Wirtschaft: Die USA hängen ihre europäischen Verbündeten ab

Mediensplitter (28): Ukraine-Krieg vertieft Abhängigkeiten. Europa hat an Macht und Einfluss verloren. In einem Sektor führt es noch.

Europa ist gegenüber den USA ins Hintertreffen gelangt, die Abhängigkeit der europäischen Länder vom großen transatlantischen Partner werde immer bedenklicher, warnt ein Artikel der dieser Tage in der Financial Times veröffentlicht wurde. Er bestätigt verbreitete Ängste vor einem Wohlstandverlust in Deutschland und anderen europäischen Ländern.

Auf Deutsch ist der Meinungs-Artikel im Wirtschaftsmagazin Capital nachzulesen. Geschrieben hat ihn Gideon Rachman, der lange Jahre bei The Economist gearbeitet hat und 2016 gewann den Orwell Prize für politischen Journalismus. Ein Mann also mit Expertise.

Großer Vorsprung der USA

Geht es nach Rachmans gnadenlosen Blick, so haben die USA wirtschaftlich einen derart großen und weiter zunehmenden Vorsprung vor den Volkswirtschaften der EU oder Großbritanniens ausgebaut, dass sich jeder realistische Plan für eine "strategische Autonomie" der EU bis auf Weiteres erledigt hat. Dafür sind laut Rachmans Analyse die Abhängigkeiten von den USA zu groß.

Bevor diese aufgezählt werden, soll hier noch die Fallhöhe zum Absturz, von dem Rachman berichtet, erwähnt werden. "Noch im Jahr 2008", so schreibt er, "hatten die Wirtschaftsräume der EU und der USA annähernd die gleiche Gewichtsklasse".

Er bezieht sich hier auf einen Bericht des European Council on Foreign Relations (ECFR), der im April dieses Jahres bereits von einer "Vassalisierung" Europas in Folge der Transformationen durch den Ukraine-Kriegs kündete. Dort wird anhand von Zahlen zum Bruttoinlandsprodukt (Quelle: Statistic Times) folgende Lage geschildert:

Die USA sind in den letzten 15 Jahren deutlich stärker gewachsen als die EU und das Vereinigte Königreich zusammen. Im Jahr 2008 war die Wirtschaft der EU etwas größer als die der USA: 16,2 Billionen US-Dollar gegenüber 14,7 Billionen US-Dollar.

Bis 2022 war die US-Wirtschaft auf 25 Billionen US-Dollar angewachsen, während die EU und das Vereinigte Königreich zusammen nur 19,8 Billionen US-Dollar erreicht hatten. Die Wirtschaft der USA ist jetzt fast ein Drittel größer.

Sie ist mehr als 50 Prozent größer als die EU ohne das Vereinigte Königreich.

ECFR

Die Währung, die hier den Maßstab abgibt, gehört zu den wirtschaftlichen Abhängigkeiten, die im FT-Artikel erwähnt werden. Der US-Dollar wird dort als "Wunderwaffe" bezeichnet, mit dessen Status als Reservewährung der Welt sich eine Menge finanzieren lasse, "ohne die Märkte sonderlich zu beunruhigen".

Kapital der USA

Europa, das im Vergleich zu den USA weitaus weniger Geld zur Verfügung habe, hänge vom Kapitalmarkt in den USA ab. Bei jeder großen Anlage lande man stets bei US-amerikanischen Investoren, wird Paul Achleitner, ehemaliger Aufsichtsratschef der Deutschen Bank zitiert.

Nicht weiter erklärt werden muss die Abhängigkeit der Europäer von Energie-Importen, indessen die USA über eigene Reserven verfügen. Nach dem Ausfall der russischen Lieferungen würden europäische Unternehmen für ihren Energiebedarf in der Regel drei- oder viermal so viel wie ihre US-amerikanischen Konkurrenten bezahlen.

Zur Abhängigkeit von Energielieferungen aus anderen Ländern (auch aus den USA) und Kapital aus den USA kommt noch die Abhängigkeit vom militärischen Schutz der Supermacht, so Rachman. Damit nicht genug. Dazu kommen noch Probleme der Industrie und ein starkes Zurückfallen auf dem Feld der Technologie.

Wenn es um Technologie geht, dominieren in Europa US-amerikanische Unternehmen wie Amazon, Microsoft und Apple. Die sieben nach Marktkapitalisierung größten Tech-Konzerne der Welt kommen alle aus den USA.

Es gibt in den Top 20 dieser Kategorie nur zwei europäische Unternehmen: ASML und SAP. Während es China gelungen ist, seine eigenen Techgiganten aufzubauen, werden europäische Spitzenreiter oft von US-Konzernen übernommen.

Gideon Rachman

Auch in der Industrie zeige sich ein großer Abstand. Als Marker dafür nimmt der Wirtschaftsjournalist die Halbleiterproduktion: "Im Jahr 1990 produzierte Europa noch 44 Prozent aller Halbleiter auf der Welt. Heute sind es noch neun Prozent, wohingegen die USA auf 12 Prozent kommen".

Europa: Führend im Lifestyle

Die Pointe des Artikels läuft darauf hinaus, dass Europa nur noch eine führende Rolle dort habe, wo es um Lifestyle geht. "Fast zwei Drittel aller touristischen Reisen auf der Welt führen nach Europa. Der Markt für Luxusgüter wird von europäischen Konzernen beherrscht."

Das Leben in Europa über große Anziehungskraft aus, aber möglicherweise sei die Sicherheit, in der sich die Europäer wähnen, auch ein Grund dafür, dass man auf dem alten Kontinent nicht genug Willen aufbringe, "um sich gegen seinen Verlust an Macht, Einfluss und Reichtum zu stemmen".

Ist eine unternehmerfreundliche Politik, wie sie viele fordern, die Lösung?

Das scheint der Meinungsbeitrag nahezulegen. Er ist aus einer Perspektive geschrieben, die das wirtschaftliche Wohlergehen von der hohen Warte aus bewertet. Ein anderes Gefälle kommt nicht zur Sprache.

Was fehlt

Es gibt einen blinden Fleck im Lagebild, wie es hier vorgelegt wird. Es gibt auch noch die Bevölkerung. Und da gibt es große Untrschiede zischen Europa und den USA. Während Menschen, die wenig Geld haben, an der Armutsschwelle leben oder vor dem Ende des Monats pleite sind, in den meisten europäischen Ländern mit Sozialleistungen rechnen können - und mit einer Gesundheitsvorsorge -, sieht das bei der Wirtschaftssupermacht USA anders aus.

Sozialleistungsempfänger oder in Menschen in schwierigen finanziellen Verhältnissen gehören aber nicht zur Leserschaft der Financial Times, deren Wochenendausgabe häufig das HTSI-Magazin beiliegt. Die Abkürzung steht für "How to spend it", frei übersetzt auf Deutsch: "Wie kann ich mein Geld am besten ausgeben."

Wer ein Schloss ("Chateau") sucht, wird auf den Immobilienseiten der Wochenendausgabe unter "Without Borders" fündig. Ein paar Millionen Euro, Pfund oder US-Dollars braucht es dafür schon.

Die Angst wohnt woanders.