Wozu dient der Gipfel in Helsinki?

Vladimir Putin und Donald Trump beim G20-Gipfel in Hamburg (2017). Bild: Kremlin.ru / CC-BY-SA-4.0

Putin und Trump treffen sich, ohne dass es etwas zu besprechen gibt. Vorhanden wären dagegen Motive für ein Attentat - auf Putin

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Dieser Artikel ist weder Kommentar noch Nachricht und enthält keine privilegierte Information. Er ist vielmehr ein Versuch, die jüngsten weltpolitischen Entwicklungen einzuordnen und aus den letzten siebzig Jahren zu lernen.

Einsichten aus der Weltgeschichte für die Zukunft zu gewinnen, ist ein schwieriges Unterfangen. Wie der Philosoph Nassim Taleb schreibt, stellt sich der Lauf der Welt einem Beobachter aus der Perspektive eines fahrenden Zuges dar, wenn man aus dem letzten Waggon nach hinten sieht. Es ist praktisch unmöglich, genau vorauszusehen, was als nächstes ins Blickfeld gerät, erst in der sich entfernenden Gesamtschau ergibt das Bild einen Sinn.

Taleb hat in seinem Bestseller Der schwarze Schwan die Macht von unwahrscheinlichen, unvorhergesehenen aber schwerwiegenden Ereignissen thematisiert, den Lauf der Welt grundlegend verändern können. Dazu zählt er unter anderem die Terroranschläge vom 11. September, aber auch positives wie die Entdeckung der Quantenmechanik oder die Entwicklung des Internets.

Aber zurück zur Gegenwart. Gibt es denn an dem geplanten Treffen der Präsidenten irgendetwas Besonderes? Wohl insofern, als die zwei mächtigsten Staatschefs der Welt die Beziehungen zwischen ihren Ländern verbessern wollen, ohne dass sie in ihrer jeweiligen Regierungsumgebung dafür besonderen Rückhalt haben. Diese Situation bestand wohl zuletzt 1963 zwischen Chruschtschow und Kennedy, obwohl andere Umstände sehr verschieden sind.

Russiagate 1963

Geschichte verstehen heißt, Ereignisse in ihrem logischen Zusammenhang sehen, der sich oft erst nach langer Zeit, nach Öffnung der entsprechenden Archive, offenbart. Zu den Hintergründen der Ermordung von Präsident John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas werden in den Büchern JFK and the Unspeakable, The Devil’s Chessboard oder auch in Markus Kompas Cold War Leaks sensationelle Zusammenhänge genannt.

So befand sich Kennedy ab 1961 in einem offenen Konflikt mit der CIA, die mit der absichtlich dilettantisch geplanten Invasion in der Schweinebucht versucht hatte, ihn zu einem Krieg gegen Kuba zu zwingen. Zum Entsetzen der Militärs weigerte sich Kennedy, und löste auch die Kubakrise 1962 friedlich.

Während die CIA Castro umzubringen versuchte und Kennedys Generäle ihn zu einem nuklearen Erstschlag gegen die Sowjetunion überreden wollten (er zeichnete die Gespräche heimlich mit einem Tonband unter seinem Schreibtisch auf), korrespondierte Kennedy heimlich mit Chruschtschow und warnte ihn vor einem Putsch in den USA (!).

I will splinter the CIA in a thousand pieces and scatter it to the winds

John F. Kennedy

Zu den bizarren Umständen seiner Ermordung und den zahlreichen Vertuschungen bei der nachfolgenden Untersuchung gibt es viel, in ihrer Detailliertheit auch verwirrende Literatur. Heute aber noch überzeugt zu sein, Kennedy sei nicht von seinen eigenen Leuten, sondern von einem verwirrten Einzeltäter umgebracht worden, kommt aber dem Glauben an den Weihnachtsmann gleich.

Was hat das alles mit der heutigen Situation zu tun? Ebenso wie damals sind die Macht- und Interessenlagen der US-Regierung von außen schwer zu ergründen. Fest steht lediglich, dass die USA weltweit als größtes Risiko für den Weltfrieden wahrgenommen werden und interessiert daran zu sein scheint, Konflikte aller Art zu entfachen und zu schüren.

Man hat so den Eindruck, die USA wären momentan an allen Ecken der Welt mit einer großen Fackel unterwegs und würden überall den Wald anzünden.

Dirk Müller

Zugzwang auf dem Schachbrett des Teufels

Nach den Ursachen für diese politischen, wirtschaftlichen und militärischen Verrücktheiten zu suchen, wäre eine wichtige Aufgabe gegenwärtiger Politik und natürlich auch der Medien, die es aber meist bevorzugen, sich zum Sprachrohr irrationaler Hetze zu machen.

Das erratische Gebaren der US-Regierung, bar jeder humanitären, technischen oder sonstigen globalen Vision, liegt vielleicht wirklich daran, dass ihre finanzielle Situation desolat und eine Staatspleite nur aufgrund besonderer Umstände noch nicht eingetreten ist. Geld drucken, wie es auch andere westliche Zentralbanken praktizieren, funktioniert aber nur so lange, wie der US-Dollar international noch als Leitwährung fungiert.

Es ist aber offensichtlich, dass diese Halteschraube zu rosten beginnt. Symptomatisch dafür ist zum Beispiel eine um sich kreisende G-7 von hochverschuldeten Ländern, die in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung gegenüber der Shanghai-Union (Russland, China, Indien u.a.) längst zurückgefallen sind. Besonders Russland und China leiten das Ende der Dominanz des US-Dollar ein, indem sie Ölgeschäfte in anderen Währungen abwickeln (was kleineren Ländern wie Libyen oder Venezuela nicht gut bekommen ist, Iran ist gerade auf der Zielscheibe). Realistisch gesehen sind im Zeitraum von allerhöchstens ein bis zwei Jahrzehnten die Tage des US-Imperiums gezählt - wenn nicht etwas passiert.

Eine Möglichkeit, von dieser Aussicht abzulenken und weltweit Unsicherheit, Schrecken und Kriegsangst zu verbreiten, wäre ein Attentat auf Putin. Entgegen den Kampagnen in den Medien hat er in den letzten Jahren sich durchweg deeskalierend verhalten und ist damit zu einem besonnenen, aber bestimmten Gegenspieler der USA geworden.

Gute schlechte Gründe

Fast scheint es so, als ob den USA auf der Welt der Stoff zum Unruhe stiften ausgeht (angeblich geht sogar die Munition aus). Den Terror gibt es nicht mehr so richtig und vor allem glaubt an den Krieg dagegen kaum mehr jemand, das Thema IS und islamistische Anschläge ist eigentlich durch. Die Marionettenregierung in Kiew schürt zwar den Ukraine-Konflikt, aber ohne großen Erfolg, Assad ist dabei, seine Macht in Syrien wiederherzustellen und das Theater mit Nordkorea beendet.

Mögliche Fantasien von einem nuklearen Erstschlag (wie sie sich Kennedy 1962 anhören musste) hat Putin mit der Vorstellung der Hyperschallwaffen im März gründlich verdorben. Aber auch die Öffentlichkeit lässt sich nicht mehr so leicht für dumm verkaufen. Beim letzten "Chemieangriff", infolgedessen Trump unter medialem Beifall seine Tomahawk-Raketen abschickte, sickerte die Inszenierung durch, der Skripal-Fall wird nur mehr als eine lächerliche Lügengeschichte wahrgenommen, nicht zuletzt wegen der massiven russischen Gegenwehr in der Öffentlichkeit (die natürlich als Desinformation diffamiert wird).

Überhaupt ist Putins öffentliches Auftreten ein permanentes PR-Desaster für die USA, sobald man die irrationalen Artikel in der westlichen Presse beiseitelegt und sich aus Primärquellen informiert. In Pressekonferenzen stellt sich Putin auch den aggressivsten Fragen mit sachlichen Antworten; In seinen Statements und Interviews wirkt er sachkundig, gebildet und schlagfertig und hat sogar die Geduld, die an den Haaren herbeigezogenen Anschuldigungen amerikanischer Starjournalisten mit Argumenten zu zerpflücken.

Mit Trump als mehr oder weniger willkommenem Kollateralschaden würde die Beseitigung Putins dem "tiefen Staat" bzw. der "permanenten Regierung" der USA zweifellos entgegenkommen. Russlands Achillesferse ist hierbei, dass Putin noch keinen Nachfolger aufgebaut hat, dem man vergleichbare Fähigkeiten zutraut und insofern die Politik des Landes durch seine Ermordung tatsächlich geändert werden könnte. Sechs Jahre, für die Putin gerade mit überwältigender Mehrheit bestätigt wurde, sind eine lange Zeit, wie der Biograf von John F Kennedy angesichts dessen wahrscheinlicher Wiederwahl 1964 treffend bemerkte.

Entspannung oder Strippen ziehen?

Tatsächliche Indizien für einen bevorstehenden Anschlag gibt es kaum. Angeblich war Wien von der russischen Seite als Treffpunkt vorgeschlagen worden, sollte Helsinki von den USA ins Spiel gebracht worden sein, wäre vielleicht ein bisschen Vorsicht angebracht. Auch deswegen, weil das Treffen von John Bolton eingefädelt wurde.

Bei jemandem, der offen für einen Überfall auf dem Iran eintritt und sich nicht scheut, seine ohnehin widerlichen politischen Ziele durchzusetzen, indem er die Familien von nicht willfährigen Diplomaten bedroht, kann man sich lediglich fragen, ob bei ihm die kriminelle oder die psychopathische Seite überwiegt; sogar George H.W. Bush, der 41. US-Präsident, hatte den notorischen Kriegstreiber zu den "Verrückten" gezählt.

Beunruhigend ist in jedem Fall, dass gerade Bolton vor kurzer Zeit in Trumps Team installiert wurde, ebenso wie Außenminister Mike Pompeo, der ehemalige CIA-Chef und späte Nachfolger von Allan Dulles. Immerhin wurde Trump, der Putin seit Beginn seiner Amtszeit sehen will, erst nach geraumer Vorbereitungszeit ein Treffen erlaubt.

Mit Pompeo im Vorfeld verhandeln möchte übrigens Lawrow, in der vielleicht naiven Erwartung, das Treffen würde ein Ergebnis erzielen. Welches eigentlich mit einem Westen, der nur rüsten will? Hat Trump dabei wirklich etwas zu sagen? Und was bringen eigentlich Verhandlungen mit einem Staat, der ohnehin alle internationalen Abkommen mit Füßen tritt? Insofern ist das Treffen von Helsinki eigenartig perspektivlos.

Ideale Bedingungen für Cover-up

Ein Attentat in diesem Format hätte aber den "Vorteil", dass ein gleichzeitiger Tod Trumps die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Ziel Putin ablenken und eine ganz neue Dimension von Vertuschung ermöglichen würde. Man könnte den IS, den Iran oder gar China beschuldigen, russische Oppositionelle oder Oligarchen, den Verlierer des WM-Finales am Vortag oder irgendeinen anderen Blödsinn erfinden, notfalls sogar einen verrückten Einzeltäter, bei dessen Rekrutierung das FBI auch aktuell noch Erfahrung hat (seine Verhaftung würde er natürlich kaum überleben). Wahrscheinlicher wäre allerdings eine ferngezündete Bombe oder eine Drohne, ohnehin eines der letzten Exportgüter der USA.

Die Börse würde sich jedenfalls wohl bald wieder erholen, und man kann sich ausmalen, wie nach züchtiger zeitlicher Distanz die New York Times dem Ereignis auch positive Aspekte abgewinnen kann… aber gut, bringen wir die "Verschwörungstheorie!"-Rufer nicht zum Hyperventilieren, es ist ja alles - wirklich - unwahrscheinlich. Da Satzzeichen bekanntlich aber Leben retten können ("wir essen jetzt, Opa!"), fügen wir den vielen Warnungen der Mainstream-Presse "Vorsicht Putin!", "Vorsicht Putin!", "Vorsicht Putin!" hier ein "Vorsicht, Putin!" hinzu.

Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor.