Wo Islam Grundgesetztreue heißt
Einen deutschen Islam fordern Politiker gern. Dabei gibt es ihn längst. Zu Besuch bei Europas größtem islamischen Friedensgebet
Schon Tage bevor Kalif und 40.000 Muslime aufeinandertreffen sollten, hatte Dr. Mohammed Sarfraz Baloch alles auf den Ernstfall vorbereitet. Das Lazarett inklusive eigener Intensivstation war aufgebaut. Ein Team aus 24 Ärzten stand bereit. Mehrere Krankenwagen warteten auf den Notfall. Doch zur Halbzeit von Deutschlands größter Zusammentreffen von Muslimen, ist der Behandlungsraum noch immer so gut wie leer.
"Fälle von Ermüdung, ein paar Leute mit Grippe, Wespenstiche", fasst Dr. Baloch seine bisherige Behandlungsbilanz zusammen. "Es ist keine Übertreibung wenn ich sage, dass unsere Versammlung die friedlichste in Deutschland ist. Das können Ihnen auch die DAK-Leuten bestätigen." Baloch ist eigentlich Facharzt für Neurochirurgie. Am vergangenen Wochenende übernahm er für drei Tage ehrenamtlich die Rolle des Chef-Notarztes für das Jahrestreffen seiner Glaubensgemeinschaft, der Ahmadiyya Muslim Jamaat.
Rund 40.000 Gläubige trafen sich am 7. September für drei Tage zu ihrer jährlichen Versammlung, der "Jalsa Salana" inklusive Friedensgebet in den Karlsruher Messehallen. So friedlich wie in Balochs Lazarett geht es dort überall zu.
Dürfte sich ein konservativer Integrationspolitiker einen deutschen Islam zurechtbasteln, der Gewalt ablehnt und treu zum Grundgesetz steht, es dürfte in etwa dabei herauskommen, was sich vor den Augen des Reporters einige Meter vom Lazarett entfernt in der Haupthalle der Messe abspielt.
"Du wirst hier keinen mit 'Merkel muss weg'-Slogan sehen"
Vor einigen Tausend Gläubigen steht dort ein freundlicher älterer Herr mit weißen Bart zum weißen Turban. Eben noch hatte er im Innenhof der Messe die deutsche Fahne gehisst. Nun spricht er mit warmer Stimme über die Bedeutung zivil gesellschaftlichen Engagements, den Wert der Demokratie und die Treue zur Rechtsordnung des Landes.
An den Eingangstüren verteilen zwei aufgeregte Jugendliche statt des Koran Hefte mit dem Titel "Wir sind alle Deutschland". An der Stelle des üblichen "Allahu Akbar" dringt zum Ende der Veranstaltung der Ruf "Islam heißt Frieden" durch die Halle.
"Was unsere Gemeinde auszeichnet: Wir stehen loyal zu unserem Land. Du wirst hier niemanden mit 'Merkel muss weg'-Slogan sehen", sagt Hmayon Salim. Im normalen Leben arbeitet der 36-Jährige bei Thyssen Krupp in Dortmund. Bei der Jalsa ist er für die Gästebetreuung zuständig. Wie viele in seinem Alter kommt er schon sein ganzes Leben einmal im Jahr nach Karlsruhe. "Neben Ramadan und Opferfest ist das für uns das Highlight des Jahres. Man hat die Möglichkeit zusammenzukommen. Man entwickelt seine Spiritualität weiter und kann dem Kalifen nahe sein."
Mit "uns" meint Salim die Ahmadiyya Muslim Jamaat, die mit 35.000 Anhängern zahlenmäßig zu den kleineren islamischen Glaubensgemeinschaften in Deutschland gehört. Der Kalif, von dem er redet, heißt Mirza Masroor Ahmad und wohnt in London. Seine Auftritte sind die absoluten Höhepunkte der Veranstaltung.
Während die meisten Muslime noch auf den Mahdi warten, war er bei den Ahmadis schon da
Das spirituelle Oberhaupt der Gemeinde ist der fünfte Nachfolger von Hadhrat Mirza Ghulam Ahmad, der Ende des 19. Jahrhunderts in Indien seine reformislamischen Lehren verbreitete. Ahmadis verehren ihn als Messias und Nachfolger des Propheten Mohammads. Für viele orthodoxe Muslime ist das Grund genug, sie zu verfolgen.
Ihre indische Heimat mussten die meisten Ahmadis verlassen. Die Islamische Weltliga erklärte sie 1974 zu Ungläubigen. Heute leben Ahmadis in der ganzen Welt verteilt.
Jener Teil der Gemeinde, der es nach Karlsruhe geschafft hat, hat mittlerweile den improvisierten Gebetssaal verlassen und verteilt sich im Außenbereich des Messegeländes. Auf einem improvisierten Basar stapeln sich hunderte Mangokisten.
"Extra aus Pakistan importiert", sagt ein Mann, der von Rauch umgeben, einem Berg von Fleischspießen drei weitere hinzufügt. Im Zelt nebenan warten hunderte Bierzeltgarnituren und eine scheinbar unendliche Masse aus Reis, Linsensuppe und Pappbechern auf ihren Einsatz.
Vom Ahmadiyya-Fahrdienst bis zum Fernsehstudio
Darauf, dass sie all das ausschließlich aus Spenden und dem ehrenamtlichen Engagement von tausenden Mitgliedern gestemmt haben, sind die Ahmadis neben der Anwesenheit des Kalifen besonders stolz. "Es ist wie eine große Familienfeier. Für drei Tage bauen wir uns hier unsere eigene kleine Stadt auf, in der jeder ganz andere Rollen hat und fühlen uns sehr wohl dabei", sagt Rameza Bhutti. Die 22-jährige studiert eigentlich Politik- und Soziologie, ist heute aber für den interreligiösen Dialog zuständig.
Dass ihr Vergleich mit einer "kleinen Stadt" nicht übertrieben ist, wird an jeder Ecke deutlich: Im Innenhof bereitet sich der Moderator von "Muslim Television Ahmadiyya" in einem eigens gebauten Fensehstudio auf die nächste Live-Schalte via Satellit und Online-Streaming vor. Sein Job im echten Leben: Bauingenieur.
Ein paar Meter entfernt steht das gleiche Studio noch einmal: für die arabischsprachige Kommentierung der Kalifen-Predigt. Diese wird unterdessen von einem Team aus freiwilligen Ahmadi-Simultanübersetzern in über zehn Sprachen übertragen.
Vor den Toren der Halle bringt der Ahmadi-Fahrservice neue Besucher von Flughäfen und Bahnhöfen zur Messe und später zu den gleich reihenweise angemieteten Hotels der Stadt. Wer dort keinen Platz mehr findet, landet im mit Stellwänden und Matratzen hergerichteten Schlafsaal.