"Wir stehen vor einer Ära systemischer Gefahren"
Mit Edward Snowden hat acTVism Munich ein ausführliches Gespräch über die Geheimdienste, Antiterror-Gesetze, Donald Trump und die Verantwortung des Einzelnen geführt
Am 15. Januar hatte der Verein acTVism Munich unter dem Titel "Freiheit & Demokratie - Globale Themen im Kontext" eine Veranstaltung in der Münchner Muffathalle organisiert. Zain Raza, der Gründer und leitende Redakteur von acTVism, führte ein langes Live-Interview mit Edward Snowden via Videokonferenz aus Moskau und sprach mit Srećko Horvat, Paul Jay, Richard D. Wolff, Jeremy Scahill und Jürgen Todenhöfer. Mittlerweile sind alle Gespräche online verfügbar, die meisten wurden mit deutschen Untertiteln versehen. Das gesamte Interview mit Edward Snowden ist ebenfalls übersetzt und in deutscher Sprache zu synchronisiert. Telepolis veröffentlicht einen kurzen Auszug aus dem Interview
Zain Raza: Im Jahr 1975 erschien Senator Frank Church, den wir beim Thema Church Committee bereits erwähnt haben, auf NBC und sagte: "Wenn diese Regierung jemals zu einer Tyrannei würde, wenn ein Diktator in diesem Land jemals die Macht übernähme, dann würden es die technologischen Fähigkeiten der Geheimdienste der Regierung ermöglichen, eine totale Tyrannei aufzubauen, und es gäbe keine Möglichkeit, zurück zu schlagen, da jegliche Anstrengung, einen Widerstand gegen diese Regierung aufzubauen, egal wie verborgen das geschehen würde, nicht von der Regierung unbemerkt durchführbar wäre." Das war 1975, und Sie selbst sehen das auch so. Denken Sie, dass jetzt mit Trump an der Macht diese Warnung Wirklichkeit werden könnte?
Edward Snowden:
Ich denke, den Fokus nur auf Trump zu richten, ist ein Fehler. Sie können suchen, wo Sie wollen, in der Zeitung oder öffentlichen Berichterstattern, und Sie erhalten jede denkbare Art von Kritik an Trumps Politik und seinem Kabinett; es ist von allen möglichen Problemen die Rede. Das ist nachvollziehbar, es ist offensichtlich. Ja, wir leben in unbekannten Zeiten. Ja, wir stehen vor einer Ära nicht nur von lokalen Gefahren, sondern auch von systemischen.
Aber worauf sollen wir uns eigentlich konzentrieren? Der Glaube daran, dass die gewählten Volksvertreter unsere Probleme lösen werden, ist der Fehler, den wir ständig wiederholen. Als Präsident Obama ins Weiße Haus gewählt wurde, sagte er all die Dinge, die wir hören wollten, nicht wahr? Er sagte, er stehe für ein gerechteres Amerika. Wir würden auf eine Zeit der Zusammenarbeit zugehen, nicht der Vetternwirtschaft. Er sagte, er werde Guantanamo an seinem ersten Tag im Amt schließen - es wird an seinem letzten Tag immer noch offen sein.
Er sagte, es werde in Amerika kein Abhören von Gesprächen mehr ohne Gerichtsbeschluss geben. Wir würden das nicht machen, wir würden das nicht brauchen, das sei nicht unser Stil. Stattdessen hat er das System noch weiter ausgebaut; schlimmer gemacht. Es wurde umfassender, besser, anspruchsvoller. Noch durchdringender. Und es wird so weiter gehen.
Wenn wir auf einen Erretter hoffen, wenn wir auf einen Helden warten, werden wir ewig warten müssen. Man wartet nämlich nicht auf einen Politiker, sondern auf jemanden, der hier unter uns sitzt. Und das sind Sie selbst. Oder die Person, die neben Ihnen sitzt. Wir alle tragen die Verantwortung. Wir werden das Problem nicht allein lösen können, aber das müssen wir auch nicht. Was wir machen müssen, ist diese eine Veränderung, eine kleine Veränderung, eine positive Veränderung, die wiederholt werden kann, die geteilt werden kann. Wir müssen Ideen haben. Wir müssen über diese Probleme nachdenken. Es geht nicht darum, zu erkennen, dass Trump eine schlechter Mensch ist, sondern darum zu verstehen, warum er so bedrohlich ist. Wir müssen damit anfangen, eine Abwehr aufzubauen. Und wir müssen darüber hinaus erkennen, dass diese Abwehr allein auch nicht ausreicht.
Wir müssen uns aktiv für eine freie und offene Gesellschaft einsetzen. Wir müssen erkennen, dass eines der zentralen Probleme der aktuelle Diskurs ist. Wörter haben nicht mehr dieselbe Bedeutung, die sie einmal hatten. Wir hören "Terrorismus" und wir denken "Oh nein, wie schrecklich. Wenn es Terrorismus ist, müssen wir alles dagegen tun." Und als normaler Bürger ist es absolut in Ordnung, so über Terrorismus zu denken. Niemand will, dass Menschen Flugzeuge in Türme fliegen. Niemand will, dass Menschen Bomben auf Marktplätzen oder in U-Bahnen zünden, niemand will Schießereien in den Straßen erleben.
Für Terrorismus gibt es keine einheitliche Definition. Es gibt Regierungen, die Menschen wegen Terrorismus anklagen, obwohl sie einfach nur politischen Protest im klassischen Sinne üben. Es gibt viele Regierungen - die britische ist hier besonders hervorzuheben -, die jegliche Bedrohung für die Stabilität des Systems, auch wenn es sich dabei eigentlich nur um Journalismus handelt oder das gesprochene Wort, wie einen terroristischen Angriff behandeln.
Das ist nicht nur bei Terrorismus so. Das passiert nicht nur bei negativ belegten Begriffen in unserer Sprache, sondern auch bei positiven. Wenn wir an Dinge wie Ungebundenheit und Offenheit, Demokratie, Freiheit und Menschenrechte denken, handeln wir aus der Überzeugung heraus, dass sie unterstützenswert sind, so lange die Dinge richtig und angemessen sind, so lange sie moralisch sind und nachhaltig. Das geht sogar so weit, dass wir Rechtmäßigkeit gleichsetzen mit Moral. Wenn die Regierung sagt, dass jemand das Gesetz gebrochen hat, gehen wir instinktiv davon aus, dass das bedeutet, dass jemand das Falsche getan hat.
Aber, verehrte Damen und Herren, manchmal bleibt einem aus moralischer Perspektive keine andere Möglichkeit, keine andere Wahl, als das Gesetz zu brechen. Deutsche kennen das viel besser als viele andere Nationen.
Aber dies ist kein spezifisch deutsches Problem. Denken Sie an die Abschaffung der Sklaverei, das Verbot von Alkohol oder das Wahlrecht für Frauen - in den USA wurden all diese Dinge seinerzeit als Bedrohung für die innere Stabilität betrachtet. Institutionen und Regierungsbeamte fühlten sich angegriffen, terrorisiert. Man fühlte sich solchen Leuten gegenüber verwundbar und bedroht. Und wissen Sie was? Das war auch gut so.
Wenn Menschen Grenzen überschreiten, wenn sie die Grenzen von Menschenrechten ausweiten, beginnt das immer als Auflehnung gegen das Althergebrachte. Sei es auf der Straße, in den Zeitungen, durch das geschriebene Wort oder im Fernsehen. Es ist eine Auflehnung gegen den Status Quo. Sie müssen bedenken, dass all diese Ungerechtigkeiten, die im Laufe der Geschichte passiert sind, die schlimmsten Dinge, die Sie sich vorstellen können, sei es in der Geschichte Ihres Landes oder international, waren zu ihrer Zeit legal.
Menschenrechtsverletzungen sind im nationalen Kontext immer legal, wenn die Regierung darauf abzielt. Zumindest so lange man sich daran beteiligt. Jahre später kann es sein, dass man die Dinge verurteilt. Jahre später kann es sein, dass sie verboten werden. Jahre später kann es sein, dass jemand auch mal das Innere eines Gerichtssaals sieht. Macht hat ihre eigenen Gesetze. Und wir müssen uns überlegen, was wir dagegen tun können. Wie können wir die Dinge ein bisschen besser machen?
Das ist eine schwierige Frage. Ich kann nicht behaupten, dass ich die Antwort darauf habe, aber ich denke, dass wir eine Sache vergessen haben, nämlich, dass wir ganz grundlegende Prinzipien, grundlegende Ideen, die wir miteinander teilen, aufs Neue verbreiten müssen, wenn wir wirklich in einer freien Gesellschaft, ja in einer freien Welt leben wollen: Und zwar, dass Menschenrechte uns allen gehören.
Die schlimmsten Auswüchse des US-Überwachungssystems beruhen auf einem einzigen Konzept, nämlich, dass die Amerikaner so ziemlich alle Rechte erhalten und alle anderen so gut wie keine. Für einen Amerikaner mag dies ganz gut klingen. Aus diesem Grund genießen manche Beschlüsse auch noch einige Unterstützung, meist von denjenigen, die sagen "Okay, das betrifft mich nicht, es ist mir egal und ich bin nicht derjenige, der bedroht wird." Aber 95% der Weltbevölkerung leben außerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten.
Und das gilt praktisch für jedes Land. Die Anteile schwanken hier und dort, aber dies ist eine große Welt, auf der eine Menge Menschen leben. Und wenn wir die Rechte des Einzelnen schützen wollen, müssen wir in der Lage sein, die Rechte aller zu schützen. Und das führt uns zurück, darüber nachzudenken "Nun, warum haben wir eigentlich Rechte? Was genau schützen wir, was versuchen wir zu erschaffen, was sehen wir, wo wollen wir hin?" Und ich würde sagen: Genau das ist die Idee von Freiheit.
Wenn Sie jemanden fragen, zum Beispiel die Person neben Ihnen, was Freiheit für sie bedeutet, kann es sein, dass Sie keine klare Antwort erhalten. Jeder wird Ihnen eine andere Antwort geben. Und wir müssen darüber nachdenken, was Freiheit heute für uns bedeutet. Ich denke, Freiheit ist das Recht, ohne Erlaubnis zu handeln. Es ist die Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen, ohne sich Gedanken machen zu müssen, wie das in irgendeiner Regierungsdatenbank aussehen wird, oder sich darum kümmern zu müssen, was irgendein Regierungsbeamter tun wird.
Ob sie das verärgern wird, ob sie Vergeltung üben werden, ob sie etwas tun werden, das Auswirkungen auf meine Rechte, meine Freiheiten haben wird? Freiheit bedeutet, von Tag zu Tag, von Moment zu Moment zu leben, jeden Augenblick im eigenen Kopf, im eigenen Selbst, in der eigenen Gemeinschaft zu leben und an die Familie zu denken, statt an irgendwelche Einrichtungen, die einem keine Loyalität schuldig sind und die einen eher als eine potenzielle Bedrohung betrachten als einen potentiellen Verbündeten.
Und das kann wirklich nicht die Lösung sein. Aber es ist ein Anfang. In Anbetracht dessen, dass wir uns in einem freien Land, in einer offenen Gesellschaft wägen - und ich denke, da sind wir uns einig -, müssen wir doch viel zu häufig um Erlaubnis bitten, um etwas zu tun, oder uns viel zu häufig irgendwo für irgendetwas anmelden; und wir müssen uns viel zu viele Gedanken machen, dass ein Regierungsbeamter unsere Browser-Historie nachlesen oder ermitteln könnte, wer sich jetzt gerade in diesem Raum aufhält - ich sage Ihnen das sehr ungern, meine Damen und Herren, aber wenn Sie gerade ein Handy dabei haben, lässt sich nachweisen, dass Sie heute Abend hier gewesen sind. Das wird Sie jetzt nicht ins Gefängnis bringen, aber es ist zurückverfolgbar. Und ein Geheimdienstmitarbeiter, der wie ich einst von Hawaii aus arbeitet oder in Darmstadt, Ramstein oder Bad Aibling sitzt, kann sich die Daten ansehen und daraus schließen, wer Sie sind, woran Sie glauben oder was Sie möglicherweise tun werden. Ich glaube nicht, dass wir in einer Welt leben sollten, in der wir jedes Mal, wenn wir einen geliebten Menschen oder einen Freund anrufen, um Ideen auszutauschen oder von unserem Tag zu erzählen, daran denken müssen, wie das wohl rüber kommen wird.
Das ist vieles, verehrte Damen und Herren, aber vor allen Dingen ist das grundsätzlich illiberal, grundsätzlich unfrei und grundsätzlich ungerecht. Und es sollte sich ändern.
Der Verein acTVism Munich wurde 2014 von Zain Raza in München gegründet, hat jetzt 30 Mitglieder und begann seine Arbeit 2015:
"acTVism Munich ist ein gemeinnütziges, unabhängiges und basisdemokratisches Onlinemedium in deutscher und englischer Sprache.
acTVism Munich produziert Videoberichte, organisiert Podiumsdiskussionen und Debatten, übersetzt englische Artikel ins Deutsche und veröffentlicht Gastbeiträge, um die Öffentlichkeit zu informieren und Nachrichten zu Themen von gesellschaftlicher Bedeutung bereitzustellen.
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acTVism Munich ist ein rechtsfähiger Verein mit Sitz in München."