Wird alles immer besser?

Bild: canforaalessio/Pixabay

Ein kritischer Blick auf Steven Pinkers Geschichtsoptimismus

Hand aufs Herz: Gehören Sie zu jenen Menschen, die gerne vergangenen Zeiten nachtrauern und die insgeheim der Meinung sind, dass früher ohnehin alles besser war? Oder gehören Sie eher zu jenen Menschen, die finden, dass zwar nicht alles perfekt läuft, die aber dennoch ein Leben in der Gegenwart stets einem Leben in der Vergangenheit vorziehen würden und die fest daran glauben, dass für die Zukunft weiterer Fortschritt zu erwarten ist? Anders gefragt: Sind sie Geschichtspessimist oder Geschichtsoptimist?

Wie auch immer Ihre eigene Antwort ausfallen mag: Sicher ist, dass Steven Pinker fest auf der Seite der Optimisten steht. Pinker, seines Zeichens Psychologie-Professor in Harvard, hat in den letzten Jahren mit The Better Angels of Our Nature. Why Violence Has Declined (2011) (deutsch: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit) und Enlightenment Now. The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress (2018) (deutsch: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung) zwei populärwissenschaftliche Werke vorgelegt, in denen er argumentiert, dass sich die Menschheit im Großen und Ganzen hin zum Besseren entwickelt. Wie kommt Pinker zu dieser Einschätzung?

Warum sich alles zum Besseren entwickelt

In The Better Angels of Our Nature führt Pinker aus, dass Gewalt - sowohl ihre tatsächliche Ausführung wie auch allgemein ihre Akzeptanz - im Lauf der Geschichte und insbesondere seit der Aufklärung immer weiter zurückgegangen sei und in der Gegenwart ihr bisher niedrigstes Niveau erreicht habe. Dieser Rückgang der Gewalt sei zwar nicht in allen Lebensbereichen gleichmäßig erfolgt, nicht ohne Rückfälle vonstattengegangen und auch nicht für alle Zeiten gesichert, lasse sich aber grundsätzlich sowohl im Kleinen wie im Großen, also vom sozialen Miteinander bis hin zum zwischenstaatlichen Handeln nachweisen.

Natürlich kann man beispielsweise die Millionen von Toten des Ersten und Zweiten Weltkriegs nicht wegdiskutieren. Gleichzeitig aber sind wir immer weniger bereit, diese Toten achselzuckend hinzunehmen und nüchtern festzustellen, dass derlei nun einmal zur Geschichte gehöre.

Als entscheidende Entwicklungstendenzen nennt Pinker unter anderem den Übergang von nomadischen Jäger-und-Sammler-Kulturen hin zur Sesshaftwerdung, die Ablösung mittelalterlicher Kleinstaaterei durch die Herausbildung moderner Staatensysteme, die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts sowie die Stärkung der Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Pinker stellt diese allgemeinen Entwicklungstendenzen hin zu weniger Gewalt nicht einfach als These in den Raum, sondern versucht, seine Behauptung mithilfe einer schier unüberschaubaren Menge an Daten zu belegen.

Dabei verweist er unter anderem auf den relativen Rückgang der Anzahl an Tötungsdelikten, die Zunahme von Ländern, in denen Sklaverei verboten ist oder den Rückgang des Analphabetismus - um nur einige wenige Beispiele aus der Fülle seines Materials zu nennen.

Vier gute Engel

Was aber sind die Kräfte, die solche Entwicklungen treiben? Warum gibt es heute im Allgemeinen weniger Gewalt als früher? Pinker antwortet auf diese Frage mit dem Verweis auf psychologische Mechanismen, versucht den Verlauf der Geschichte also vor dem Hintergrund der emotionalen und kognitiven Grundausstattung des Menschen verständlich zu machen.

Im Hinblick auf seine Neigung zu Gewalt beziehungsweise Gewaltlosigkeit attestiert Pinker dem Menschen eine gewisse Janusköpfigkeit. Einerseits geht er davon aus, dass Menschen aller Zeiten und Kulturen bereit waren und nach wie vor bereit sind, Gewalt einzusetzen - sei es als instrumentelles Mittel der Zielerreichung, als Signal der Dominanz im Kampf um Ansehen und Autorität, als Ausdruck eines nach Rache und Wiedergutmachung strebenden Moralempfindens oder auch einfach als Resultat sadistischer Neigungen.

Pinker unterstellt aber, dass solchen in der menschlichen Natur angelegten destruktiven Kräften vier positive Eigenschaften entgegenstehen - eben jene Better Angels of Our Nature, von denen bereits im Titel des Buches die Rede ist. Dabei denkt Pinker erstens an die Fähigkeit zur Empathie, zweitens an die Fähigkeit der Selbstkontrolle, drittens an einen Sinn für Moral, also ein Gespür für die innerhalb einer Gesellschaft geltenden Normen und Tabus, sowie viertens an die Möglichkeit vernünftigen Abwägens.

Diese Better Angels of Our Nature können unter den spezifischen Bedingungen der Moderne besser zur Geltung kommen als jemals zuvor, argumentiert Pinker. Zum einen verfüge der moderne Staat über ein klares Gewaltmonopol und könne somit das Ausmaß individueller gegenseitiger Ausbeutung begrenzen und zum anderen ermögliche er über die dicht verflochtenen Netzwerke des Handelns und Wirtschaftens einen Austausch von Waren und Ideen über größere Distanzen und für größere Gruppen als zu jedem anderen Zeitpunkt der Geschichte.

Zusammen mit anderen Entwicklungen wie dem Rückgang des Analphabetismus bilde das eine gesunde Basis für die Entfaltung unserer Empathie- und Moralfähigkeiten sowie die Durchsetzung der vernunftgeleiteten Erkenntnis, dass friedliche Kooperation dem gewaltsamen Wettstreit vorzuziehen ist.

Ein Plädoyer für das Festhalten am Projekt der Moderne

Vor diesem Hintergrund hält Pinker - wie er am Ende von The Better Angels of Our Nature schreibt - die von verschiedenen Seiten vorgebrachte Kritik am Projekt der Moderne für verfehlt. All die Nörgler und Miesmacher, die etwa auf den destruktiven Charakter moderner Arbeitswelten, globale Ungerechtigkeiten oder die Gefahren des menschengemachten Klimawandels verweisen, sind für Pinker eindeutig auf Abwegen. Stattdessen empfiehlt er ein Festhalten an den Elementen modernen Denkens und Handelns, die uns an den Punkt geführt haben, an dem wir heute stehen.

Den Versuch einer genaueren Bestimmung eben dieser Elemente modernen Denkens und Handelns unternimmt Pinker in seinem neuesten Buch Enlightenment Now, in dem er - kurz gesagt - dafür plädiert, sich an den Idealen der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts zu orientieren, weil sie der entscheidende Motor für zahllose Verbesserungen des menschlichen Lebens gewesen seien. Unter den Idealen der Aufklärung versteht Pinker dabei ein Konglomerat aus vier Komponenten, die er im Untertitel seines Buches nennt: Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt.

Vernunft, so Pinker, ist die Grundvoraussetzung für jede Form ernsthafter Diskussion. Wer nicht bereit ist, die eigenen Argumente rational zu rechtfertigen, mit dem lohnt eine Debatte im Grunde überhaupt nicht. Schön und gut. Dem würde wahrscheinlich niemand widersprechen. Welche Gründe aber können als rationale Gründe gelten? Pinker gibt hier nur eine negative Antwort: Er versteht die Vernunft als das Gegenstück zu den von ihm sogenannten generators of delusion wie Glaube, Dogma, Autorität, Mystik, Intuition oder Hermeneutik.

Vernünftig ist für Pinker also offenkundig das und nur das, was sich "objektiv" nachprüfen lässt. Zu dieser Lesart passt jedenfalls Pinkers Verständnis von Wissenschaft: Er verknüpft die wissenschaftliche Anwendung von Vernunft nämlich mit bestimmten Methoden beziehungsweise einem erkenntnistheoretischen Apparat, den er mit Stichwörtern wie Skeptizismus, Fallibilismus und empirisches Testen umreißt. Dieses rationale und wissenschaftliche Denken stelle sich im Kontext der Aufklärung in den Dienst des Humanismus, argumentiert Pinker, setze sich also das Wohlergehen der Menschen als oberstes Ziel.

Unter diesen Bedingungen ist dann auch Fortschritt möglich, will sagen: die Einrichtung eines Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das eine Verwirklichung der aufklärerischen Ideale zur obersten Maxime erhebt. Hier schließt sich der Kreis zu The Better Angels of Our Nature: Laut Pinker sind wir auf dem Weg zu einem solchen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gegenwärtig - allen Unkenrufen zum Trotz - weiter als jemals zuvor. Wir leben vielleicht nicht in der besten aller möglichen Welten, aber wenn wir an den Idealen der Aufklärung festhalten, werden wir ihr zumindest näherkommen.

Und was ist davon zu halten? Versuch einer kritischen Einordnung

Zunächst einmal ist nüchtern festzuhalten, dass Pinkers Überlegungen in der Geschichtswissenschaft fast einhellig auf Ablehnung gestoßen sind. In den entsprechenden Fachkreisen wird dabei vor allem kritisiert, dass Pinker komplexes und ambivalentes Geschehen verzerrend und verfälschend auf einfache und eindeutige Sachverhalte reduziere und dass dies ein Verständnis der tatsächlichen historischen Prozesse verhindere. Anders gesagt: Pinker macht es sich zu leicht und dreht sich die Geschichte so, wie er sie braucht.

Dass solche Kritikpunkte von Seiten der Historiker vorgebracht werden, muss allein noch nicht viel heißen: Es könnte sich - böse gesprochen - auch um eine Abwehrbewegung gestandener HistorikerInnen handeln, die nicht möchten, dass ihnen ein Psychologe ins Handwerk pfuscht und die sich an verschiedenen Details abarbeiten, um sich nicht mit der großen Linie von Pinkers Argumentation auseinandersetzen zu müssen.

Im Folgenden möchten wir aber an mehreren Beispielen herausarbeiten, weshalb es in Pinkers Denkstruktur tatsächlich tieferliegende begriffliche, inhaltliche und methodische Probleme gibt.

Im Labyrinth der Begriffe - oder: Aufklärung, was ist das eigentlich?

Beginnen wir mit den begrifflichen Schwierigkeiten: Sowohl in The Better Angels of Our Nature als auch in Enlightenment Now operiert Pinker mit positiv konnotierten und allgemein als erstrebenswert betrachteten Konzepten. Kaum jemand würde beispielsweise unvernünftiges und unwissenschaftliches Denken für wünschenswert halten oder sich nach einer rückschrittlichen Gesellschaft sehnen, die sich einer Verbesserung der Lebensbedingungen in den Weg stellt - um die von ihm benannten Ideale der Aufklärung einmal auf den Kopf zu stellen.

Um über die Ebene des Allgemeinplatzes hinauszukommen, muss man angesichts dessen zunächst einmal festlegen, was man unter den verwendeten Begriffen verstehen möchte. Wie wir weiter oben bereits andeutungsweise gesehen haben, tut Pinker das durchaus - aber er tut es auf eine ganz bestimmte Art und Weise, setzt genau diese bestimmte Art und Weise dann jedoch als Normalposition voraus. Was heißt das?

Nehmen wir ein Beispiel: In Enlightenment Now verknüpft Pinker die Durchsetzung des Humanismus beziehungsweise den Fortschrittsgedanken mit ganz bestimmten wirtschaftlichen Traditionen. Pinker tritt hier für die wirtschaftspolitisch weitestgehend klassischen Annahmen der Österreichischen und der Chicagoer Schule ein. Deutlicher gesagt: Pinker vertraut auf die Kraft des freien Marktes. Und noch mehr: Er hält dieses Vertrauen auf die Kraft des freien Marktes für selbstverständlich und alternativlos - was es natürlich nicht ist.

Ähnliches gilt für Pinkers Verständnis von Wissenschaft, das schlicht die Sichtweise des Kritischen Rationalismus spiegelt und andere Konzeptionen von Wissenschaft ausschließt. Alles, was sich nicht in Zahlen ausdrücken und mit statistischen Verfahren überprüfen lässt, hält Pinker tendenziell für unwissenschaftlich. Eine solche Gleichsetzung wissenschaftlichen Denkens und Handelns mit empirisch-quantitativen Methoden ist nicht nur wissenschaftstheoretisch unzureichend, sondern erweist sich bei näherer Betrachtung überdies als historische Verkürzung.

Anders als Pinker dies suggeriert, lassen sich die in der Aufklärung kursierenden Konzepte von Wissenschaft nämlich keineswegs auf die Anwendung quantitativ-empirischer Methoden reduzieren. Ganz im Gegenteil: Sie umfassten neben Methodenpluralismus und Philosophie sowie den Geistes- und Sozialwissenschaften teilweise auch Magie, oft ohne klare Trennung zu den Naturwissenschaften.

Will sagen: Aufklärung mit einem Streben nach Wissenschaftlichkeit und Nachprüfbarkeit in Verbindung bringen zu wollen, ist sicher nicht falsch. Darüber sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die Frage, was als wissenschaftlich und nachprüfbar gelten kann, im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich beantwortet wurde und auch heute nicht als entschieden gelten kann.

Vergleichbares lässt sich über die Vernunft sagen, ein weiteres von Pinker ins Spiel gebrachtes Kernmerkmal der Aufklärung: Zwar gibt es in der Aufklärung durchaus eine Betonung der Vernunft als Urteilsinstanz, gleichzeitig aber wird auch immer wieder nachdrücklich auf die Grenzen der Vernunft verwiesen.

Der Skeptizismus der Aufklärung gegen Autoritäten, die eine bestimmte Weltsicht vermittelten, bedeutete also oft das Hinterfragen der eigenen Vernunft und der eigenen Annahmen. Wo diese Selbstkritik fehlt und die eigene Perspektive als völlig unabhängig oder neutral verabsolutiert wird, können leicht feste, unveränderliche Vorstellungen von Richtig und Falsch entstehen.

Eine (zu) einfache Dichotomie: Vernunft und Unvernunft

Über die Erörterung begrifflicher Schwierigkeiten sind wir damit bei einer wichtigen inhaltlichen Bruchstelle angelangt: Obwohl Pinker eine sehr spezifische und historisch nicht ohne Weiteres in dieser Eindeutigkeit nachweisbare Lesart aufklärerischer Ideale vorschlägt, nutzt er den auf Basis dieser Lesart konstruierten Gegensatz von "Aufklärung" und "Unvernunft", um Vertreter anderer Lesarten als Gegner der Aufklärung auszuweisen - darunter so heterogene Gruppierungen wie Umweltschützer, Kapitalismuskritiker und Nationalisten, aber auch so unterschiedliche Denker wie Friedrich Nietzsche und Theodor Adorno, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre, Michel Foucault und Edward Said.

Nietzsche ist für Pinker beispielsweise Wurzel gleichsam allen Übels im 20. Jahrhundert, während er in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung (1947) "progressophobia" wittert. Nun mag man zur Philosophie Nietzsches oder zu den Thesen Horkheimers und Adornos stehen, wie man will: Sie ohne weitere Differenzierung dem Lager der Anti-Aufklärer zuzuschlagen, erscheint fragwürdig - und spiegelt interessanterweise genau jene Tendenz der Aufklärung, im Dogma zu erstarren und damit ihr Potential zur Selbstreflexion und Emanzipation zu verlieren, die in den Schriften der eben genannten Autoren zum Thema gemacht wird.

Von der Unsinnigkeit dichotomen Denkens, oder: Wird wirklich alles besser?

Wie aber wirkt sich Pinkers Dichotomie zwischen dem Aufklärerischen und dem Anti-Aufklärerischen auf sein Bild der Geschichte aus? Abstrakt gesprochen bietet sie ihm die Möglichkeit, historische Entwicklungen anhand einer begrenzten Anzahl von Schlüsselereignissen zu strukturieren und zu deuten, mit denen sich untrennbar moralisch-normative Aspekte verbinden, und daraus Handlungsmaximen für Gegenwart und Zukunft abzuleiten.

Etwas weniger abstrakt gesprochen kann Pinker die Dichotomie nutzen, um ein klar geordnetes Bild der Geschichte vorzulegen, auf das er seine Idee der andauernden Höherentwicklung menschlichen Zusammenlebens projizieren kann.

Mit einer solchen linearen Interpretation ausgewählter geschichtlicher Ereignisse steht Pinker nicht alleine da, sondern lässt sich vielmehr in eine Reihe ähnlich konzipierter Darstellungen einordnen. So verfasste etwa Paulus Orosius, Theologe des 4./5. Jahrhunderts, seine Historiae Adversos Paganos (Geschichte gegen die Heiden), eine Weltgeschichte von den Anfängen bis in seine Gegenwart. Die Absicht dieser Weltgeschichte war es, zu zeigen, dass sich durch das Christentum die Welt insgesamt zum Besseren gewandelt habe, da Kriege und Katastrophen deutlich weniger geworden seien.

Orosius' Weltgeschichte fand das gesamte Mittelalter hindurch bis in die Renaissance weite Verbreitung und prägte nicht nur das Bild der Antike in dieser Epoche entscheidend mit, sondern auch das Bild vom Fortgang der Geschichte als Entfaltung des christlichen Heilsgeschehens. Diese Parallele zu Orosius dient in erster Linie der Illustration einer wichtigen Überlegung: In der Geschichtswissenschaft besteht mittlerweile weitestgehend Einigkeit, dass Geschichtsforschung immer nur zeitgebunden sein kann und von der Perspektive desjenigen abhängt, der sich eines Forschungsgegenstandes annimmt.

Gleichzeitig hat die Geschichte der Geschichtsschreibung herausgearbeitet, auf welch vielfältigen und oftmals nur impliziten Vorannahmen Darstellungen der Vergangenheit beruhen. Darunter fallen nicht nur tendenziöse Werke, die Herrschende, Gruppen oder Ideologien glorifizieren, sondern auch sogenannte "große Erzählungen", die Geschichte aus der Sicht einer übergeordneten Idee betrachten, wie etwa als fortschreitenden Zivilisations- oder Nationalisierungsprozess, als Entfaltung eines religiösen Heilsgeschehens oder als Abfolge von Klassenkämpfen. Auch Sichtweisen, wonach "alles immer besser" oder "alles immer schlechter" wird, fallen in diese Kategorie.

Vor diesem Hintergrund lässt sich kaum abstreiten, dass Enlightenment Now wie auch The Better Angels of Our Nature eine starke historiographische Komponente aufweisen: In beiden Werken wird Geschichte anhand einiger weniger Schlüsselereignisse - allen voran der Aufklärung - strukturiert und dabei insgesamt klar als Erfolgsgeschichte gedeutet.

Aufgrund dieser Weltsicht erfüllen Pinkers Werke zudem eine apologetische Funktion: Sie versuchen die von ihm vertretenen politischen ebenso wie wissenschaftlichen Positionen durch einen Rückgriff auf die Geschichte zu legitimieren. Eigentlich ein durchschaubarer Taschenspielertrick.

Was wir daraus lernen, oder: Vom Wert der Historie für das Leben

Ist also alles Quatsch, was Pinker schreibt? Nicht ganz. Die von ihm aufgeworfene Frage nach den großen Entwicklungslinien der Geschichte sowie nach der Rolle der psychischen Grundausstattung des Menschen bei diesen Entwicklungen ist und bleibt wichtig. Hier schlicht auf Four Better Angels of Our Nature zu verweisen, mag etwas zu holzschnittartig gedacht sein, liefert aber einen Ausgangspunkt für detailliertere Untersuchungen.

Um abschließend ein klassisches Bild zu bemühen: Für den Geschichtsoptimisten ist das Glas halb voll, für den Geschichtspessimisten dagegen halb leer. Was spräche dagegen, sowohl dem Optimisten als auch dem Pessimisten zuzugestehen, dass sie halb Recht und halb Unrecht haben?

Und was spräche dagegen, sich in jedem Fall genauer anzusehen, was für ein Glas man da eigentlich vor sich hat und mit welchem Wasser es gefüllt ist - ohne dann gleich der Versuchung nachzugeben, ein apodiktisches Urteil zu fällen? Ein solches Vorgehen wäre vielleicht ein Schritt in Richtung jener Vernünftigkeit und Wissenschaftlichkeit, die sich Pinker auf die Fahnen schreibt.

Dr. Fabian Hutmacher ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Würzburg. Er hat Psychologie, Philosophie und Germanistik studiert und bewegt sich in seiner Forschung gerne an den Übergängen zwischen diesen Disziplinen.

Roland Mayrhofer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Regensburg. Er hat Geschichte und Psychologie studiert und erforscht jetzt gesellschaftliche, historische und wissenschaftstheoretische Aspekte der Psychologie.

Hinweis: Dieser Text ist eine adaptierte Fassung des folgenden Buchkapitels: Hutmacher, F. & Mayrhofer, R. (2020). Steven Pinker. In: G. Jüttemann (Hrsg.), Psychologie der Geschichte (S. 206-212). Lengerich: Pabst Science Publishers. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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