"Wo man so viele Kreuze hat …"

Bild: F.R.

Kurzes Lehrstück: Wie ein Symbol gesellschaftlich-politisch Differenz transportiert

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Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge
Duld ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebeut.
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider,
Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und -|-.

J.W.v.Goethe, Epigramm 66

Söder und das Kreuz: Dümmer geht's nimmer. Mehr Senf braucht's gar nicht, aber umständehalber hier doch ein wenig Hintergrund. Ganz im Sinne abendländischer Identitätssuche und Wirklichkeitskonstruktion.

Das Kreuz war eigentlich nie ein richtiges christliches Symbol. Die Urchristen benutzten es nachweislich gar nicht, schon gar nicht zur Verehrung. Das hätte auch gar nicht gepasst, denn das römische Kreuz war allseits bekannt und gefürchtet als vermaledeites Marter- und Terrorwerkzeug der Hegemonialmacht. Was es ja auch war. Über die Schrecken der römischen Massenkreuzigungen kann man in jedem vernünftigen Geschichtsbuch der Antike Schauerliches nachlesen.

Das Kreuz auf die Schilde!

Hinzu kommt ein sprachliches Phänomen. Im griechischen Text der Evangelien steht als Hinrichtungswerkzeug für Christus einfach "stauros" oder "xylon". Das eine Wort bedeutet (aufrechter) Pfahl, das andere schlicht Holz (vgl. Xylophon). Vom crux (Kreuz) ist erst später die Rede, als die Päpste aufkamen und ein "christlicher" Gewalthaber namens Konstantin angesichts der Schlacht an der milvischen Brücke angab, er habe in einer Vision "ein Kreuz" gesehen. Das verpasste er dann seinen Heereszügen als martialisches Siegessymbol.

Ursprünglich hatten die Ägypter und die Babylonier Kreuze. Älteste Darstellungen zeigen babylonische Priester mit Kreuzsymbolen auf ihren Gewändern. Man kann solche uralten Pastorengewänder in archäologischen Handbüchern finden und angucken. Die Ägypter verehrten das Henkelkreuz (crux ansata) als Symbol der Unendlichkeit (Unsterblichkeit) bzw. für das Weiterleben im Jenseits. Das ägyptische Kreuz wurde auch bekannt unter dem Namen koptisches Kreuz (als Symbol der koptischen Kirche), man nennt es auch Anch-Kreuz oder - aufgrund seines Aussehens - Lebensschleife.

Ikonografie und Identitätssuche

Schleife hin oder her, in Höhlen- und Felsritzungen fand man auch das sogenannte kosmische Kreuz, ebenfalls kein christliches Symbol. Goethe, ein beliebter Repräsentant abendländischer Kultur, mochte das Kreuz nicht ("Er war nunmehr der Länder satt / Wo man so viele Kreuze hat", aus: Der ewige Jude). Treffsicher erkannte er, dass mit dem Kreuz eine blutige Konnotation einhergeht, die in Krisenzeiten nationalistische Gefühle befeuert.

Zwischen 1933 und 1945 zeigte sich, wie recht der Dichterfürst hatte: Da hing das Kreuz allüberall in den Klassen- und Amtsstuben der Nation, während seine mystisch-politische Variante bei den pompösen Anlässen die Rathäuser und Kirchtürme der Herrenrasse als Hakenkreuz schmückte - und damit leider das "gesunde Volksempfinden" traf.

Auch Hollywoodsternchen und harte Rocker tragen gern das Kreuz als Schmuck- und Schaustück um den Hals. Warum genau, weiß niemand. Religiöse Bezüge nicht ausgeschlossen. Was aber hatte der Söder im Sinn? Bei Politikern mündet ein Indentitätsdefizit bisweilen in eine ernsthafte Krise politischer Vernunft. Halten wir Seehofers Nachfolger zugute, dass er nicht das römische Marterholz im Sinn hatte, als ihn die Idee überkam, Bayern symbolisch aufzurüsten. Bedenklich ist jedoch, wie hier der Gebrauch eines Zeichens gesellschaftlich Differenz generiert. Und dies allen humanistisch-abendländischen Bekundungen zum Trotz.

Europa? Identität versus Debattenkultur

Es ist inzwischen ein Gemeinplatz: In der globalisierten Welt geht die Angst vor einem Verlust der kulturellen Identität um. Natürlich hat Söder als Politprofi im Hinterkopf, dass seine Art Identitätspolitik ein hohes Maß an emotionalen Energien freisetzt und er damit womöglich punkten kann. So kalkuliert der Vorstoß einerseits ist, so unbedacht ist er jedoch auf der anderen Seite. Die andauernden Versuche von Wirklichkeitskonservierung, die wir hier im südlichsten Bundesland erleben, sind hoffnungslos altväterlich und rufen sogar die Kirchen auf den Plan, die eifrig bemüht sind, einen Rest "Kreuz" für ihre eigene Wirklichkeitsauffassung zu retten.

Der französische Philosoph und Sinologe François Jullien warnt unlängst in einem Essay überhaupt vor dem Versuch, Kulturen in ihrer Identität fixieren zu wollen. Er nennt das sogar "unmöglich":

… schließlich zeichnet sich das Kulturelle ja gerade dadurch aus, dass es mutiert und sich verwandelt (…) Eine Kultur, die sich nicht verändert, ist tot.

François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin (edition suhrkamp), ³2018, 47

Damit wendet Jullien sich gegen reaktionäre und totalitäre Fantasien sämtlicher Akteure. Man müsse sorgfältig in Erwägung ziehen, welche - politischen - Gefahren es mit sich bringe, wenn man die Vielfalt der Kulturen in Begriffen von Unterschiedlichkeit und Identität betrachte. Jullien hat dabei auch im Sinn, was das Projekt Europa eigentlich ausmacht. Sind es sorgfältig getrennte Kulturen, ist es die Definition der Unterschiede? Jede "identitäre Annäherung" an Europa, so jedenfalls Julliens Credo, sei letztendlich vereinfachend und denkfaul - und, im Ergebnis, sie lasse den Willen und die Fähigkeit zu Dialog und Debatte verkümmern.

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