Wohlstandsverluste mit Rentenreform II
Renten: Unsicherer denn je. Statt Wohlstandstagnation anzugehen, wollen Heil und Lindner Wohlstandsverluste gerecht verteilen. Ein Gastbeitrag.
Die Rettung des Rentensystems, so Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD), hänge an der Stabilisierung des Rentenniveaus. Denn ohne Reform stürze das Rentenniveau in den nächsten Jahren ab, die Jüngeren von heute würden "einzahlen – immer mehr – und nichts mehr rausbekommen" und "dann brechen wir den Generationenvertrag" so Heil.
Durch den gemeinsam mit Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) erarbeiteten Gesetzentwurf sorge das Rentenpaket II nun dafür, dass die Rente insbesondere "für jüngere Generationen verlässlich bleibt".
Die magischen Formeln, mit denen Heil und Lindner die langfristige Rettung des Rentensystems und des Generationenvertrags erreichen wollen, haben sie im Gesetzentwurf glücklicherweise gleich mitgeliefert.
Die magische Zahl 48
Die beabsichtigte Stabilisierung des Rentenniveaus ist der Dreh- und Angelpunkt der Rentenreform. Dadurch soll sichergestellt werden, dass sich Verhältnis zwischen einer durchschnittlichen nominalen Rente – der sogenannten Standardrente, die mit 45 Versicherungsjahren auf Basis eines mittleren Einkommens erreicht wird – und dem durchschnittlichen nominalen Erwerbseinkommen eines Arbeitnehmers nicht unter 48 Prozent fällt.
Seit Ende der 1970er-Jahre ist das Rentenniveau von damals knapp 60 Prozent auf unter 50 Prozent Anfang der 2010er-Jahre gefallen. Wegen der seitdem günstigeren demografischen Entwicklung konnte es gerade so über dem nur noch bis 2025 gesetzlich festgelegten Mindestniveau von 48 Prozent gehalten werden.
Dieses Mindestniveau will die Bundesregierung nun bis Ende der 2030er-Jahre festschreiben. So würde erreicht, dass Erwerbstätige bei ihrem Renteneintritt auch zukünftig eine Rente beziehen, die in etwa halb so hoch ist wie ihr früheres Erwerbseinkommen.
Nach geltendem Recht würde das Rentenniveau ab etwa 2028 von derzeit 48,15 Prozent sehr zügig bis 2035 auf nur noch gut 45 Prozent sinken. Danach würde es sich nach Vorausberechnungen der Rentenversicherung bis 2045 bei knapp unter 45 Prozent stabilisieren.
Der Grund für das sinkende Rentenniveau liegt in der Rentenberechnung, denn seit 2005 wird in der Rentenanpassungsformel der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor berücksichtigt. Dieser bezieht erstmals die demografische Alterung in die Rentenberechnung mit ein, indem er die steigende Anzahl der Rentner im Verhältnis zu den Erwerbstätigen berücksichtigt.
Bei fortschreitender demografischer Alterung mindert der Nachhaltigkeitsfaktor die steigende Belastung der Beitragszahler, gleichzeitig wird jedoch das Rentenniveau zulasten der Rentner abgesenkt.
Die Idee dahinter ist ein Ausgleich zwischen den Generationen, denn so werden die Erwerbstätigen zwar mit steigenden Rentenbeitragssätzen belastet, jedoch nur gedämpft, weil die Rentner durch das sinkende Rentenniveau gleichermaßen einen Beitrag zur Erfüllung des Generationenvertrags leisten.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist die Rentenpolitik ausschließlich darauf ausgerichtet, die vermeintliche Ursache für die Probleme der Rentenfinanzierung – die demografische Alterung – durch eine möglichst intelligente und sozial gerechte Umverteilung zu bewältigen.
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Daher kreist die gesamte Rentendiskussion unaufhörlich um die sogenannten Haltelinien von mindestens 48 Prozent für das Rentenniveau und maximal 40 Prozent des Bruttolohns für die gesamten Sozialversicherungsbeiträge (also Renten-, Kranken- Pflege- und Arbeitslosenversicherung) deren Einhaltung je nach politischer Stoßrichtung für unabdingbar, zu hoch, zu niedrig oder als nicht sachgemäß eingestuft wird, um keine Bevölkerungsgruppe oder die Wirtschaft zu benachteiligen oder gar zu überlasten.
In der Sackgasse
Nun zeigt sich, dass das rentenpolitische Jonglieren in eine Sackgasse geführt hat. Denn indem man der demografischen Alterung ausschließlich mit Umverteilungsideen entgegengetreten ist, ist der Kern der sozialen Sicherungssysteme schleichend erodiert.
Es zeigt sich, dass das gesamte System zu implodieren droht, denn weder können proklamierte Haltelinien gehalten werden, noch sind Wohlstandseinbußen bei Rentnern und Erwerbstätigen bei Fortsetzung dieser Politik zu verhindern.
Denn die dieser Rentenpolitik zugrundeliegende sozialpolitische Prämisse, dass die gesellschaftliche Wohlstandsentwicklung stark genug ist, um den demografischen Wandel so aufzufangen, dass der allgemeine Lebensstandard steigt, trägt nicht mehr.
Spekulieren als Notlösung
Um das Rentenniveau von 48 Prozent dauerhaft abzusichern und die von Heil zu Recht befürchtete Erosion des Rentensystems zu verhindern, sollen nach seinen Reformplänen die Rentenbeitragsätze drastisch von derzeit 18,6 Prozent des Bruttolohns bis 2035 auf dann 22,3 Prozent angehoben werden.
Ab 2036 soll der bis 2045 drohende weitere Anstieg der Rentenbeitragsätze auf 22,7 Prozent vermieden werden, indem ein "Paradigmenwechsel" eingeleitet werde, so Lindner. Denn ab diesem Zeitpunkt soll neben die bisher (von Steuerzuschüssen abgesehen) ausschließlich umlagefinanzierte, also komplett aus laufenden Rentenbeiträgen finanzierte, Rentenversicherung erstmals ein Element der Kapitaldeckung getreten sein.
Ein noch aufzubauendes Kapitalvermögen der Rentenversicherung, das so bezeichnete "Generationenkapital", soll langfristig eine ausreichende Rendite zur Rentenfinanzierung abwerfen.
Der Finanzminister will die bisher relativ günstigen Zinskonditionen des deutschen Staates bei der Schuldenaufnahme nutzen, um neue Schulden wiederum spekulativ in die Kapitalmärkte zu investieren, sodass daraus hoffentlich eine höhere Rendite erwirtschaftet wird.
Ab 2036 sollen dann die jährlich erwirtschafteten Gewinne zur Rentenfinanzierung eingesetzt würden. Weitere Beitragsanhebungen könnten dann bis 2045 verhindert werden.
Um das gesetzliche Rentensystem – oder besser gesagt: das, was davon übrig ist – zu retten, läuft das Rentenpaket II einseitig darauf hinaus, die zusätzlichen Kosten zur Finanzierung der Renten auf die jüngeren Generationen abzuwälzen.
Mit höheren Beitragssätzen werden sie in vollem Umfang zur Finanzierung herangezogen, im Versprechen, dass auch sie dereinst von einem Rentenniveau von 48 Prozent profitieren werden.
Die anstehende Verrentung der Babyboomer wird jedoch nicht nur das Renten-, sondern das gesamte Sozialversicherungssystem stärker belasten. Es ist absehbar, dass bis 2035 auch die vom Bruttolohn abgehenden Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung mit derzeit 14,6 Prozent beziehungsweise 3,4 Prozent (bzw. vier Prozent für Kinderlose) spürbar ansteigen müssen, sofern auch dort Leistungskürzungen verhindert werden sollen.
Bereits im nächsten Jahr sollen die Abzüge vom Bruttolohn um 0,3 Prozent für die Pflegeversicherung und durchschnittlich 0,8 Prozent für die Krankenversicherung steigen, sodass dann einschließlich der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung mit derzeit 2,6 Prozent und zur Rentenversicherung mit 18,6 Prozent, insgesamt 42 Prozent vom Bruttolohn für die Sozialversicherung abgeführt werden – jeweils zur Hälfte durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Das "Generationenkapital", von Lindner großspurig als "Paradigmenwechsel" verkauft, ist nicht mehr als eine Schnapsidee. Er setzt das Geld der Steuerzahler aufs Spiel, wenn der Staat damit an den Kapitalmärkten spekuliert.
Da jedoch selbst bei optimistischsten Annahmen und unter der Prämisse, dass die Mittel nicht verloren gehen, gemäß Bundesregierung nur jährliche Erträge von zehn Milliarden Euro zu erwarten sind, die jährlich ausgezahlten Renten bis zu diesem Zeitpunkt aber auf gut 550 Milliarden Euro steigen, bewirkt dieser "Paradigmenwechsel" nicht mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein.
Die Jüngeren – überfordert!
Indem Heil und Lindner versuchen, die absehbaren zusätzlichen Lasten zur Sicherung des Rentensystems vollkommen auf die jüngere Generation abzuwälzen, begehen sie einen schweren Fehler.
Denn ihrer Umverteilungsstrategie liegt die Prämisse zugrunde, dass die jüngere Generation – genau wie alle vorangegangenen Generationen seit der in den 1830er-Jahren in Deutschland einsetzenden Industrialisierung – von einer prosperierenden Wirtschaft und steigenden Realeinkommen profitiert.
Tatsächlich steigen die Reallöhne jedoch seit Jahrzehnten immer weniger, bedingt durch das ebenfalls seit Anfang der 1970er-Jahre rückläufige Produktivitätswachstum. Und diese inzwischen verfestigte Stagnation der Arbeitsproduktivität wird sich unter den wirtschaftspolitisch und geldpolitisch von Bundesregierung und EZB seit Jahrzehnten gesetzten Rahmenbedingungen, auch nicht auflösen.
In der Folge sind die Reallöhne in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes seit der Finanzkrise 2008 durchschnittlich nur noch um etwa 0,4 Prozent pro Jahr gestiegen, bei obendrein stark sinkender Tendenz. Im letzten Jahr lagen die Reallöhne um mehr als fünf Prozent niedriger als noch 2019.
Aber auch für die Rentenempfänger ist die Stabilisierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent keine Gewähr für eine "verlässliche Rente", wie Heil und Lindner suggerieren. Ganz im Gegenteil: Denn bei sinkenden Reallöhnen ist das stabilisierte Rentenniveau nicht etwa, wie Heil behauptet, eine Gewähr für eine "verlässliche Rente", sondern ganz im Gegenteil eine Garantie dafür, dass auch die realen Renten im Gleichschritt sinken.
Schon heute können die Rentner ein Lied davon singen. Denn nachdem die Reallöhne seit 2019 deutlich gesunken sind, hat das gleichbleibende Rentenniveau dafür gesorgt, dass in den vergangenen drei Jahren die Renten in Ostdeutschland um real vier Prozent gesunken sind, in Westdeutschland sogar um mehr als sechs Prozent.
Erst in diesem Jahr kam es wieder zu einem leichten Anstieg der realen Renten.
Demografie: Ein Strohmann
Die geplante Rentenreform ist eine Milchmädchenrechnung, denn sie macht das Rentenniveau zum Dreh- und Angelpunkt einer vermeintlich zukunftsweisenden Verteilungspolitik, obwohl die gesellschaftlichen Wohlstandszuwächse zur Gestaltung dieser Umverteilung überhaupt nicht mehr erwirtschaftet werden.
In der Vergangenheit hat die auf Umverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands basierende Sozialpolitik funktioniert, weil sogar diejenigen, die abgeben mussten, sich wegen steigender Realeinkommen in aller Regel von Jahr zu Jahr dennoch besserstellten als zuvor.
Heute haben sich die Vorzeichen jedoch erstmals in der deutschen Geschichte seit den 1850er-Jahren gedreht: Statt Wohlstandszuwächsen müssen nun Wohlstandsverluste umverteilt werden. Um also diejenigen abzusichern, die verlieren, müssen wiederum andere abgeben, sodass deren Lebensstandard ebenfalls bedroht wird oder sogar sinkt.
Die sozialpolitische Umverteilungsagenda steht unter der inzwischen falschen Prämisse, dass die Wirtschaft – trotz zyklischer Krisen – per se und völlig selbstverständlich für langfristig steigenden gesellschaftlichen Wohlstand sorgt.
Ihre Fortführung gefährdet den Generationenvertrag, den Kern des Sozialstaats und letztlich auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Dennoch dreht sich die Rentendiskussion ausschließlich um die Frage, wie die demografische Alterung, die als vermeintliche Ursache der Rentenfinanzierungsprobleme gilt, durch eine möglichst geschickte und gerechte Verteilungspolitik zu bewältigen sei.
Wie eindimensional die Diskussion auf die Verteilung fokussiert ist und die Frage der Wohlstandserzeugung vollkommen ausgeblendet bleibt, zeigt sich schließlich darin, dass selbst aus der Wirtschaft und von Ökonomen keine Kritik an der ausschließlich auf Umverteilung ausgerichteten Agenda kommt.
So will etwa Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger die rentenpolitische Sackgasse durch Umverteilung in eine seinem Verband genehmere Richtung lösen. Der Bundesarbeitsminister wolle mit dem vorgeschlagenen Rentenpaket "die Kosten des demografischen Wandels komplett auf die Beitragszahler abwälzen", so Dulger. Das sei jedoch "das Gegenteil einer generationengerechten Politik" und zudem "langfristig nicht finanzierbar".
Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrats, bemängelt ebenfalls, dass die Reform zulasten der Beitragszahler und der Steuerzahler gehe und plädiert unter anderem für die Anpassung des Nachhaltigkeitsfaktors sowie für die die Kopplung des Renteneintrittsalters an die längere Lebenserwartung, um eine bessere Verteilung der Kosten des demografischen Wandels zu erreichen.
So gelingt der Generationenvertrag
In der Vergangenheit wurde die demografische Alterung, die in Deutschland bereits seit der Industrialisierung voranschreitet, nicht als Ursache sozialer Probleme gesehen, sondern im Gegenteil sogar als sozialer Fortschritt begriffen.
Seit dem Rückgang der Geburtenraten, der in Deutschland bereits um 1870 einsetzte, und der damals beginnenden deutlichen Verbesserung von Ernährung und Gesundheit, altert die Gesellschaft.
So ist die Anzahl der über 65-Jährigen im Verhältnis zu den Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 64 Jahren seit 1870 von weniger als 10 zu 100 auf knapp 20 zu 100 in den 1950er-Jahren und inzwischen deutlich über 30 zu 100 gestiegen.
Bis 2035 wird der Altenquotient auf etwa 50 zu 100 ansteigen und sich dann auf diesem Niveau stabilisieren. Weil es in den vergangenen etwa 150 Jahren gelungen ist, die Arbeitsproduktivität um durchschnittlich etwa 1,5 Prozent jährlich zu heben, sind Reallohnsteigerungen erreicht worden, die jeweils zur Verdopplung des allgemeinen Wohlstands innerhalb von ein bis zwei Generationen geführt haben.
So war es problemlos möglich, auch dem relativ steigenden Anteil der nicht produktiven Bevölkerung einen immer höheren Lebensstandard zu ermöglichen.
Die historische Rückblende zeigt, dass der Schlüssel zur Lösung des Rentenproblems nicht etwa die Anpassung der Sozialsysteme an eine politisch kaum beeinflussbare demografische Entwicklung ist, sondern dass er in der Gestaltung der gesellschaftlichen Produktion liegt, also in der Wirtschaftspolitik.
Heute werden die in der schwachen Entwicklung der Arbeitsproduktivität liegenden wirtschaftlichen Ursachen der Rentenproblematik jedoch ignoriert oder als unabänderlich hingenommen.
So erscheint die wirtschaftliche Entwicklung nicht als soziale Variable, die sich gesellschaftlich beeinflussen lässt, sondern als hinzunehmendes Faktum. Damit verengt sich die Rentendiskussion zwangsläufig auf eine reine Verteilungsdiskussion.
Es geht nicht darum, den Wohlstand zu mehren, sondern nur darum, den vorhandenen Wohlstand anders zu verteilen. Ein Problem sozialer Organisation – denn nichts anderes ist die Art und Weise des Wirtschaftens – wird über den Demografiediskurs zu einem quasi-natürlichen Problem umgedeutet.
Obwohl staatliche Institutionen durch Wirtschafts- und Ordnungspolitik maßgeblichen Einfluss auf die Ergebnisse der privatwirtschaftlichen Wertschöpfung ausüben, bleibt dieser Bereich ausgeklammert.
Die Rentenpolitik der vergangenen Jahre und sogar Jahrzehnte hat in eine Sackgasse geführt. Nicht die Verteilung des stagnierenden und zukünftig sinkenden Wohlstands ist falsch geregelt, sondern die eigentliche politische Aufgabe wird gar nicht erst adressiert: Warum gelingt es der deutschen Wirtschaft nicht mehr, für steigende Arbeitsproduktivität und steigenden Wohlstand für alle zu sorgen?
Alexander Horn ist selbstständiger Unternehmensberater und Publizist. Er lebt in Frankfurt am Main und publiziert mit Fokus auf wirtschaftspolitische Themen sowie zu Meinungsfreiheit und Demokratie.
Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter "Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind" und "Experimente statt Experten: Plädoyer für eine Wiederbelebung der Demokratie".
Horn schreibt Kommentare und Essays unter anderem für Novo-Argumente, Wirtschaftswoche, NZZ und Telepolis.