Wissen ist Macht
Seite 3: Sex in Nicht-Missionarsstellung
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Als Anbieter im nicht frei empfangbaren Kabelnetz ist die Firma HBO nicht an die Vorschriften der altväterischen Aufsichtsbehörde FCC gebunden. Das Unternehmen und seine Konkurrenten auf dem Abonnentenmarkt zeigen mehr Sex und Gewalt als je zuvor im US-Fernsehen, das dadurch, sagen die Befürworter, erwachsener geworden ist, weil die Nacktheit und die dosierten Splattereffekte (in Game of Thrones werden Köpfe abgeschlagen und Kehlen durchgeschnitten, und dabei spritzt das Blut) nicht nur den Voyeurismus befriedigen, sondern sinnvoll in die Handlung eingebettet sind. Das habe, liest man oft, die Mainstream-Medien insgesamt verändert und wirke der Infantilisierung des Publikums entgegen.
Diese Feststellung ist so falsch nicht. Die Entwicklung ist aber auch nicht ganz so revolutionär, wie es zunächst den Anschein hat. Die Erotik in den vielgepriesenen neuen US-Serien nimmt merklich zu, je weiter zurück in die Vergangenheit es geht, wird also mit den Mitteln der Chronologie auf Distanz zur Gegenwart gehalten (oder waren die alten Römer, die Dothraki und die Bordellbesucher in King’s Landing schlicht viel triebgesteuerter als die Mafiosi, die Mormonen und die Unterwelt von Baltimore?). Game of Thrones liefert alles, was der erwachsene Zuschauer von einer in einer anderen Epoche angesiedelten HBO-Serie erwartet, und dazu noch ein paar Details, die dem Revolutionären schon recht nahe kommen.
Sibel Kekilli, die seit ihrer Rolle in Gegen die Wand meistens unterfordert ist und von den Drehbuchautoren im Stich gelassen wird, überzeugt als Shae, die Prostituierte mit dem ausländischen Akzent und der mysteriösen Vergangenheit. Beim ersten Auftritt entblößt sie gleich mal ihren Busen, den Rock behält sie an. Andere Frauen in der Serie tun es ihr gleich, zeigen mitunter noch den Hintern, jedoch in aller Regel nicht mehr von der Vorderseite ihres Körpers. Das ist das alte Erfolgsrezept von Roger Corman aus den 1960ern und 1970ern: half frontal nudity. Nackte Brüste immer gern, aber bitte keine Schamhaare (oder, im Zeitalter der Intimrasur: nichts, wo die früher gewesen wären). Bei der Inszenierung wurde sorgfältig darauf geachtet, das einzuhalten. Am meisten Arbeit dürfte Dany gemacht haben, die bei den wilden Dothraki wohnt und darum öfter nackt ist als ihre Kolleginnen. Auch heterosexuelle Frauen kommen auf ihre Kosten. Jason Momoa als Khal Drogo ist größer und athletischer als Arnold Schwarzenegger in seiner Conan-Phase, und wenn er gegen aufmüpfige Krieger kämpfen muss, tut er es mit einer eindrucksvollen Urgewalt. Mich hat das an die Boxfilme aus den ersten fünfzehn Jahren der Kinogeschichte erinnert. Im Publikum saßen überdurchschnittlich viele Frauen, um halbnackte, gut gebaute Männer zu sehen. Aber vielleicht sind die Frauen von heute auch ganz anders. Ich mag mir da so wenig ein Urteil erlauben wie beim bereits erwähnten Masochismus.
Und wo ist das Revolutionäre? Ich habe drei Einstellungen mit einem Penis entdeckt. Beim ersten Mal (Episode 5) muss man genau hinschauen, um es mitzukriegen. Theon Greyjoy, Ned Starks präpotenter Pflegesohn, zeigt ihn uns und Ros im Bordell von Winterfell. Das ist noch sehr vorsichtig, als wolle man sich ganz allmählich an das männliche Glied herantasten. Schön ironisch ist es auch, weil die Hure Ros, die nun von Winterfell nichts mehr erwartet, anschließend in die Hauptstadt reist, um bei Baelish anzuheuern. Der zweite Penis ist schon länger zu sehen. Er gehört dem Weinhändler, der versucht hat, Dany zu vergiften und nackt hinter einem Pferd herlaufen muss, bis er stirbt (Episode 7). Penis Nummer 3 (Episode 8) ist der von Hodor, einem großen, geistig etwas zurückgebliebenen und völlig harmlosen Stallburschen in Winterfell, der nackt im Wald herumläuft.
Die drei Situationen sind interessant. Der sichtbare Penis ist räumlich eingegrenzt. Es gibt ihn in Essos (da leben sowieso die Wilden) und in Winterfell, wo alles noch etwas roher ist als im Süden. Nur eine der drei Situationen ist eine sexuelle (und der Sex ist, weil im Bordell betrieben, nicht ganz legitim), die anderen beiden sind mit Wildheit und Primitivität assoziiert. Vielleicht geht man in Staffel 2 ein Stück weiter und rückt den Penis eines kultivierten Ritters ins Bild, der im Palast von King’s Landing mit seiner Frau schläft. Sexualforscher also aufgepasst, da könnte sich noch was tun! Einstweilen ist ein Argument gegen allfällige Sexismus-Vorwürfe in Stellung gebracht. Drei Männer zeigen alles, was sie haben, die Frauen hingegen nicht (von Ros’ modisch ausrasiertem Intimbereich einmal abgesehen).
A propos Stellung: Die gute alte Missionarsposition ist bei HBO verpönt. Obwohl regelmäßig kopuliert wird gibt es sie, wenn ich nichts übersehen habe, in Staffel 1 von Game of Thrones nur ein einziges Mal, und da nicht richtig: Ros und ihre von Baelish engagierte Kollegin nehmen sie bei der beruflichen Fortbildung ein, und eine von den beiden spielt den Mann (ich entdecke da eine angenehme Selbstironie). Die Dothraki-Männer, die es gerüchteweise auch mit Pferden treiben, machen es prinzipiell nur von hinten. Dany ist im Roman 13 (in der Serie ein paar Jahre älter), als sie von Khal Drogo entjungfert wird, nimmt danach Unterricht bei einer Hure und leistet dann ihren Beitrag zum Kulturtransfer. Sie bringt Drogo bei, wie toll es ist, wenn man sich beim Sex in die Augen schaut (die Drachenfrau ist oben). Der Khal ist so begeistert, dass er einen von Trommelwirbel begleiteten Orgasmus hat. Den wollen wir auch der dabei geschwängerten Khaleesi wünschen, die ihren Vergewaltiger nun doch ganz gut findet, weil die Frauen seltsame Wesen sind (oder weil die Männer, die sich das ausdachten, es so haben wollten).
Weil das eine tolle Gelegenheit ist, die isolierte Essos-Handlung durch Parallelisierung mit Westeros zu verbinden, hat der bei den Dothraki praktizierte Geschlechtsverkehr Einfluss auf die körperliche Liebe in zivilisierteren Regionen. Erst sehen wir Drogo und Dany beim Brachialsex im Zelt (die Stutenphase), dann befriedigt Jaime Lannister seine Schwester Cersei von hinten. Ja doch, die beiden sind ein Paar. Bei den Lannisters hat der Inzest Tradition, wegen der Reinhaltung des Blutes und dergleichen (was daraus wurde, ist in den Promi- und Adelssendungen des Fernsehens zu besichtigen). Trotzdem muss er geheimgehalten werden, weil Cersei mit dem fetten König Robert verheiratet und die Mutter von Prinz Joffrey ist, dem Thronfolger.
Ein Leben voller Möglichkeiten
Joffrey ist der größte Widerling im Stück. Gleich beim ersten Sehen will man ihm, wie man so sagt, eine runterhauen (Jack Gleeson ist als Prinzendarsteller perfekt und wird in Zukunft hoffentlich gegen seinen Typ besetzt, weil er sonst nicht viel zu lachen hat). Das erledigt sein Onkel Tyrion, als der Neffe den Mund aufmacht. Joffrey redet trotz Warnung weiter und kriegt sofort die nächste Ohrfeige. So befriedigt man die Zuschauererwartung und baut zugleich Spannung auf, denn der nachtragende Prinz wird bald der König sein und vergisst nichts. Martin schreckt im Roman nicht davor zurück, einen Sympathieträger über die Klinge springen zu lassen, wenn es der Geschichte nützt. Seit Nina Myers in der ersten Staffel von 24 die Frau von Jack Bauer ermordet hat, muss man auch in TV-Serien damit rechnen, dass Hauptfiguren überraschend getötet werden. Den Lannisters gönne ich ein langes Leben, weil sie so gute Schurken sind. Tywin, der Patriarch, träumt von der Weltherrschaft und will ohne Rücksicht auf Verluste eine Dynastie begründen. Cersei ist die größte Intrigantin von Westeros. Ihr Bruder Jaime ist ein skrupelloser und arroganter Schönling in goldener Rüstung, der den Vorgänger von König Robert gemeuchelt hat (von hinten), obwohl er dessen Bodyguard war (der dicke Robert hat sich das nicht ausreichend überlegt, als er den Schwager in der Leibwache beließ).
Früher war es so, dass die Bösen kleinen Jungs den Luftballon kaputt machten oder, wenn es ganz schlimm kam, ihr Haustier töteten. Das war einmal. Auch als Kind lebt es sich inzwischen viel gefährlicher. Bran, der kleine Sohn von Ned und Catelyn, klettert gern an der Fassade von Burg Winterfell herum. Bei einer seiner Kraxeltouren erwischt er Cersei und Jaime beim Geschlechtsverkehr im Turmzimmer. Jaime hilft dem Jungen auf den Fenstersims, überlegt kurz, was jetzt zu tun ist und stößt ihn dann mit einem sarkastischen Kommentar - "The things I do for love" - in die Tiefe (Bran überlebt mit gelähmten Beinen, weil das auch eine Serie über den Umgang mit Behinderungen ist). Die drastische Maßnahme ist proportional zum Anlass. Die Geschwister Lannister haben mehr zu verbergen als den Inzest.
Unter Anleitung des ebenso klugen wie verschlagenen Petyr Baelish sowie durch die mühsame Lektüre eines Buches (Ironie!) findet Ned Stark heraus, was das Geheimnis ist. Der Vater der blonden Kinder der blonden Königin ist ihr blonder Bruder und nicht der dunkelhaarige König. Wer jetzt wütend ist, weil ich das hier verraten habe: Der Ärger war umsonst. Man muss schon ein geistig eher träger Mensch wie Ned sein (die Helden alter Art schneiden in Game of Thrones nicht so gut ab), um ernsthaft zu glauben, dass das wirklich wichtig ist. Leute wie Cersei und Baelish kostet es kaum mehr als ein Achselzucken, um zu beweisen, dass nicht der die Macht erringt, dem sie antiquierten Thronfolgeregelungen nach zustehen müsste, sondern der, der über das meiste Geld verfügt und der hinter den Kulissen am geschicktesten die Fäden zieht. Alles andere ist Theater zum Einlullen des Publikums.
Anhand des nur scheinbar bedeutsamen Geheimnisses um die blonden Kinder lässt sich gut zeigen, wie die Serie funktioniert und wie vielschichtig das in den besten Momenten ist. Nach dem Sturz in die Tiefe liegt Bran erst mal im Koma. Catelyn wacht am Krankenbett. Cersei kommt, bekundet ihr Mitgefühl und erzählt, wie schlimm es für sie war, als sie ihr erstes Kind verlor. Das wirft gleich viele Fragen auf. Ist Cersei nicht nur darum gekommen, weil sie wissen will, ob Bran, der lästige Zeuge, berichten kann, was er belauscht hat? Ist das Kind eines natürlichen Todes gestorben oder wurde es - weil von König Robert gezeugt, mit dem die Königin keine Nachkommen haben will - von der Mutter umgebracht? Ist Cerseis damaliges Leid echt oder heuchelt sie es nur, um den Verdacht von sich abzulenken und sich aus taktischen Gründen bei Catelyn einzuschmeicheln? Es ist eine der Stärken der Serie, dass gleichzeitig mehrere Antworten möglich sind.
Es sei kein Zeichen von Barmherzigkeit, sagt Cersei im Kreise ihrer Verwandten, ein Kind so leiden (und nicht den "Gnadentod" sterben) zu lassen. Jaimie pflichtet ihr bei. Bran, meint er, werde ein grotesk aussehender Krüppel sein, das sei nicht lebenswert. Dabei wissen wir genau, dass es nur darum geht, den Zeugen zu beseitigen. Tyrion ahnt, was passiert ist und hat schon deshalb eine andere Meinung, weil er als kleinwüchsiger Mensch selbst eine groteske Figur ist und weiß, dass er nur leben durfte, weil er der Sohn eines reichen Adeligen ist (arme Bauern hätten ihn zum Sterben im Wald ausgesetzt). "Als Vertreter der Grotesken", sagt er, "muss ich widersprechen. Der Tod ist so endgültig, während das Leben, ah … das Leben steckt voller Möglichkeiten." Tyrion ist dafür das beste Beispiel. Das Leben genießt er mehr als sonst einer in Winterfell und King’s Landing, obwohl er "vertikal herausgefordert" ist, oder wie das jetzt heißt (in Game of Thrones ist er ein "Zwerg", weil die politische Korrektheit noch nicht erfunden wurde). So führt ein Handlungsstrang, der mit mittelalterlichen Intrigen, Inzest und versuchtem Kindsmord beginnt, zu Präimplantationsdiagnostik, Sterbehilfe und zur Frage, wo die Grenze zwischen der mitfühlenden Menschlichkeit und dem allzu menschlichen Eigennutz verläuft. Das ist schon ziemlich gut.
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