Wozu Raumfahrt?

Seite 3: Astronautik als Überlebensstrategie

Astropolitische Entwürfe mit Zielvorstellungen für politische Ordnungen haben zwar ihren Platz auch im populären Raumfahrtdiskurs. An das Übergewicht wissenschaftlich-technischer Perspektiven reichen sie jedoch bei weitem nicht heran. Dieser naturwissenschaftliche Zusammenhang ist es, vor dessen Hintergrund die mit Abstand ambitioniertesten, existenziellen Zwecke der Raumfahrt formuliert worden sind. Denn die empirische Forschung hat fortschreitend die natürlichen Bedrohungen, denen das menschliche Leben auf der Erde ausgesetzt ist, einsichtig gemacht und damit den endgültigen Aufbruch als einzige Möglichkeiten in Aussicht gestellt, um langfristig den Fortbestand der Art zu gewährleisten.

Das gängige Set an Katastrophenszenarien, das möglicherweise jedwede Gegenmaßnahme oder Anpassungsstrategie scheitern ließe, besteht aus Meteoriteneinschlägen, Eruptionen von Supervulkanen und Klimaveränderungen, die zu neuen Eiszeiten führen. Aber auch anthropogene Gefahren werden angeführt, um den Forderungen nach strategischer Ausrichtung auf extraterrestrische Kolonisierungsvorhaben Nachdruck zu verleihen: Überbevölkerung, durch menschliche Aktivität befeuerte Heißzeiten oder auch die eigenen technischen Entwicklungen etwa in Form von Waffensystemen, Konstruktionen der synthetischen Biologie oder künstlichen Superintelligenzen, die sich eines Tages gegen ihre Schöpfer stellen könnten, gehören in diesen Kontext.

Welchem Ereignis man aus dieser Endzeitpalette auch den Vorzug geben mag, gegen die Evidenz der Vergänglichkeit humantauglicher Lebensbedingungen auf der Erde ist schwerlich etwas anzuführen. Die Fortexistenz einer langlebigen Zivilisation sei also nur jenseits der atmosphärischen Komfortzone zu haben, bestenfalls durch Streuung von Populationen zur Minimierung der Vernichtungswahrscheinlichkeit im All.

Eines der meistbehandelten Hauptprobleme solcher Besiedelungsprojekte stellt sich unabhängig davon, ob als neue habitable Zonen bezugsfertige Himmelskörper zur Verfügung stehen, planetare Ökosysteme erst umgestaltet beziehungsweise aufgebaut werden müssen oder ob die Lebensräume der Zukunft in artifiziellen Hüllen liegen. Denn in jedem Fall sind die zu überbrückenden Distanzen und die damit voraussichtlich verbundenen Reisezeiten von mehreren Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten Herausforderungen, für deren Bewältigung es noch keine überzeugenden und praktikablen Lösungen gibt.

Unter den Vorschlägen finden sich beispielsweise die technische Aufrüstung menschlicher Organismen, etwa zur Verlängerung individueller Lebensspannen, Multi-Generationenschiffe und Tiefkühlschlaf. Auch die Entsendung von Embryonen in den Raum - getragen von der Hoffnung, sie könnten irgendwo einmal zum Leben erweckt werden - wird als ferne Möglichkeit gehandelt für den langen Weg, auf dem die Erdenbewohner sich zu einer Lebensform in solaren, galaktischen und schließlich universalen Maßstäben entwickelten.

Dabei könnte sich jedoch herausstellen, dass die dauerhafte Trennung von der Erde nur um den Preis des Abschieds vom hergebrachten Hominidenmodell zu haben wäre. In diese Kerbe schlägt beispielsweise die transhumane Fantastik, die auch für die Transportschwierigkeiten der "bemannten" Raumfahrt deutlich elegantere Lösungen zu bieten hat. Denn mittels "Mind Uploading" könne womöglich eines Tages reines Bewusstsein durch das All geschickt werden, unter Umständen mit der Option, es an einem Zielort in einen biotechnischen Träger zu reintegrieren.

Wie auch immer die Fernreisen bewältigt werden könnten, als Krönung erscheint zuweilen die Aufnahme in einen möglicherweise bereits bestehenden "galaktischen Club kommunizierender Zivilisationen", wie er etwa Marsiske in seiner oben genannten Monographie vorschwebt.

Ein technoreligiöses Projekt

Mit der Flucht vor lebensfeindlichen Bedingungen und verhängnisvollen Ereignissen auf der Erde ist die Sache allerdings nicht erledigt. Die wirklich überwältigenden Untergangsszenarien spielen sich in ganz anderen zeitlichen und räumlichen Größenordnungen ab. Dass sie als reale Ereignisse, nicht bloß als Simulationen, dennoch Relevanz für die menschliche Spezies haben könnten, ist vieles zugleich: kühne Behauptung, vage Hoffnung, rhetorischer Kniff.

Es geht um sterbende Sterne, kollidierende Galaxien und letztlich um das Ende des Universums in unterschiedlichen Varianten. Was also, wenn auch maximale Ausbreitung in intergalaktischen Dimensionen als Überlebensstrategie versagt? Den Abgang durch die letzte Hintertür in einigen Milliarden Jahren hat jüngst Michio Kaku in "Abschied von der Erde" skizziert: durch den Hyperraum in ein anderes, jüngeres Universum, und zwar per planvollem Transfer. Denn dank eines olympischen Blickes über das Multiversum könne es gelingen, ein neues Weltall zu wählen, das geeignete Bedingungen biete, um die Geschichte der Art weitergehen zu lassen.

Die Entfristung des Daseins läge damit im Nomadentum, in der Rückkehr zu einer frühen humanen Lebensform, die nun von einem sterbenden Kosmos zum nächsten zöge und so ihrer Endlichkeit zu entgehen hoffte.

"Ewiges Leben" ist ein wiederkehrender Topos der Raumfahrtliteratur, mit dem das Gebiet auch der Wissenschaftsfiktion überschritten wird. Ebenso bei Kaku, wenn unser Schicksal für ihn darin besteht, durch technische Ermächtigung "zu den Göttern zu werden, die wir einst fürchteten und verehrten". Der Raumfahrtdiskurs knüpft hier nicht nur an mythische Gedankenwelten an, sondern zieht auch die großen und letzten Sinnfragen in seinen Kreis. Er wird zum Trost- und Hoffnungsspender gegen die ultimative Zumutung des Gedankens, dass nichts bleiben und alles vergebens gewesen sein wird. Dabei scheint der Glaube an den technischen Fortschritt eine Leerstelle zu füllen und etwas zu übernehmen, das sonst der Religion vorbehalten war: Hilfe bei der Nihilismusbewältigung, Gewährung von Aussichten auf letzte Geborgenheit, Seelsorge mithin.