Wissende und virtuelle Kriegerinnen und Krieger

Seite 2: Das Imperium der Traurigkeit und "gute Krieger"

In dem von der militärischen Heilslehre beherrschten Imperium der Traurigkeit gibt es keine guten und bösen Imperien. Die "guten Krieger" hierzulande missbrauchen die Empörung über das von der russischen Regierung ins Werk gesetzte und zu verantwortende Verbrechen sowie die Solidarität mit allen durch einen Angriffskrieg überfallenen Menschengeschwistern in der Ukraine, um ihre Agenda durchzusetzen. Auch das raubt vielen in diesen Tagen den ruhigen Schlaf.

Eine der Botschaften: Schuld am Krieg sind – wie immer in den Narrativen der Bellizisten – die Friedensbewegung und alle, die der rasanten Aufrüstung der letzten Jahre keinen Beifall gespendet haben. Pazifistinnen und Pazifisten, linke wie bürgerliche Politiker, Sicherheitsexperten der realistischen Schule und nicht wenige Militärs fordern seit Jahrzehnten durchgreifende "Brandschutz"-Maßnahmen für das gemeinsame Haus Europa jenseits der gefährlichen imperialen Logik.

Noch im letzten Jahr kamen aus diesem Kreis drängende "Rauchmeldungen" und konstruktive Vorschläge, die vielleicht geeignet waren, eine Eskalation bis hin zum neuen Angriffskrieg noch abzuwenden. Diese Warnenden haben zuletzt weniger gewusst als die US-Geheimdienste, das ist wahr. Aber sie sind nicht diejenigen, die für Brandanstiftungen oder gar Brandbeschleunigung gesorgt haben.

Die Mediatheken der großen Sender füllen sich mit Dokumentationen, die zum beträchtlichen Teil eine höchste einseitige Sicht der letzten drei Jahrzehnte vermitteln und bisweilen gar als Fazit aus dem Off das Gegenteil dessen propagieren, was sich aus dem herangezogenen Archivmaterial erschließt.

Wenn Pazifist:innen dieser Tage die Vorgeschichte des gegenwärtigen Krieges mitbedenken, werden sie angesichts der Leiden in der Ukraine als zynisch verunglimpft. Wenn die militärgläubigen Revisionisten in ungezählten Angeboten ihre verzerrte Darstellung der jüngeren Geschichte unterbreiten, soll das hingegen ein Ausdruck von Mitgefühl sein.

Im Rahmen einer auf mich gespenstisch wirkenden Parlamentssitzung verkündete die deutsche Regierungsspitze als Zukunftsprogramm genau jenes alte Programm, das seine vollständige Irrationalität und Schädlichkeit zuletzt in zwei Jahrzehnten Afghanistankrieg unter Beweis gestellt hat.

Die Opposition applaudierte mit der höchsten Erregung, und es kam der Verdacht auf, dass einige Parlamentarier im hohen Haus gar freudig erregt waren. Wer solchen Politikern angesichts einer deutlich gestiegenen Weltkriegsgefahr sein Vertrauen schenken will, ist schlecht beraten.

Sodann wurde der Bundeskanzler am 3. März im ZDF ausführlich von Maybrit Illner interviewt. Unschwer war hier zu erkennen, dass Olaf Scholz durchaus noch in gewisser Tuchfühlung steht mit einer um den Frieden in Europa hochverdienten sozialdemokratischen Politikergeneration. Doch die Moderatorin stellte – bisweilen mit vorwurfsvollem Ton – auf Schritt und Tritt Fragen, die auf noch mehr Militärgläubigkeit und noch mehr Bereitschaft zur aktiven Beteiligung am Kriegsgeschehen zielten.

Der Autor selbst schaut – bzw. erleidet – erst seit zwei Wochen solche Fernsehformate und weiß nicht, wie lange er das durchhält. Falls es im Land noch friedensbewegte professionelle Medienbeobachter mit Ressourcen gibt, so wartet sehr viel Arbeit auf sie.

Mir drängt sich dieser Tage der Eindruck auf, dass ein Großteil der Medienmacher:innen kein Bewusstsein mehr davon hat, wie das real existierende Weltgefüge – unter dem Vorzeichen der Atombombe – beschaffen ist und welche Folgen es haben kann, wenn die Politik über eine medial aufgeheizte Öffentlichkeit zu eskalationsfreudigen Entscheidungen förmlich gedrängt wird.

Zu den virtuellen Kriegern, die keine Verantwortung und auch keine Folgen tragen müssen, zähle ich den Militärhistoriker Prof. Sönke Neitzel, der nach seinem letzten "Krieger"-Bestseller von Forschern wie Wolfram Wette oder Eckart Conze mit guten Argumenten kritisiert worden ist. Diesem in der Historie des bewaffneten Mordens theoretisch bewanderten Experten begegnet man öfter auf dem Bildschirm, und dann plaudert er redselig und scheinbar gerne über Töten oder Getötetwerden.

Darüber müsse man überhaupt wieder mehr und offener sprechen, das gehöre zum Militär. Er selbst freilich habe nicht vor, Waffen in die Hand zu nehmen und Wunden zu erleiden; dafür bringe er aber seine Hochachtung vor den Soldaten in das Gesamtgeschehen ein. Am 7. März redet nun dieser Potsdamer Lehrstuhlinhaber für Militärgeschichte in dem (vor der vorletzten "Zeitenwende" 1999 noch pazifistisch ambitionierten) Zeitungsmedium taz einer neuen "politischen Kultur" das Wort und will überprüfen, "ob Scholz es ernst meint, die Bundeswehr kriegsbereit zu machen".

Sinnvoll wäre, wenn Herr Sönke Neitzel sich bereit erklärt, ehrenamtlich dereinst zumindest in Seelsorgeteams für trauernde Soldaten- und Zivilistenfamilien mitzuarbeiten, sofern die Politik jetzt seine Ratschläge hinsichtlich einer Rückkehr zur alten Kriegspolitik befolgt.

An allen Fronten der Rückkehr zum Archaischen gibt es die Tatkräftigen. Als allernächstes begehren die virtuellen Krieger in komfortablen Settings vielleicht ein vollständiges Verbot aller russischen Kulturerzeugnisse und das Niederreißen aller "russophilen Brücken", die seit Ende des Zweiten Weltkriegs erbaut worden sind.