"Wir weigern uns, das Russland-Bild in der Welt ehrlich wahrzunehmen"

"Nein zum Krieg". Bild: Dolche far niente, CC BY-SA 4.0

Grigori Judin über unzufriedene Russen, das Ausbleiben einer gemeinsamen Bewegung und den Unterschied zu Belarus

In Russland nach der Invasion der russischen Armee in der Ukraine am 24. Februar dieses Jahres zwar zahlreiche kleine und mittelgroße Friedensaktionen. Massenproteste, wie 2020 gegen den autoritär regierenden Staatschef Alexander Lukaschenko im benachbarten Belarus, blieben jedoch aus.

Viele oppositionell eingestellte Russen enttäuscht das, lösten doch beide zugrunde liegenden Ereignisse – die mutmaßlich manipulierte Wahl in Belarus 2020 und die Ukraine-Invasion durch Russland 2022 – im jeweiligen Land eine innenpolitische Wende aus, die totalitäre Elemente verstärkte.

Über die Hintergründe sprach Telepolis mit dem Moskauer Soziologen, Hochschulprofessor und Antikriegsaktivisten Grigori Judin, der selbst am ersten Kriegstag auf einer Kundgebung festgenommen und im Polizeigewahrsam nach eigenen Angaben misshandelt worden war.

Judin ist Professor an der Moscow School of Social and Economic Science (MSSES) und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Moskauer Higher School of Economics – eine der wichtigsten Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in der Russischen Föderation. Wissenschaftlich arbeitet er vorwiegend zu Wirtschaftssoziologie, Wissenschaftstheorie und Meinungsforschung.

Herr Judin, bisher waren in Russland die Proteste gegen den Krieg in ihrer Teilnehmerzahl begrenzt. Ist das ein Ausdruck von Stabilität der russischen Regierung in Kriegszeiten?

Grigori Judin: Was als Nächstes geschieht, hängt weitgehend davon ab, wie sich die militärische Gesamtsituation entwickelt. Das politische System ist – ganz im Gegenteil zu der Prämisse in Ihrer Frage – in einen Zustand großer Instabilität eingetreten.

Grigori Judin ist Soziologe und Antikriegsaktivist

Es gibt viele Unsicherheiten, die es zuvor nicht gab: Wie geht es weiter mit dem Widerstand der Ukraine, dem der Weltgemeinschaft und demjenigen des gegen den Krieg eingestellten recht großen Teils der russischen Bevölkerung? Druck kommt von verschiedenen Seiten. Eine Prognose über den Ausgang ist daher derzeit schwierig.

Sie sprechen an anderer Stelle vom Druck derjenigen gesprochen, die mit Regierung und Krieg nicht einverstanden sind, einige Erhebungen gehen von einem Viertel der Bevölkerung aus. Warum haben sie nicht in größerer Zahl demonstriert, wie etwa 2012 oder anlässlich der Verhaftung des Regierungskritikers Alexei Nawalny?

Grigori Judin: Ich finde es spannend, dass ich diese Frage aus Deutschland gestellt bekomme. Warum sind die Deutschen im Jahr 1939 nicht auf die Straße gegangen, um gegen den Überfall auf Polen zu protestieren? Der Grund ist ähnlich: Angst ist in der Gesellschaft weit verbreitet.

Einige Leute sind zwar noch aktiv. Wir sehen immer wieder separate, subversive Antikriegsaktionen. Wir sehen Leute auf die Straße gehen – zunächst in größerer, jetzt in geringerer Zahl, auch weil der Effekt auf die Politik zu Beginn Null war.

Eine große Zahl Leute ist bereit, alles zu riskieren, sie sind empfänglich für den ungeheuren Schmerz der Ukrainer und verstehen, dass ihrem eigenen Land massiv Schaden zugefügt wird. Sie wissen nur nicht, wie sie vorgehen können.

Protestwille: Unterschiede zwischen Belarus und Russland

Aber im Jahr 2020 hat es in Belarus aber auch große Proteste gegeben, mit denen sich weite Teilen der Bevölkerung solidarisiert haben. Warum bleibt eine solche Entwicklung in Russland aus?

Grigori Judin: In Belarus gab es 2020 eine Phase der Solidarität, von der Sie jetzt sprechen. Sie hatte ihre Ursache auch in einer unfähigen Regierungsführung während der Pandemie. Es gab einen Tyrannen, eine Junta, gegen die solidarisch vorgegangen wurde.

Doch auch diese Phase führte nicht zu einem Machtwechsel, sondern zu irreversiblen Veränderungen in der Gesellschaft. In Russland gibt es diese Solidarität traditionell nicht, sondern eine zersplitterte Masse, die man leicht erschrecken und der man Angst machen kann. Die Leute bevorzugen es in solchen Situationen, sich um den Anführer zu scharen, damit sie keine persönlichen Nachteile erleiden.

Aber die kleineren Proteste in Russland wirken ebenfalls solidarisch.

Grigori Judin: Generell nimmt die Solidarität hier schon zu. Putin hat aber beschlossen, dieses Ventil zu sperren, weil die Entwicklung nicht zu seinen Gunsten verläuft. Gelingt ihm das nicht, kann auch das System einen Schaden davontragen.

Aber in Belarus und Russland bestehen sehr unterschiedliche Gesellschaften - und die Ukraine wiederum hat eine ganz andere Geschichte. In Belarus haben sich übrigens viele Ältere den Protesten angeschlossen. Dazu braucht es in Russland nun einen Anlass.

Kann der künftige Kurs von Putins Außenpolitik eine solche Gelegenheit sein?

Grigori Judin: Putin hat den Russen über lange Zeit hinweg erzählt, alle Probleme kämen nur aus dem Ausland. Aber ich halte das für eine Entschuldigung dafür, dass wir uns selbst nicht gut verstehen, weder unsere Fehler noch unsere Stärken und unser Potenzial.

Dieses Unverständnis unserer selbst führt zu solch dummen und selbstmörderischen Schritte, obwohl das Potenzial für andere Lösungen vorhanden wäre. Es gäbe ja die Möglichkeit, unser Land für unsere Nachbarn attraktiver zu gestalten – auch, damit sie sich nicht von selbst fremden Militärblöcken anschließen, was für ja nicht vorteilhaft ist.

Aber wir weigern uns, das Russland-Bild in der Welt ehrlich wahrzunehmen. Dabei wäre diese Analyse sehr wichtig. Wenn sich der aktuelle Wahnsinn weiter entfaltet, wird das unmöglich werden. Russland war Teil eines Imperiums, das bereits zu zerfallen begonnen hat und dann weiter zerfallen wird.