Wirecard betrog ein System, das betrogen werden wollte
Fall Wirecard ist größter Wirtschaftsskandal der Nachkriegszeit. Das Buch "Geniale Betrüger" legt die Defekte der deutschen Finanzwelt gnadenlos offen. Ein Auszug
Die Wirecard AG genießt in Deutschland über viele Jahre hinweg eine Art Narrenfreiheit. Eigentlich müssten der Konzern und seine Machenschaften beaufsichtigt werden: von der deutschen Geldwäscheaufsicht, von der Finanzaufsicht Bafin, von der Wirtschaftsprüferaufsicht Apas. Doch tatsächlich geschieht viele Jahr hinweg - nichts. Ganz im Gegenteil: Das scharfe Schwert der Aufsichtsbehörden bekommen vor allem die Kritiker des Konzerns zu spüren.
Bereits das Vorgehen der Behörden gegen die ersten entschiedenen Kritiker des Konzerns ab 2008 ist von einem sonderbaren Amtsverständnis geprägt. Statt den Vorwürfen der Skeptiker nachzugehen, arbeitet sich die Staatsanwaltschaft München lieber an den Skeptikern ab - und greift dabei auch willig auf Informanten aus dem Konzern zurück, deren Eigeninteresse offensichtlich ist. Während der Münchner Shortseller Tobias Bosler wegen kritischer Berichte in anderem Zusammenhang sogar im Gefängnis landet, hat das Wirecard-Management nichts zu befürchten. Einer der Staatsanwälte, der damals nur oberflächlich ermittelt, ist heute Büroleiter eines bayerischen Staatsministers.
Auch in den Folgejahren gehen die Aufseher eher gegen die Kritiker vor denn gegen den Konzern. Die erste Durchsuchung im Dezember 2015 im Amtshilfeverfahren für die US-Behörden führt zwar dazu, dass die Wirecard-Konzernspitze seitdem nicht mehr in die USA reist. In Deutschland bleibt der Vorgang jedoch ohne Resonanz.
Ganz anders springen die Ermittler mit den Wirecard-Kritikern um. Das Vorgehen gegen den britischen Investor Fraser Perring, den Autor des Skandalberichts "Zatarra", können die Behörden noch als Aktion gegen dubiose Shortseller abtun: Das Verfahren gegen Perring wegen angeblicher Marktmanipulation wird nur gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt, was den Beamten einen Gesichtsverlust erspart.
Das absurde Vorgehen gegen die Financial Times
Doch vollends absurd wird das Agieren der deutschen Behörden im Fall der kritischen Journalisten der Financial Times (FT). Es zeigt den Furor, der nicht auf den Fluren der Münchner Staatsanwaltschaft, sondern vor allem auf jenen der Finanzaufsicht Bafin geherrscht haben muss. Statt das zu beaufsichtigende Unternehmen kritisch unter die Lupe zu nehmen, gebärden sich die Finanzaufseher zunehmend als Hilfstruppen Wirecards: Je kälter dem Konzern der Wind der öffentlichen Meinung entgegenbläst, desto wärmer wird bei der Bafin der Blick auf Wirecard.
Als fatal erweist sich die Strafanzeige der Finanzaufsicht Bafin gegen die FT-Reporter Dan McCrum und Stefania Palma: Wie im April 2019 bekannt wurde, hatte die Bonner Behörde Strafanzeige gegen mehrere Personen wegen Marktmanipulation gestellt.
Die Aufsicht verwies später darauf, dass sich die Anzeige in Teilen "gegen Unbekannt" gerichtet habe, also auch gegen mögliche Insider innerhalb des Wirecard-Konzerns. Was die Bafin verschwieg: In der Anzeige wurden auch konkrete Beschuldigte benannt: kein Wirecard-Manager, dafür aber die zwei Journalisten der FT. Ein neutraler Blick sähe anders aus. Die Bafin-Aufseher hegten den Verdacht, dass Spekulanten in Form einer Short-Attacke den Kurs der Wirecard-Aktie manipuliert haben könnten, im Wissen um bevorstehende kritische Presseartikel.
Doch Insidern kam das Handeln der Bafin schon früh spanisch vor. So offenbarte die Anzeige der Aufsicht eine erstaunliche Unkenntnis über die journalistische Arbeitsweise. Beispielsweise störten sich die Beamten der Behörde daran, dass die FT-Reporter mit einigen Tagen Zeitverzug mehrere Artikel hintereinander absetzten - was ein übliches journalistisches Vorgehen ist, um breit recherchierte Informationsmengen in verarbeitbare Pakete aufzuteilen.
Auch wollte die Aufsicht die Handelsaktivitäten an der Börse intensiv untersucht haben: Demnach soll es bereits vor Erscheinen des ersten Artikels zum auffälligen Aufbau von Leerverkaufspositionen gekommen sein. Tatsächlich zeigte ein genauerer Blick in die Börsendaten jedoch, dass die Leerverkaufspositionen gegen die Wirecard-Aktie vor allem nach Erscheinen der ersten kritischen Artikel aufgebaut worden waren, nicht davor.
Chefin der Wertpapieraufsicht verantwortet Angriff auf Presse
Pikant ist, wer die Anzeige bei der Bafin verantwortet: Es ist Exekutivdirektorin Elisabeth Roegele, die Chefin der Wertpapieraufsicht. Sie hatte bereits in ihrem alten Job als Chefjuristin der Deka-Bank, der Fondsgesellschaft der Sparkassen, keine gute Figur gemacht. Ihr Haus hatte 2010 rechtswidrige Aktiengeschäfte getätigt, Cum-Ex-Deals genannt, an denen sich Banken und Investoren auf Kosten des Steuerzahlers bereichert hatten.
Roegele weiß früh darüber Bescheid. Später sagt sie: "Ich halte Cum-Ex-Geschäfte für rechtswidrig, damals wie heute." Die Deals der DekaBank während ihrer Amtszeit seien quasi versehentlich passiert. Es gibt viele Beobachter, die daran Zweifel hegen. Auch unter Bafin-Beamten sind Roegele und ihr Bereich umstritten. 2016, ein Jahr nach Roegeles Amtsantritt, hatten Beamte bereits erstaunliche Mutmaßungen über die Wirecard-Kritiker hinter dem "Zatarra"-Report angestellt:
Auffällig ist, dass die verdächtigen Personen (…) dem Anschein nach einen recht einheitlichen kulturellen Hintergrund haben - überwiegend israelische und britische Staatsangehörige. Daher ist nicht auszuschließen, dass es sich um eine netzwerkartige Struktur (Insiderring) handelt."
Wie man von britischer und israelischer Nationalität schnurstracks auf verbrecherische Cliquenbildung schließt, erklärt die Bafin nicht.
Die Anzeigen der Bafin bleiben 2019 nicht ohne Folgen: Die Münchner Staatsanwaltschaft nimmt Ermittlungen gegen die FT auf. Die Zeitung sieht sich plötzlich in die Defensive gedrängt, viele Kleinanleger reagieren erleichtert. Erst die KPMG-Sonderprüfung ab Herbst 2019, eingesetzt auf Druck des neuen Investors Softbank und des neuen Aufsichtsrats Thomas Eichelmann, ebnet den Weg zur Aufklärung.
Staatsanwaltschaft leistet Abbitte
Erst lange nach dem Absturz, im September 2020, werden die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München gegen die FT eingestellt. Es hätten sich keine hinreichenden Anhaltspunkte gefunden, die die Verdachtsmomente hätten stützen können. Die Berichterstattung der beiden Journalisten sei grundsätzlich zutreffend und "jedenfalls vom Standpunkt der damaligen Informationslage aus weder falsch noch irreführend" gewesen, erklärt die Staatsanwaltschaft. Unmittelbare Kontakte mit sogenannten Shortsellern seien nicht festgestellt worden.
Mit dieser Begründung leistet die Staatsanwaltschaft ein Stück weit Abbitte und erkennt an, dass die beiden Journalisten das getan hatten, was eigentlich Aufgabe der Finanzaufsicht Bafin und der Wirtschaftsprüfer von EY gewesen wäre: Wirecards Lügengebäude mit tiefgehenden Recherchen ins Wanken zu bringen.
Die Münchner Staatsanwälte hatten die Ermittlungen gegen die FT auf Betreiben der Bafin eröffnet - und verweisen bei der Einstellung des Verfahrens denn auch explizit auf die "von der Bafin aufgeworfenen Verdachtsmomente".
Felix Holtermann: Geniale Betrüger. Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt, 320 Seiten, Westend Verlag.