Wo liegen die Prioritäten?
Der Streit um die Muhammed-Karikaturen verschärft sich
Die Affäre (vgl. Islam - Pressefreiheit 1:0) eskaliert, die Nachrichten überschlagen sich. Mehrfache Bombendrohungen gegen das Redaktionsgebäude der dänischen Zeitung Jyllands-Posten, wo die Karikaturen im Herbst des vergangenen Jahres zum ersten Mal veröffentlicht wurden; bewaffnete Palästinenser, die das EU-Büro in Gazastadt stürmen wollten und drohten, das Gebäude in Schutt und Asche zu legen, "wenn die Angriffe auf den Islam und gegen den Propheten Mohammed weiter gehen". Dazu Drohungen gegen Leib und Leben derjenigen, welche die Karikaturen veröffentlicht haben.
Norwegen nimmt die Drohung ernst und schließt seine Botschaft in den palästinensischen Autonomiegebieten, so eine weitere Meldung von gestern. In Dänemark herrscht Angst vor gewalttätigen Ausschreitungen. In Frankreich soll man sich ebenfalls vor neuen Unruhen in den Banlieues fürchten. Die Entführung eines deutschen Lehrers in Nablus durch Palästinenser wurde ebenfalls in Zusammenhang mit den Karikaturen gebracht. Für kurze Zeit – die Entführung soll eine Stunde gedauert haben – dann auch Angst in Deutschland vor einer Eskalation. Halb Europa in Angst?
Image-Gewinn
Der Chefredakteur von France Soir wurde entlassen, nachdem er eine der umstrittenen dänischen Karikaturen auf der Titelseite veröffentlicht hatte. Der ägyptische Herausgeber der Zeitung, Rami Lakah, in der Presse seines Heimatlandes wegen seiner Nähe zu amerikanischen Neokonservativen immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt, könnte damit sein Image verbessern, mutmaßt ein ägyptischer Insiderblog.
Auch saudische Zeitungen profitieren von der "Kontroverse über die blasphemischen Karikaturen aus Dänemark", so die Arab News gestern. Die Anzeigenleiter freuen sich über eine Welle von Anfragen großer Unternehmen, die öffentlich deutlich machen wollen, dass sie keine dänischen Produkte mehr in ihrem Angebot haben.
Profitieren von der Karikaturen-Affäre dürften allerdings auch Medien außerhalb des saudi-arabischen Königreiches. Mit Muslimen, die in einer Art Pawlowschen Reaktionsfalle gefangen sind und wie auf Knopfdruck beim Anblick von Witzzeichnungen heißlaufen, ist gut Stimmung zu machen, umso mehr, wenn es doch um die Meinungsfreiheit geht.
Smack their bottoms
Tatsächlich sind viele Reaktionen aus Saudi-Arabien sehr viel mehr zum Lachen als die Karikaturen selbst. Wer in dieser Sache humoristisch auf seine Kosten kommen will, der lese den unerschrockenen "Religionspolizisten", einen saudischen Blogger, zur Zeit im Londoner Exil, der dem saudi-arabischem Religionseifer und der Bigotterie, die einem aus landesüblichen Statements entgegentreten, mit beißendem, fröhlichen Nestbeschmutzer-Witz begegnet.
Shoura Council Chairman Dr. Saleh Bin-Humaid urged intellectuals and peace-loving people of the world to stop such vilifications against the Prophet of Islam and punish its perpetrators.
Punish? How? Smack their bottoms? Send them to bed early? Come on guys, is this all you can talk about?
Die Karikaturen-Affäre kommentiert der von falschem Respekt unbehelligte Religionspolizist schon seit den ersten Anfängen. Nicht nur, dass er mit einer Menge anderer Muhammed-Abbildungen aus der Geschichte aufwartet. Er vergleicht die Reaktionen auf die dänischen Karikaturen mit Reaktionen auf Karikaturen, die eine andere Religion diffamieren:
Cartoons? Yes, cartoons. Not the revoltingly anti-semitic ones that we all so love and appreciate.
Und, so eine seiner beliebtesten Gegenrhetoriken, er stellt die Reaktionen auf die Karikaturen in einen größeren Kontext: Wo liegen die Prioritäten?, fragte er jüngst bei einer Analyse von entrüsteten saudischen Zeitungsmeldungen zu den blasphemischen Karikaturen: Wo denn die öffentliche Diskussion über den Tod von mehreren Hundert Pilgern bliebe, die dieses Jahr in Mekka durch "Schlamperei der Behörden" ums Leben gekommen sind?
Meinungsfreiheit?
In einer ähnlichen Richtung argumentiert auch Sulaiman Wilms, Chefredakteur der Islamischen Zeitung, die in Berlin herausgegeben wird: "Wo wirklicher Protest nötig wäre, wird leider geschwiegen." Die Karikaturenaffäre ist für Wilms eine Debatte, bei der unterschiedliche Themen zusammen gemischt werden.
Die Abbildung des Propheten, obendrein in karikaturistischer Verzerrung, ist für Muslime inakzeptabel. Darüber könne man nicht diskutieren. Der Widerspruch, der sich für Muslime ergebe, die mit ihren moralischen Werten in westlichen Ländern lebten, die solche Werte nicht teilen, sei nicht aufzuheben. Man müsse den Preis für die "bürgerliche Behaglichkeit" in diesen Ländern eben bezahlen.
Ein anderer Aspekt der Affäre sei die Innenpolitik in Dänemark. Dort fänden sich die restriktivsten Gesetze gegen muslimische Einwanderer, die man sich vorstellen könne. Dass die Muslime in den arabischen Kernländern jedes Mal, wenn sie sich provoziert fühlten, aus der Defensive heraus, leider mit dem üblichen Reiz-Reaktionsschema aufwarten, sei ein anderes größeres Problem.
Um Meinungsfreiheit, die von westlichen Politikern und Journalisten in diesem Fall so lauthals proklamiert wird, geht es nach seiner Ansicht aber weniger. Dagegen spräche schon die Art der Themenwahl und Themenbearbeitung bei den meisten Publikationen hierzulande, andersartige kritische Sichtweisen (unabhängig von muslimischen Themen) hätten kaum eine Chance bei den großen Meinungsblättern überhaupt zu erscheinen. Dass sich Journalisten nicht vom Druck extremistischer Muslime einschüchtern lassen wollen und die Karikaturen veröffentlichen, könne er allerdings gut verstehen.