die führende Kraft in diesem Bundesland. Die tun gar nichts dafür, die müssen auch gar nichts tun. Wir haben sie in eine Ecke gestellt, in der sie nicht erklären müssen, wie sie umsetzen wollen, was sie den Menschen versprechen.
Das ist reiner Populismus, weil die Leute mittlerweile so frustriert sind, dass es ihnen egal ist. Sie wollen einfach nur, dass die, die aus ihrer Sicht nicht liefern, was sie erwarten, abgestraft werden. Das ist ein weiterer Fehler, für den wir gesorgt haben, dass wir die Erwartung geschürt haben, Politik müsse den Leuten jeden Tag das liefern, was sie wünschen. Das haben wir 30 Jahre lang gemacht. Das ist hausgemacht.
Wenn die AfD hier tagt, gehe ich hin. Sie sollten mal sehen, wie entsetzt die sind, wenn ich da sitze. Da kommen Sie sich vor wie der Erziehungsberechtigte.
Kommunen: "Herzkammern der Demokratie"
Es gibt in Ihrer Stadt einen Ortsverband?
Dirk Neubauer: Nein, aber die kommen immer aus Flöha, weil sie hoffen, dass sie irgendwann hier mal Fuß fassen.
Sie nennen die Kommunen "die Herzkammer der Demokratie". In Ihrer Stadt, die relativ klein ist, kennen sich viele Leute. Da ist auch ein anderes Zusammenarbeiten eher möglich. Ich wohne in München mit mehr als einer Million Einwohnern, da sieht das doch anders aus. Bei den Kommunalwahlen kann man ja panaschieren und einzelne Politiker quer durch die Parteien stärken, aber auf dem Wahlzettel stehen dann bei jeder Partei Dutzende von Kandidaten, die man nicht kennt. Man sitzt dann davor und weiß nicht, wen man wählen soll.
Dirk Neubauer: Auch größere Städte oder Landkreise setzen sich aus kleineren Einheiten zusammen. Was Sie eben gesagt haben, höre ich ganz oft. Das ist ein Argument, dem man sich stellen muss. Nehmen wir mal so einen Flächenlandkreis wie Mittelsachsen, das ist einer der größten Flächenlandkreise in Deutschland. 380.000 Einwohner leben auf einer Fläche so groß wie das Saarland. Der Landkreis besteht aus kleinen Kommunen, in denen sich die Menschen organisieren. Genauso ist das in Städten, die Kieze und Stadtteile haben.
Es muss erst einmal in die Köpfe der Menschen, dass sie, wenn sie etwas bewirken wollen, mitmachen müssen. Damit muss man auch ernstmachen. Wenn man wie ich in einer Stadt ankommt und sagt, ich will das gar nicht allein entscheiden, dann sind die Leute erst einmal komplett verwirrt, weil sie selbst 30 Jahre nach Wende gelernt haben, dass da einer sitzt, der sagt, wo es langgeht.
Und dann kommt einer und sagt: Nein, ihr seid die Stadt, ich bin die Stadtverwaltung. Inzwischen fordern sie das ein. Es gibt Leute, die sagen, ich wähl dich nicht, ich kann dich nicht leiden, aber ich finde das gut. Das geht auch in größeren Städten, man muss es nur ernsthaft wollen.
Auch wenn ich sage, wir brauchen mehr finanzielle Autonomie, kommt nur das Totschlagargument, dass wir nur immer mehr Geld wollen. Ich will gar nicht mehr Geld, ich will die eine Milliarde Euro, die der Freistaat über 80 Förderinstrumente, die man in 52 unterschiedlichen Stellen beantragen kann, zur Verfügung stellt, direkt verteilen. Das sind 250 Euro pro Kopf, in meiner Stadt sind das 1,1 Millionen, vier Jahre lang jährlich garantiert. Damit müssen die Kommunen dann klarkommen.