Wo ist die seit Montag verschwundene weißrussische Oppositionspolitikerin Marija Kolesnikowa?

Von dem Präsidium des Rates sind in Belarus nur noch zwei Mitglieder auf freiem Fuß. Die Proteste konnten so jedoch nicht geschwächt werden

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Der belarussische Grenzschutz erklärte Dienstag früh, die 38-Jährige sei mit zwei Mitarbeitern in der Nacht zum Mittwoch in die Ukraine eingereist. Dies wurde darauf vom stellvertretenden Innenminister der Ukraine, Anton Geraschenko, via Facebook dementiert. Kolesnikowa sei weiterhin in Belarus und habe sich gegen eine Ausweisung gewehrt. Nach Interfax Ukraine habe sie vor der von belarussischen Beamten geleiteten Abschiebung ihren Reisepass zerrissen.

Die einflussreiche Oppositionsführerin soll vorgestern von maskierten Unbekannten in Minsk in einen Kleinbus gezerrt worden sein, meldete Belsat. Seitdem gibt es Falschmeldungen, Dementis, Gerüchte über ihren Aufenthalt.

Der ukrainische Politiker bestätigte nur die Einreise ihrer Mitarbeiter, die er als "erzwungene Vertreibung aus ihrem Heimatland" bezeichnete. Für das Leben und die Gesundheit Kolesnikowas trage Aleksander Lukaschenko die "volle Verantwortung".

Das weißrussische Staatsoberhaupt behauptet hingegen, die Politikerin habe illegal in die Ukraine fliehen wollen und sei an der Grenze von belarussischen Beamten verhaftet worden.

In Weißrussland herrscht eine Art inoffizieller Ausnahmezustand

Seit der Wahl am 9. August, bei der Staatspräsident Aleksander Lukaschenko offiziell über 80 Prozent erzielte, reißen die Proteste nicht ab, es gab bereits einige Tote und viele Verletzte. Oppositionelle sind im Gefängnis oder außer Landes geflohen, wie die aussichtsreiche Gegenkandidatin Swetlana Tichonowskaja, welche sich in Litauen aufhält. Dennoch versammeln sich am Wochenende immer wieder Massen und nehmen dabei Stockschläge in Kauf. Am Sonntag demonstrierten allein 200.000 Menschen in der Hauptstadt Minsk.

Marija Kolesnikowa war die Kampagnenchefin des seit Juni inhaftierten Politikers und somit verhinderten Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko und hat in der vergangenen Woche die Gründung einer Partei und Massenbewegung "Gemeinsam" bekannt gegeben. Die Frau mit der markanten Kurzhaarfrisur, welche einst in Stuttgart Musik studierte, gibt seit Tagen den Ton in den Protestbewegungen an und gilt so für Lukaschenko als gefährlich, welcher seit 1994 das Land autoritär regiert.

"Die Machthaber greifen im Todeskampf zu solchen Methoden, wozu auch das Verprügeln von Leuten durch Maskierte gehört, die sich nicht legitimieren", sagte Alaksiej Dzikawicki, Nachrichtenchef des regierungskritischen Senders Belsat mit Sitz in Polen auf Anfrage.

Kalesnikova sei entführt worden, um die Arbeit des Koordinierungsrates unmöglich zu machen, meint der weißrussische Journalist, dessen Kolleginnen und Kollegen vor Ort bereits inhaftiert wurden.

"Entweder (weiterhin) Gefängnis oder Polen." Vor diese Entscheidung wurde kürzlich das inhaftierte Präsidiumsmitglied Wolha Kowalkowa gestellt, die sich nach zehn Tagen Haft für das Ausland entschieden hat, da sie fürchtete, unbefristet festgesetzt zu werden. Dies ist die Strategie der Führung, die Proteste einzudämmen, Inhaftierung oder Abschiebung. Kalesnikova hatte sich bislang stets geweigert, das Land mit 9,5 Millionen Einwohnern zu verlassen.

Von dem Präsidium des Rates sind in Belarus nun nur noch zwei Mitglieder auf freiem Fuß - der Rechtsanwalt Maxim Znak und die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Svetlana Aleksievich. Die Proteste konnten so jedoch nicht geschwächt werden. Update 9:50: Mittlerweile wurde auch Znak von Menschen in Zivilkleidung und mit Masken verschleppt.

Der Rat verlangt die Freilassung politischer Gefangener, die Untersuchung von Folter und Tötung von Demonstranten sowie die Abhaltung von Neuwahlen unter fairen Bedingungen. Auch eine Änderung der Verfassung soll folgen, welche auf den 65-jährigen Aleksander Lukaschenko zugeschnitten ist, wie dieser selbst eingestand. Vor allem soll die Amtszeit des Präsidenten auf zwei Amtszeiten zugeschnitten und die Gewaltenteilung verbessert werden, wobei die Macht des Parlaments ausgebaut werden müsste.

In einem Interview mit dem litauischen Nachrichtenportal "delfi" erklärte Kolesnikowa, dass der Rat die Proteste nicht koordiniere, sie seien viel mehr dezentral und mittlerweile auch schon in den Dörfern präsent, was die Stärke des Widerstands ausmache. "Die Menschen selbst sind die treibende Kraft."

Lukaschenko: "Sollte Belarus kollabieren, wird Russland das nächste Land sein"

Doch welche Kraft treibt Aleksander Lukaschenko, welcher letztens mit Sturmgewehr und schusssicherer Weste Stärke vermitteln wollte? Sein Land, das er noch formal regiert, ist wirtschaftlich stark von Russland abhängig. In Minsk gab er führenden russischen Medien am Mittwoch ein Interview, in dem er zugestand, etwas zu lange auf dem Präsidentenstuhl gesessen zu haben. In der jetzigen Krisensituation könne jedoch allein er "die Weißrussen schützen". Lange galt der studierte Landwirt als Garant Moskaus, dass sich ein prowestlicher Umsturz wie in der Ukraine in der ehemaligen Sowjetrepublik Weißrussland nicht wiederholt. Ob dies der Kreml auch heute noch so sieht, wird sich bald zeigen.

Denn Putins Sprecher Dmitri Peskow kündigte einen Besuch des belarussischen Präsidenten in den nächsten Tagen in Moskau an. Allgemein ist die Opposition nicht mehr so antirussisch eingestellt wie etwa vor zehn Jahren, als es nach der Präsidentschaftswahl im Dezember 2010 zu schweren Auseinandersetzungen kam.

So war der inhaftierte Präsidentschaftskandidat Viktor Babariko, der als einer der chancenreichsten Kandidaten galt, bis zu seiner Kandidatur Vorstandsvorsitzender der Belgazprombank, eine Tochtergesellschaft der russischen Gazprombank in Belarus. Er strebt eine starke wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem östlichen Nachbarn an. Allerdings kündigte er einen Ausstieg aus dem Verteidigungsbündnis mit dem Kreml an. Oppositionsvertreter glauben darum, dass Wladimir Putin sich nicht auf Lukaschenkos weitere Regentschaft versteift, sollte er andere Partner haben.

Kolesnikova wies darauf hin, wie Putin Lukaschenko schwächte, als er offiziell bekannt gab, dass Lukaschenko ihn um Hilfe bat. Dies verstoße auch gegen die weißrussische Gesetzgebung, da es sich um eine Bitte zur Intervention eines ausländischen Staates handele.

Wie es nun weiter geht, hängt davon ab, wie die Protestierenden mit dem Verschwinden von Marija Kolesnikowa aus der Öffentlichkeit umgehen - und ob sich Putin von Lukaschenko überzeugen lässt, den Widerstand auszusitzen, um so die Demonstrationen abflauen zu lassen. Dazu gehören auch Zugeständnisse, wie das Versprechen einer Verfassungsänderung.

"Sollte Belarus kollabieren, wird Russland das nächste Land sein", warnte Lukaschenko die russische Journalistenriege. Aber vielleicht wird Belarus kollabieren, wenn das Staatsoberhaupt so weiter macht.