Wissenschaftliche Sensation auf einem Quadratmillimeter
Ein winziger Neuro-Chip analysiert elektrische Nervensignale
Dass wahre Größe tatsächlich von innen kommt, ist beim aktuellen Gemeinschaftsprodukt des Max-Planck-Instituts für Biochemie und des Chipherstellers Infineon besonders offensichtlich. Denn das Ergebnis jahrelanger Forschungen passt auf einen Quadratmillimeter und könnte doch zu entscheidenden Erkenntnissen über die Funktionsweise der Nervenzellen führen und langfristig sogar bahnbrechende Fortschritte in der Diagnostik und Therapie bis dato noch unheilbarer Erkrankungen bringen.
Mit dem neu entwickelten Biosensor-Chip, der vor kurzem auf der "International Solid-State Circuits Conference" in San Francisco vorgestellt wurde, haben die Wissenschaftler die Möglichkeit, elektrische Signale von einzelnen Neuronen und ganzen Neuronenverbänden so präzise und detailliert zu analysieren, wie es bislang kaum vorstellbar war. Der aus Silizium gefertigte Chip enthält 16.384 hochempfindliche Sensoren, deren Abstand mit acht Tausendstel Millimetern noch kleiner ist als der Durchmesser eines Neurons. So kann jede Nervenzelle im Verlauf des Experiments auf mindestens einem Sensor liegen, der die höchstens fünf Millivolt starken Signale der Zelle verstärkt und insgesamt gut 2.000 Werte pro Sekunde aufzeichnet.
Um herauszufinden, wie sich die Neuronen verständigen oder auf äußere Anreize reagieren, sollen sowohl Neuronenverbände als auch einzelne Zellen, die auf der Sensorfläche zu neuronalen Netzen zusammenwachsen können, über mehrere Wochen untersucht werden. Die bisherige Technik, die auf der linearen Anordnung von 128 Sensoren basierte, erlaubte bestenfalls die Analyse einzelner Zellen, so dass weitergehende Aufschlüsse über die Zusammenarbeit der Neuronen Spekulation bleiben mussten.
Die Forscher versprechen sich vom weiteren Verlauf der Experimente nicht nur Einblicke in den Ablauf von Lern- und Gedächtnisvorgängen, sondern auch Erkenntnisse über die Art und Weise, wie im Gehirn Informationen wahrgenommen, verarbeitet und gespeichert werden. Für die Forscher vom Max Planck-Institut, die 1991 erstmals die Nervenzelle eines Blutegels auf einem Computerchip platzieren konnten, war die Kooperation mit einem Wirtschaftsunternehmen von entscheidender Bedeutung. Teamleiter Professor Peter Fromherz will diesen Zusammenhang denn auch besonders herausgehoben wissen:
"Hier geht ein Traum in Erfüllung, dass unsere langjährige Grundlagenforschung über hybride Neuron-Halbleiter-Systeme nun in einen High-Tech-Chip einmündet. Die gemeinsame Entwicklung des neuen Neuro-Chips ist ein hervorragendes Beispiel für eine geglückte Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschung und industrieller Entwicklung. Die ungewöhnliche Bereitschaft der Infineon Technologies AG, sich auf eine langfristig angelegte Entwicklungsarbeit einzulassen, zahlt sich nun aus. Diese Entwicklung auf der Basis modernster Mikroelektronik eröffnet ungeahnte Möglichkeiten für Anwendungen in Biomedizin, Biotechnologie und Hirnforschung."
Wann und wie diese ungeahnten Möglichkeiten in die Praxis überführt werden, steht allerdings vorerst in den Sternen. Bis jetzt konnte der Neuro-Chip nur mit Hirnzellen von Schnecken erfolgreich getestet werden. Da sich im menschlichen Gehirn über 100 Milliarden Nervenzellen im ständigen Informationsaustausch befinden, stehen die Wissenschaftler vor einer möglicherweise endlosen Sisyphos-Arbeit.
Auch wenn jetzt "ganz neue physikalisch-biologische Fragestellungen" aufgeworfen werden, sind bioelektronische Neurocomputer oder mikroelektronische Neuroprothesen nach Fromherz' Einschätzung auf absehbare Zeit noch "phantastische Projekte". Insofern spricht es für seinen Realismus, wenn er die immerhin verständliche Euphorie des Technologieunternehmens ("Neuro-Chip from Infineon Can Read Your Mind") schon im Vorfeld ein wenig abbremst.
Denn selbst wenn es gelänge, langfristig eine elektrische Karte des menschlichen Gehirns zu erstellen, hält es Fromherz für undenkbar, durch ein Chiptransplantat die menschliche Intelligenz zu steigern oder gar das Gehirn per Computer zu steuern. "Dies ist schlichtweg Science-Fiction", meint der Biochemiker und trägt damit möglicherweise sehr entscheidend zu unserer nervlichen Beruhigung bei.