Wissen ist Macht
Seite 4: Pulverisierte Illusionen
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Beim Sehen von Game of Thrones verstärkte sich bei mir der Eindruck, dass die Gewalt, die Nacktheit und der Geschlechtsverkehr davon ablenken sollen, dass einige heilige Kühe der Amerikaner geschlachtet werden, nicht zuletzt die Familie. Vor Beginn der Handlung macht Jon Arryn, die rechte Hand des Königs, dessen "Bastarde" ausfindig, also die außerehelich gezeugten Kinder. Weil die alle dunkelhaarig sind wie der Vater, lüftet Arryn das Geheimnis von Cerseis blonden Kindern. Darum wird er von den Lannisters ermordet. Das ist der Ritterkrimi, der durch das Drama wabert, ohne von Drehbuch und Regie besonders erst genommen zu werden. Das Ganze folgt demselben Prinzip wie Poes Geschichte vom entwendeten Brief ("The Purloined Letter"). Der Brief wird trotz intensiver Suche nicht gefunden, weil er offen auf dem Tisch liegt, statt versteckt zu sein. Von den Krimielementen in Game of Thrones abgelenkt (Giftmord, Haarfarbe als Indiz etc.), übersieht man leicht, was nie verborgen war. König Robert hat viel mehr uneheliche Kinder, von stets wechselnden Frauen, als eheliche (und die sind nicht von ihm). Was bleibt da noch von Ehe und Familie, außer einer leeren Hülle?
Zum Entsetzen mancher Feministin macht sich inzwischen wieder ein angeblich von der Natur diktiertes, dabei aber doch nur ideologisch vorgeprägtes Idealbild von der Mutter breit, das die Frau zur ständigen körperlichen Präsenz verpflichten soll, zum Stillen für mindestens ein Jahr, weil der Säugling sonst in seiner Entwicklung Schaden nehme. Game of Thrones hält dazu einen Kommentar bereit, der den Konservativen nicht gefallen wird. In Episode 5 sucht Catelyn ihre Schwester Lysa, die Witwe von John Arryn, in der Felsenburg auf, in die sie nach Arryns Tod mit ihrem Sohn Robert geflohen ist. Lysa hat eine paranoide Störung und will sich nur noch dem Wohl des Kindes widmen. Darum geht sie nicht mehr aus dem Haus, und sie gibt dem Jungen noch die Brust. Robert ist sechs Jahre alt und das Pendant zu Prinz Joffrey, dem ich-zentrierten Thronprätendenten mit den Zügen eines Psychopathen. Ob es sich bei Klein-Roberts Zustand um einen genetischen Defekt handelt, ob er das Resultat einer verfehlten Erziehung ist oder ob durch eine Überdosis Muttermilch das Kinderhirn vergiftet wurde, bleibt offen.
Als ich ein Kind war, lief sonntags im ZDF die zur Zeit der Weltwirtschaftskrise spielende Serie Die Waltons. Das Leben der Baptisten war nicht immer leicht, aber wenn die Nacht hereinbrach hatte sich die Familie im Haus versammelt und John-Boy (garantiert im Dunkeln und in Missionarsstellung gezeugt) notierte Besinnliches in sein Tagebuch, damit der Zuschauer gut schlafen konnte. Solche Familienidyllen mit hohem Einlullfaktor werden von Game of Thrones pulverisiert. Jon Arryn findet die Wahrheit über die Kinder der Eheleute Robert und Cersei Baratheon heraus, und weil er deshalb von Familie Lannister ermordet wird, muss Ned Stark die neue rechte Hand des Königs werden, der ihn gern als Bruder haben will, weil er seine echten Brüder nicht leiden kann. Neds eigene Familie wird dadurch zerrissen und nie mehr so zusammenkommen, wie sie am Anfang einmal war. Die beiden Töchter, Sansa und Arya, begleiten Ned nach King’s Landing, die drei Söhne bleiben mit Catelyn in Winterfell und Jon, Neds eigener "Bastard", wird zur Night’s Watch abgeschoben, weil ihn Catelyn nicht um sich haben will. Kein Waltons-Idyll für die Starks.
Die kleine Arya ist die sympathischere der beiden Töchter. Ein Mädchen will sie eigentlich nicht sein. Sie ist aufmüpfig und unangepasst, hasst Stickarbeiten, ist eine bessere Bogenschützin als ihr Bruder Bran und nimmt Unterricht beim Fechtvirtuosen Syrio Forel, damit sie einmal gegen die Tyrannen kämpfen kann. Letzteres kenne ich von Stewart Granger in Scaramouche. Hier gilt die alte Regel: Nicht ob man klaut oder nicht ist wichtig, sondern was und von wem. Martin hat wie üblich eine gute Wahl getroffen. Da gibt es nichts zu meckern. Die interessantere Figur ist trotzdem Sansa. Sie will Prinzessin und dann Königin werden, und dafür denkt sie sich Prinz Joffrey schön, der ein größenwahnsinniger Sadist und Feigling ist. In der ersten Staffel muss sie das mit einem schmerzhaften Prozess der Desillusionierung bezahlen.
Die Desillusionierung steht überhaupt ganz weit oben auf der Agenda dieser Serie. Nehmen wir das Turnier am Hof von König Robert. Solche Turniere kennt man aus Ivanhoe et al. Wackere Recken treten gegeneinander an, um den Ehrenpreis und die Gunst einer holden Frau zu erringen. In Game of Thrones ist auch davon nur noch die Fassade übrig. Die Lannisters nutzen das Spektakel, um einen Zeugen ihrer Verbrechen durch einen als Unfall inszenierten Mord aus dem Weg zu räumen. Sansa ist fasziniert von Ser Loras Tyrell, einem Schönling in Blumenrüstung, dem es prompt gelingt, den riesenhaften und als unbezwingbar geltenden Ser Gregor Clegane im edlen Wettstreit aus dem Sattel zu werfen. Dumm nur, dass der Wettstreit so edel gar nicht war, weil Ser Loras einen fiesen Trick angewandt hat (die Fleischeslust, diesmal in der heterosexuellen Variante, spielt eine Rolle) und dass Ser Gregor ein jähzorniger Mensch und schlechter Verlierer ist, weshalb wieder Blut spritzt. Was Sansa auch nicht weiß: Ser Loras ist schwul und der Liebhaber von Lord Renly Baratheon, dem jüngsten Bruder des Königs.
Nach dem Turnier entspannt sich das Paar in seiner Kemenate. Ser Loras hilft Lord Renly bei der Körperrasur und taucht dann in den Bereich unterhalb des Bildausschnitts ab, um den Lord oral zu befriedigen. Im Roman gibt es das nicht. Viele Zuschauer in den USA, wo man sich erst noch zu der Einsicht durchringen muss, dass auch ein Spitzenpolitiker schwul sein kann, hat die Szene nachhaltig verstört. In den meisten Inhaltsangaben, die ich gelesen habe, werden Gewalttaten und Intrigen beschrieben, das Schäferstündchen der beiden Ritter hingegen nicht. Die klassische Verdrängung. Ich persönlich finde am interessantesten, dass König Robert für die Ausrichtung des Turniers einen weiteren Kredit bei den Lannisters aufnehmen muss (die Staatskasse ist leer), bei denen er sowieso schon bis über beide Ohren verschuldet ist. In einem durch teure Kriege physisch, psychisch und finanziell ausgeblutetem Land sind die Lannisters noch reicher geworden als zuvor. Der naive Ned Stark denkt bis zum Schluss, dass Robert gegen diese vorgehen wird, wenn er die Wahrheit erfährt und kapiert nicht, dass der König das gar nicht kann, weil er finanziell von ihnen abhängig ist. Das ist hochaktuell und viel spannender als die Frage, wer mit wem in welcher Stellung Sex hat und ob wir in Staffel 2 den Blowjob auch sehen und nicht nur hören dürfen (oder müssen, je nach Präferenz und Aufgeschlossenheit). Die besten HBO-Serien haben gemeinsam, dass sie auch vom schleichenden Niedergang der Weltmacht USA erzählen und nach Gründen dafür suchen. Sie finden unter anderem die Korruption und die Ignoranz, in den unterschiedlichsten Varianten.
Der Winter kommt
Sehr gelungen ist die Titelsequenz von Game of Thrones. Die Kamera fliegt über eine bewegliche Landkarte von Westeros und Essos, zeigt die Welt als Räderwerk. Ned Stark und Robert Baratheon, die Helden vergangener Kriege, begreifen zu spät, dass alles mit allem zusammenhängt und das kleinste Rädchen oft die größte Wirkung hat. Präventivschläge und gezielte Tötungsaktionen in fremden Ländern wecken schlafende Ungeheuer. Lord Varys - Eunuch, Herr über tausend Spitzel und Chef der Geheimpolizei von Westeros, der, sagt er wenigstens, für das Reich nur das Beste will (wer da wohl Pate stand?) - erhält die Nachricht von Danys Schwangerschaft. Da könnte ein neuer Targaryen-Erbe heranwachsen, der den Baratheons vielleicht irgendwann den Thron streitig macht. König Robert ordnet Danys Ermordung an. Das Attentat schlägt fehl. Khal Drogo, bisher kein Freund einer Invasion, will Rache und Westeros nun doch erobern. Weil er dafür Schiffe braucht, und weil Schiffe Geld kosten, zieht er plündernd und mordend durch Essos. Die Frauen der eroberten Siedlungen werden vergewaltigt und sollen an Sklavenhändler verkauft werden. Weil dabei aber der Tempel einer anderen Kultur geschändet und weil religiöse Gefühle verletzt werden … man sehe selbst.
Auch Ned setzt eine fatale Kettenreaktion in Gang, über die er schnell die Kontrolle verliert, weil er an den schlichten Verhaltensmustern von gestern festhält, statt eine komplex gewordene Realität zu akzeptieren und sich um ein informationsgestütztes, die Folgen berücksichtigendes Denken zu bemühen. Das lässt sich auch ökologisch deuten. Der Klimawandel hat in Westeros dramatische Ausmaße angenommen. Ein Sommer dauert nicht mehr Monate sondern Jahre, und im Verlauf der ersten Staffel mehren sich die Vorboten eines strengen Winters, der noch viel länger dauern wird, mit unabsehbaren Folgen. Im Norden hat sich die Redewendung "Der Winter kommt!" eingebürgert. Das ist nicht nur klimatisch gemeint und heißt nichts Gutes. In Umdrehung des Nord-Süd-Konflikts muss sich der Süden auf eine Wanderungsbewegung gefasst machen, auf die er nicht vorbereitet ist. Wer wohl das Brennholz (das Erdöl) liefert, wenn es so richtig kalt wird?
Beim Krieg ums Öl können einem Vater und Sohn Bush einfallen, oder Colin Powell. Als George Bush sen. den Golfkrieg führte und George R. R. Martin die Arbeit an seiner Rittersaga aufnahm, war Powell Chef des Generalstabs. So einer, dachten viele, muss Präsident werden. Er selbst aber traute sich das nicht recht zu, war mehr Soldat als Politiker, wurde schließlich Außenminister unter Bush jun. und machte im neuen Amt nicht die allerbeste Figur, weil er Strippenziehern wie Rumsfeld und Cheney so wenig gewachsen war wie Ned Stark den Lannisters und den Baelishs in Westeros. Für Ned, den Veteranen zweier Kriege mit - zumindest aus seiner Sicht - klaren Einteilungen in Gut und Böse, ist King’s Landing nur ein "Rattennest".
Dieses Ressentiment gegen die Hauptstadt und ihre Politiker, möge sie Washington oder King’s Landing heißen, ist so alt wie die USA. Gerade steuern wir wieder auf einen Wahlkampf zu, in dessen heißer Phase vermutlich auch das Obama-Lager behaupten wird, dass der Präsident mit diesem Rattennest im Grunde nichts zu schaffen hat und endlich aufräumen wird in Washington (das Romney-Lager tut das sowieso). Es ehrt den Roman und die auf ihm basierende Serie, dass beide solchem Populismus eine Absage erteilen. In einer Welt, in der von Fall zu Fall neu verhandelt werden muss, was richtig und was falsch ist, wird ein alter, den hohen Ton der Moral anschlagender Kämpfer wie Ned Stark zum Prinzipienreiter und zum Fossil. Am Ende seiner Amtszeit in King’s Landing stehen der Königsmord und der Bürgerkrieg oder, weniger militärisch formuliert, ein in sich zerrissenes, in viele Fraktionen zersplittertes Land.
Man kann sich der Politik auch auf ästhetischem Wege nähern. Visuell orientiert sich die Serie, was das Leben bei Hof und in der Ritterburg angeht, an der Künstlergruppe der Präraffaeliten und am in deren Stil malenden John William Waterhouse. Die Präraffaeliten und Waterhouse teilten Tennysons Begeisterung für den mythischen König Artus und seine Ritter der Tafelrunde und schufen von dessen Werken (Idylls of the King, "The Lady of Shalott") inspirierte Bilder, die jeder kennt, weil sie uns inzwischen von Schutzumschlägen, Keksdosen und im Museumsshop erworbenen Krawatten anschauen. Doch was haben Maler aus dem 19. Jahrhundert in so einer Fernsehserie verloren? Ganz einfach. Dabei soll einem die als "amerikanisches Camelot" verklärte Präsidentschaft von John F. Kennedy einfallen.
Für Nostalgiker ist das die Zeit, als noch alles gut war in den USA, ohne Vietnam und Watergate und Afghanistan: "ein magischer Moment in der amerikanischen Geschichte, als galante Männer mit schönen Frauen tanzten, als große Taten vollbracht wurden, als sich Künstler, Schriftsteller und Poeten im Weißen Haus trafen und die Barbaren jenseits der Mauer auf Distanz gehalten wurden", wie Theodore H. White in seinem Buch In Search of History schreibt (nicht zu verwechseln mit T. H. White, dessen Fantasy-Roman The Once and Future King Martin manche Anregung verdankt). Game of Thrones gräbt solchen rückwärts gewandten Utopien das Wasser ab. In Westeros, obwohl in das magische Licht der Präraffaeliten getaucht, herrschen die intriganten Realpolitiker, die galanten Männer sind hüftsteife Ex-Soldaten, geschäftstüchtige Bordellbetreiber oder Frauenhelden, die vor der Tür zu Marilyn Monroes Schlafzimmer Schlange stehen würden, wenn diese in King’s Landing schon gesungen hätte, dem einzigen Barden weit und breit wird die Zunge aus dem Mund geschnitten, die schönen Burgfräulein, ob Hure oder von adeligem Geblüt, sind Handelsobjekte, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass es je anders war. Da bleibt nur übrig, sich der Gegenwart und der Realität zu stellen, statt aus ihnen zu entfliehen. Ironischerweise ist das eine der Botschaften dieser Serie, die im scheinbaren Nirgendwo einer Fantasywelt spielt und dabei immer fest in der Wirklichkeit verankert bleibt (mit der Dothraki-Chauvi-Horde als einer Mischung aus den Taliban und marodierenden Söldnerbanden, gepaart mit schlimmen Erinnerungen an My Lai sowie inzwischen auch an Afghanistan und den Irak).
Sollte ich mal einen Roman schreiben, dachte ich mir lange Zeit, müsste er so anfangen wie Gravity’s Rainbow von Thomas Pynchon: "A screaming comes across the sky. It has happened before, but there is nothing to compare it to now." George R. R. Martin, glaube ich, ging es so ähnlich. Bei Pynchon fliegen die Raketen über den Himmel, mit denen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg London beschießen. In Westeros geht das natürlich nicht. Aber es gibt andere Möglichkeiten. Erster Satz von A Clash of Kings, Roman Nummer 2 in Martins Tetralogie: "The comet’s tail spread across the dawn, a red slash that bled above the crags of Dragonstone like a wound in the pink and purple sky."
Mit diesem Kometen verschärft sich die bis dahin aufgebaute Krisen- und Untergangsstimmung. Nach dem zu urteilen, was ich von Staffel 2 gesehen habe, werden die Religionen und deren Repräsentanten eine wichtigere Rolle spielen als bisher. Gleich in der ersten Episode gibt es eine Kindermordaktion, die König Herodes angeordnet haben könnte (man denke beim Kometen auch an den Stern von Bethlehem). Und es kommt zu einer ersten Konfrontation zwischen Königin Cersei und Petyr Baelish, den Meistern der Intrige. Das, was man nicht weiß, sagt Baelish, bringt einen um, und: Wissen ist Macht. Nur Macht ist Macht, setzt Cersei dagegen. Einstweilen ist sie die stärkere, weil sie über die Uniformierten mit den Schwertern gebietet. Baelish wird daraus lernen. Das könnte noch spannend werden.
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