Wissen ist Macht
Seite 2: Die Welt steht Kopf
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Wer Fantasy nicht mag, könnte es mit Game of Thrones trotzdem mal probieren. Da ist für jeden etwas dabei. Die Anleihen sind zahlreich und meistens auch interessant, wenn man sie zu den Werken in Beziehung setzt, von denen etwas geborgt wurde. Ivanhoe ist genauso ein Leihgeber wie Prinz Eisenherz, Macbeth oder Die Nibelungen. Mich als Liebhaber des Schaffens von Orson Welles hat besonders gefreut, dass Martin Inspiration bei den zwischen den englischen Adelshäusern York und Lancaster ausgetragenen Rosenkriegen gefunden hat. Five Kings (1939), ein aus den um die Rosenkriege kreisenden Historiendramen William Shakespeares komponiertes Bühnenspektakel, war eines von Welles’ ambitioniertesten Projekten und eine seiner bittersten (und ehrenvollsten) Niederlagen. 1965 machte er daraus einen seiner größten Triumphe, einen genialen Film über den Krieg, die Freundschaft und die korrumpierende Wirkung der Macht: Chimes at Midnight.
Stilbildend für Shakespeare-Verfilmungen und Ritterkämpfe waren lange Zeit Richard III. und Henry V. von Laurence Olivier. Bei Olivier ist der Krieg ein ästhetisches Erlebnis. Seine Ritter treffen sich auf gepflegten englischen Rasenflächen, als würden sie auf einem Golfplatz gegeneinander antreten. Welles kann damit nichts anfangen. Bei ihm ist das Aufeinanderprallen zweier Ritterheere in der Schlacht von Shrewsbury ein schmutziges Gemetzel. Wenn man das einmal gesehen hat, vergisst man es nicht mehr. Polanskis Macbeth und Branaghs Henry V. würden anders ausschauen, wenn es Welles’ Meisterwerk nicht gäbe. Auch Game of Thrones verdankt ihm, direkt oder indirekt, eine ganze Menge. Das mag überraschen, weil Welles aus geringsten Mitteln sehr viel machte, während kaum ein Artikel über die Serie ohne den Hinweis auf die hohen Produktionskosten auskommt. Bei der ersten Staffel sollen es mehr als 50 Millionen Dollar gewesen sein.
Ein bisschen wundere ich mich schon über die Ausdauer, mit der in solchen Artikeln die Statistenheere bemüht werden, die sich in Bewegung setzen, wenn die Starks gegen die Lannisters ins Feld ziehen. Diese sind mehr der suggestiven Wirkung von Pressemeldungen geschuldet als den realen Gegebenheiten. Ein beachtlicher Teil des Budgets dürfte in die im Computer generierte Welt von Westeros geflossen sein. Ich habe nicht durchgezählt, würde aber schätzen, dass in keiner Einstellung mehr als fünfzig Komparsen zu sehen sind (höchstens beim Turnier sind es ein paar mehr). Das ist kein Schaden. Wer tatsächlich ein Heer von Statisten zur Verfügung hat, muss darauf achten, sie auch zu zeigen, um es sich nicht mit Financiers und Buchhaltern zu verderben. Das sind Zwänge, mit denen die wenigsten Regisseure sinnvoll umgehen können. Umgekehrt sind ohne Statistenheer kreative Lösungen verlangt, was einem Film oft gut tut. Das gilt auch für Game of Thrones.
Welles spielt in Chimes at Midnight den Falstaff, seine Paraderolle. In Game of Thrones gibt es nicht eine Falstaff-Figur, sondern deren zwei. Die eine, den fett gewordenen Säufer Robert Baratheon, verkörpert Mark Addy unter Einsatz seiner ganzen Leibesfülle; die andere der kleinwüchsige Peter Dinklage als Tyrion Lannister. Dinklage hat eine der besten Rollen, viele der besten Dialoge, und wenn Drehbuch und Regie witzige Einfälle hatten (und gelegentlich sogar der eher ernste Romanautor George R. R. Martin), ist Tyrion auch meistens beteiligt. So ist er etwa, als eifriger Bücherleser, für die Shakespeare’schen Anachronismen zuständig (am berühmtesten: im zweiten Akt von Julius Caesar läutet eine Kirchenglocke). Einmal macht er sich über die Mauer im Norden lustig, die vor Grumkins und Snarks schütze. Ein Grumkin ist ein Phantasiewesen aus Kindergeschichten. Den Snark, vielleicht eine Mischung aus Schnecke (snail) und Hai (shark), falls er nicht doch ein Boojum ist, hat Lewis Carroll erfunden. Wo Tyrion Carrolls 1876 veröffentlichte Ballade The Hunting of the Snark wohl gelesen hat?
Mit literarischen Anspielungen ist stets zu rechnen, wenn Tyrion auftritt. Das wird gleich in Episode 1 klargestellt, wenn man erfährt, dass er den Spitznamen "the Imp" (Gnom) trägt, wozu einer Hure "alle Arten von Perversion" einfallen. "The Imp of the Perverse" ist der Titel einer Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe und eine Metapher dafür, dass man in einer Situation das Falsche tut, weil man es kann (Tyrion wird darüber mehrfach philosophieren, und sein innerer Imp of the Perverse wird ihn in schwierige Lagen bringen - zum Beispiel in eine abschüssige, zum Abgrund hin offene Zelle in der Bergfestung der Arryns). Eine Fernsehserie mit Lektüreanregungen, die über das adaptierte Werk hinausgehen: Wann kriegt man so etwas schon mal geboten? Tyrions Credo: "Der Verstand braucht Bücher wie das Schwert den Schleifstein." Das sind mehr als schöne Worte. In der Serie wird regelmäßig durchgespielt, wie wichtig es ist, sich zu informieren, die erhaltenen Informationen kritisch zu hinterfragen und mit anderen Meinungen abzugleichen.
Aber eigentlich waren wir beim Krieg. Welles’ Falstaff gelingt es in Chimes at Midnight nicht, an diesem teilzunehmen, weil er zu schwer für den Kran ist, der ihn aufs Pferd hieven soll (so wie König Robert in Game of Thrones nicht beim Turnier mitmachen kann, weil er zu dick für seine Rüstung ist). Tyrion ist zu klein. Auf Anordnung seines Vaters soll er die von ihm angeworbenen Clans des Hochlands in die Schlacht gegen die Starks führen. Er hält eine Motivationsrede, die Kämpfer rennen los und ihn dabei um. Tyrion verliert - anders als im Roman - das Bewusstsein. Die nun beginnende Schlacht wird einfach übersprungen. Danach steht die Welt auf dem Kopf. In der oberen Bildhälfte liegen Leichen, als könnten sie fliegen und wären zum Himmel aufgestiegen. In der unteren Hälfte ist ein Fluss zu sehen. Im Wasser spiegeln sich Reiter. Das sieht schön aus, ist in seiner Komponiertheit eine ferne Erinnerung an den Krieg als ästhetisches Erlebnis bei Olivier.
Dann wird das schöne Bild als Illusion entlarvt. Wir sind - im wahrsten Sinn des Wortes - zurück auf dem Boden der Tatsachen, in der grausigen Realität. Der Söldner Bronn wischt sich das Blut vom Schwert. Auch sein Gesicht ist mit Blut bespritzt. Tyrion kommt zu sich, weiß nicht genau, wo er sich befindet. Vielleicht doch im Himmel, oder in der Hölle. "Ich bin am Leben?" fragt er ungläubig. "Haben wir gesiegt?" Bronns Antwort: "Wenn nicht, würden wir dieses Gespräch nicht führen." Dann erfahren wir, was das bedeutet. Überall sind Schreie zu hören. Gefangene werden nicht gemacht, die noch lebenden Verlierer stattdessen brutal abgeschlachtet wie am schockierenden, von Chimes at Midnight beeinflussten Anfang von Polanskis Macbeth. Man braucht gar kein Statistenheer, um zu zeigen, was ein Gemetzel ist. Ohne Heer ist sogar viel besser, weil man nicht in die Versuchung gerät, sich auf den Feldherrnhügel zu stellen (oder, moderner, die abstrahierende Perspektive des Piloten im Kampfflugzeug einzunehmen), um von da das Spektakel zu genießen. Und weil in Game of Thrones selten etwas so ist, wie es scheint, haben die Lannisters die Schlacht im Grunde nicht gewonnen, sondern verloren. Diese Serie ist nicht anspruchsvoll, weil man sich so viele Figuren merken muss wie bei einem russischen Roman, sondern weil sie tradierte Wahrnehmungsmuster auf den Kopf stellt und problematisiert.
Kämpfen und Ficken
Ein Problem habe ich nach Staffel 1 mit dem Dothraki- und Daenerys-Teil. Martin hat auch eine aus diesen Kapiteln kompilierte Erzählung veröffentlicht, Blood of the Dragons. Das ist nicht unbedingt ein gutes Zeichen. In der Tat erscheinen mir Dany (Emilia Clarke mit blonder Perücke und dafür von der Zeitschrift Entertainment Weekly mit einem Schauspielpreis bedacht) und Drogo schlecht in den Hauptteil der Handlung integriert, stören sie den Lesefluss. Beim Nibelungenlied ist das besser gelöst. Kriemhild heiratet den Hunnenkönig Etzel, weil der ihr dabei helfen soll, den Mord an Siegfried zu rächen, und bald danach rücken die Burgunder an, damit die Tragödie ihren Lauf nehmen kann. Dany heiratet Drogo, damit er mit seiner Horde dabei hilft, den Thron von Westeros für die Familie Targaryen zurückzuerobern. Wären sie und ihr Bruder Viserys so belesen wie Tyrion, dann wüssten sie aus dem Nibelungenlied (Tipp: mal Die Nibelungen von Fritz Lang anschauen, wenn sich eine Gelegenheit ergibt; einen Drachen hat Lang auch), dass das so nicht gelingen wird. Jedenfalls schleppt sich die Sache erst mal hin, weil zunächst eine Emanzipationsgeschichte erzählt werden muss, in der die dominanten Männer entfernt werden, damit Dany lernen kann, selbst ihre Frau zu stehen.
Beim Lesen beschlich mich der Verdacht, dass Daenerys und ihr Coming out als Drachenfrau mehr mit wirtschaftlichem Kalkül als mit der inneren Logik des Romans zu tun haben, dass Dany das Fantasy-Element stärken und ein weibliches Marktsegment abdecken soll, das mit Rittern schwer zu ködern ist. Inwieweit das mit einer Heldin klappen kann, die von einem Nachfahren von Conan dem Barbaren gekauft und jede Nacht vergewaltigt wird, ehe sie ihn lieben lernt (irgendwie ist das noch mit dem Mutterinstinkt verknüpft, was bei Elisabeth Badinter Schreikrämpfe auslösen müsste), vermag ich nicht zu beurteilen. Ich als Nicht-Frau war froh über Ser Jorah Mormont an Danys Seite - nicht weil er ein Mann mit Schwert, sondern weil er die komplexere Figur ist. Und Iain Glen, der ihn in der Serie spielt, ist sowieso immer gut.
Bei den Nibelungen heißt Ser Jorah Dietrich von Bern. Martin hat noch einen Schuss Robin Hood beigemischt. In Nottingham ist die angelsächsische Bevölkerung durch den Hunger zum Wildern gezwungen, was zu Repressalien durch die Normannen führt. Ser Jorah hat die Wilderer nicht umgebracht, sondern aus Geldnot (Cherchez la femme!) an Sklavenhändler verkauft, was gegen die Gesetze verstieß. Entehrt und von Ned Stark strafrechtlich verfolgt, musste er aus der Heimat fliehen. Jetzt möchte er zurück nach Hause, und weil sich ihm plötzlich mehrere Möglichkeiten dazu eröffnen (Verrat ist auch mit dabei), muss er überlegen, welche davon er ergreifen soll. Ein "Ser" ist übrigens ein Ritter und führt ein "e" in seinem Titel, weil er sonst ein "Sir" wäre wie in England (so wie der Reiterfürst der Dothraki ein Khal mit "l" ist, um sich von Dschingis Khan abzugrenzen).
Die Macher der Serie, würde ich sagen, hatten auch das Gefühl, dass der Daenerys-Teil etwas in der Luft hängt. Deshalb haben sie die Parallelen zwischen der Westeros- und der Essos-Handlung stärker herausgearbeitet als Martin im Roman. Viserys verschachert seine Schwester Dany an Khal Drogo, um König zu werden und gleichzeitig wird Sansa, die älteste Tochter von Ned Stark, mit Prinz Joffrey verlobt. Das hat ein bisschen mit Sentimentalität zu tun (König Robert wollte Neds Schwester heiraten, die dann entführt und umgebracht wurde) und sehr viel mit Machtpolitik. Viserys taxiert Danys Körper, um zu sehen, ob man sie schon als vollwertige Frau verhökern kann und Königin Cersei will von ihrer zukünftigen Schwiegertochter Sansa vor allem wissen, ob sie schon die Periode hat. Für die Realpolitiker ist Sansa nicht als Mensch interessant, sondern als potentielle Mutter eines Thronfolgers, weshalb Cersei (Lena Headey, die Königin der Spartaner in 300) von Anfang an daran denkt, sie abzuservieren, falls sie nur Töchter gebären sollte.
In so einer Welt sind paradoxerweise diejenigen am ehrlichsten, die von sich selber sagen, dass man ihnen nicht trauen darf wie Petyr "Littlefinger" Baelish (Aiden Gillen aus The Wire), Mitglied im Thronrat des Königs von Westeros. "Nur indem wir zugeben, was wir sind", sagt er einmal, "können wir bekommen, was wir haben wollen." Baelishs Spitzname müsste eigentlich "Mittelfinger" sein, weil er diesen einer Gesellschaft zeigt, deren Zynismus er durch den eigenen grell beleuchtet und damit decouvriert. Dabei ist er im Grunde ein Romantiker. Baelish liebt seit früher Jugend Catelyn Stark (geborene Tully), die aber, weil politisch opportun, Neds älterem Bruder versprochen war und nach dessen Tod von Ned geheiratet wurde, der auch diesbezüglich an die Stelle des Toten trat. Das passt gut zu König Robert, der immer nur mit Neds toter Schwester schlafen wollte und in der Hochzeitsnacht mit Cersei deren Namen murmelte, weshalb die Königin ihn seit damals hasst. (Habe ich schon erwähnt, dass das eine Serie für Erwachsene ist und nicht für Kinder?)
Baelish, könnte man sagen, hat seine pubertären Frustrationserlebnisse ein wenig überkompensiert und betreibt jetzt in der Hauptstadt King’s Landing mehrere Luxusbordelle, wo selbst die ausgefallensten Wünsche sogleich erfüllt werden (kein Wunder, dass auch Nekrophile bei ihm Kunde sind). In Episode 7 dürfen wir mit dabei sein, wie er Ros, die Hure aus Winterfell und eine Berufskollegin in der hohen Kunst der Prostitution unterweist. Der Freier muss vergessen, dass Lust und Orgasmus nur gespielt sind, obwohl er eigentlich weiß, dass es so ist. Wenn man das auf das politische Leben überträgt, hat man schon viel von den gesellschaftlichen Zusammenhängen verstanden, vom Erringen und Bewahren der Macht. Seit Baelish gegen edle Recken wie die Starks den Kürzeren zog, weil sie größer und stärker waren als er, hat er gelernt, wie sie und Ihresgleichen zu besiegen sind: "I’m not going to fight them. I’m going to fuck them."
Dieses schöne Wortspiel hätte Petyr Baelish im herkömmlichen US-Fernsehen nie machen können, weil man ihm da das Ficken (unanständig) weggepiept hätte. Die Prüderie der amerikanischen Medien (das Erbe der Puritaner etc., die gar nicht so puritanisch waren, wie man denkt) ist bekannt und manchmal unfreiwillig komisch. Für Sexualforscher ist das ein reiches Betätigungsfeld. Noch in den 1980ern liefen Werbespots, in denen die Damen unter dem Büstenhalter einen Pullover trugen, weil BHs auf nackter Haut verboten waren. Generationen von Zuschauern wuchsen mit so etwas auf, die Folgen sind nicht zu unterschätzen.
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