Wozu überhaupt noch Demokratie?

Seite 2: In allen entwickelten repräsentativen Demokratien wächst die Armut

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Die Kluft zwischen Arm und Reich ist tiefer geworden und wird weiter immer tiefer. Große Teile der Bevölkerung leben in bitterer Armut. Selbst in relativ reichen Ländern wie Deutschland.

In allen entwickelten Demokratien wächst die Armut. Kinder aus armen und bildungsfernen Schichten haben deutlich schlechtere Chancen als Kinder aus bürgerlichen Familien. Eine wachsende Zahl von Bürgern kann sich und ihre Familien von ihrer Hände Arbeit nicht oder kaum noch ernähren. Altersarmut breitet sich aus, weil viele Rentner von ihren Renten nicht mehr leben können.

Die gestern und heute lebenden Generationen haben die Einkünfte künftiger Generationen schon heute aufgezehrt und zehren sie ungerührt weiter auf. Der Mittelstand wird in einem sich über Jahrzehnte erstreckenden Prozess buchstäblich zwischen den Fronten zerrieben - als direkte Folge des demokratischen Systems; denn er ist die einzige verbliebene große Sozialschicht, die einstweilen noch ohne gar zu großes Risiko ausgesaugt werden kann. Doch wie lange noch?

Die Unterschicht ist weitgehend zerschröpft und muss sogar vom Staat alimentiert werden. Und die oberste Oberschicht lässt sich nicht ohne ein für die politische Kaste viel zu hohes Risiko anzapfen. Davor schreckt die ach so demokratische Politik zurück. Die wahren Herrscher im System bleiben unangetastet.

Der Abstand der wirklich Reichen vom Rest der Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten in geradezu exponentiell gewachsen. Er hat längst Ausmaße erreicht, die alle Vorstellungen sprengen.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Dies kann man ausnahmsweise nicht den demokratischen Systemen der entwickelten Welt zur Last legen. Aber man kann ihnen zur Last legen, dass sie der Ausbreitung einer Plutokratie nicht Einhalt gebieten.

Die entwickelten Demokratien tun nichts dagegen, dass die Herrschaft der Superreichen die fromme Mär widerlegt, wir lebten in einer Leistungsgesellschaft; denn die wirklich Reichen aller Länder haben ihre Vermögen nicht durch Leistung und schon gar nicht durch Arbeit, sondern durch Erbschaft erworben. Und sie erhalten und mehren es auch nicht durch Leistung und Arbeit. Ihr Kapital erhält und mehrt sich ganz von selbst - wenn auch mit tatkräftiger staatlicher Förderung. Die demokratische Politik ist nicht viel mehr als ein williger Helfer der Plutokratie.

Noch 1970 gehörten dem reichsten Zehntel der bundesdeutschen Gesellschaft 44 Prozent des gesamten Volksvermögens. 2012 gehören ihm über 66 Prozent.

Einem einzigen Prozent der Bevölkerung gehören heute 35,8 Prozent des Vermögens, das heißt, sie besitzen mehr als die ärmeren 90 Prozent der Menschen. Denen gehören zusammen nämlich nur 33,4 Prozent des gesamten Vermögens.

Die entwickelten Demokratien sind keine Leistungsgesellschaften

Die Superreichen des Geldadels arbeiten nicht und sie leisten nichts. Sie lassen ihr Kapital arbeiten. Sie sind keine Unternehmensgründer und auch keine Unternehmenslenker. Sie sind Anleger und verwalten das Vermögen, das ihre Väter und Großväter geschaffen haben.

Doch Geldvermehrung durch Vermögensverwaltung ist keine Leistung. Die Geldelite ist auch keine Leistungselite. Die demokratische Politik hat diese gigantische Umverteilung von unten nach oben auf jeden Fall nicht verhindert. Im Gegenteil, sie hat nach Kräften mitgeholfen, sie wachsen und gedeihen zu lassen.

Die entwickelten Demokratien sind keine Leistungsgesellschaften mehr. Sie haben sich selbst von Leistungsgesellschaften zu ergebenen Dienern und Handlangern des Kapitals gewandelt.

Wer mit seinem Vermögen Geld verdient, zahlt pauschal 25 Prozent Kapitalertragssteuer. Wer sein Einkommen durch Arbeit erzielt, zahlt hingegen bis zu 45 Prozent.

Das demokratische System schafft keine Gerechtigkeit. Es schafft krasse Ungerechtigkeit und lässt sich davon auch durch nichts abbringen. Im Gegenteil: Es perpetuiert sie. Die entwickelten Demokratien bestreiten inzwischen gar, dass sie überhaupt dafür zuständig sind, soziale Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen.

Die Superreichen tragen in immer geringerem Maße zum Gemeinwohl bei, obwohl sie für sich selbst doch so gern das Bild von der Lokomotive in Anspruch nehmen, die den Zug des allgemeinen Wohls in Fahrt bringt. Doch sind sie noch nicht einmal ein Bummelzug, sondern nichts als eine Riesenbremse.

1960 trugen die Gewinnsteuern der Kapitaleigentümer etwa 35 Prozent zu den Einnahmen des Staats bei, während die Massensteuern der arbeitenden Menschen nur ein bisschen mehr aufbrachten, nämlich 38 Prozent. Zwischen Kapital und Arbeit herrschte damals noch so eine Art fragiles Gleichgewicht.

Die Zeiten sind längst vorüber. Das Gleichgewicht ist gekippt. Die fortschreitende Entwicklung der Demokratien hat überall den gleichen Prozess in Gang gesetzt: Die Reichen werden reicher. Alle anderen werden ärmer.

Heute zahlt das Gros der Bevölkerung mit seinen Massensteuern 71 Prozent des gesamten Steueraufkommens. Die Gewinnsteuern liegen unter 20 Prozent. Also wächst der Reichtum des Geldadels ganz von selbst. Er braucht nicht einmal selbst etwas dafür zu tun. Er kann sich hinsetzen und dabei zuschauen, wie sein Vermögen blüht und unaufhörlich wächst. Und das wächst schneller als das Gras im Sommerregen.

Die oberste Oberschicht ist fein ‘raus. Den Staat finanzieren die arbeitenden Menschen aus der Mittelschicht. Die Angehörigen der obersten Oberschicht tragen noch nicht einmal richtige Peanuts dazu bei. Doch wie lange wird das noch möglich sein, wenn die Mittelschicht weiter schrumpft? Denn deren Wohlstand sinkt.

Hier zeigt sich einmal mehr die selbstzerstörerische Eigendynamik der entwickelten Demokratien. Die einzige Bevölkerungsschicht, auf der das politische und wirtschaftliche System dauerhaft ruht, wird nach und nach von den Rändern her angefressen und aufgezehrt. Und das wird so lange gehen, bis die Mittelschicht im Kern vernichtet ist.

2010 jedenfalls hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer Studie festgestellt, dass der Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung allein in den zehn Jahren von 2000 zu 2010 um vier Prozentpunkte geschrumpft ist. Nach den DIW-Zahlen aus dem Sozioökonomischen Panel - einer Langzeitbefragung von rund 11.000 Haushalten in Deutschland - sank der Anteil der Mittelschicht seit 2000 von 64 bis auf 60 Prozent der Bevölkerung mit einem Nettoeinkommen zwischen 860 und 1.844 Euro.

Zugleich stieg der Anteil der unteren Einkommensschicht von 18 auf 22 Prozent. Die Schere öffnet sich langfristig und auf Dauer. Die preisbereinigten Nettoeinkommen aller Beschäftigten in Deutschland gingen zwischen 2000 und 2010 um 2,5 Prozent zurück.

Besonders drastisch sanken die Einkommen von Geringverdienern. Sie verdienten 2010 zwischen 15,6 und 21,9 Prozent weniger als noch zur Jahrtausendwende. Von den Zuwächsen bei der Wirtschaftsleistung der zehn Jahre zwischen 2000 und 2012 ist bei den Erwerbstätigen nichts angekommen.

Sehr deutlich stiegen hingegen die Einkommen aus Gewinnen und Kapitalvermögen. Der Mehrheit der Bevölkerung in den entwickelten Demokratien geht es in jeder Hinsicht immer ein bisschen schlechter. Die demokratischen Systeme von den USA über Europa bis hin nach Japan schaffen es nicht, die Wohlfahrt der Menschen zu verbessern.

Auch nach einer 2012 veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung schrumpft die Mittelschicht in Deutschland seit 1997 dramatisch. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ging in 15 Jahren um 5,5 Millionen Menschen zurück. Damit gehören statt 65 nur noch 58 Prozent der Deutschen dem Mittelstand an.

Besonders stark ist der Rückgang in der unteren Hälfte der Einkommensmittelschichten, deren Anteil sogar um 15 Prozent sank. Umgekehrt gibt es knapp vier Millionen Menschen mehr, die zu den unteren und untersten Einkommensschichten zählen.

Zur Mittelschicht zählen die Forscher Ein-Personen-Haushalte mit einem monatlich verfügbaren Einkommen von 1.130 bis 2.420 Euro. Für einen Vier-Personen-Haushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegen die Grenzen bei 2.370 und 5.080 Euro. Die Zahlen basieren auf dem Sozio-Ökonomischen Panel für 2010, für das 20.000 Erwachsene befragt wurden.

Danach macht sich in den Mittelschichten inzwischen jeder Vierte Sorgen, seinen Status zu verlieren. Das sind deutlich mehr Deutsche als noch vor zehn Jahren. Außerdem gelingt immer weniger Menschen der Aufstieg aus den unteren Einkommen in die Mittelschicht. Selbst eine gute Ausbildung ist kein Garant mehr für ein Leben in gesichertem Wohlstand. Hingegen sind die unteren Einkommen der Mittelschicht gefährdet, in einkommensschwache Bereiche abzurutschen.

"Aufwärtsmobilität auf breiter Front ist eine Grundvoraussetzung für die Soziale Marktwirtschaft und den Zusammenhalt der Gesellschaft", betont der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung Aart De Geus. "Alle müssen eine realistische Chance haben, durch eigene Anstrengung die ökonomische Leiter hinaufzuklettern."

Die Studie zeigt auch: Nach dem Abstieg aus der Mittelschicht, fällt es heute schwerer, wieder in höhere Einkommensschichten aufzusteigen. 70 Prozent der unteren Einkommen finden sich nach drei Jahren immer noch in der gleichen Schicht wieder (2000: 67 Prozent). Eine ähnliche Tendenz ist für hohe Einkommen zu erkennen (2000: 66 Prozent, 2010: 74 Prozent). Das Risiko, eine hohe Einkommensschicht wieder zu verlassen, hat sich also verringert.

Auch die Steuerpolitik ist den Forschern zufolge dafür verantwortlich, dass die Mittelschicht schrumpft. Von den Steuerreformen der 1990er Jahre haben vor allem Reiche profitiert. Die Mittelschicht wurde deutlich weniger entlastet. Arbeitsmarktreformen und der Rückgang normaler Arbeitsverhältnisse seien eine weitere Ursache. Die entstandenen atypischen Beschäftigungsverhältnisse sind in der Regel durch eine unterdurchschnittliche Entlohnung gezeichnet.

Die großen demokratischen Hoffnungen, die einst gegen Ende der Diktaturen des 20. Jahrhunderts in die Demokratien gesetzt wurden, sind zutiefst enttäuscht worden. Eine scheindemokratische Oberfläche verdeckt nur notdürftig undemokratische Strukturen.

Wir leben längst wieder in einem Herrschaftssystem, das nur noch formal eine Art Demokratie ist. Soziologen wie Sighard Neckel befassen sich seit langem mit der Thematik. Das "Schrumpfen der Mittelschicht", die "Erosion des Leistungsprinzips" und die "Refeudalisierung" der Gesellschaft sind Standardthemen der Soziologie demokratischer Länder.

Was hat die vermeintliche Volksherrschaft dem Volk gebracht? Ein in reinen Formalismen erstarrtes politisches System, in dem das Volk nichts zu sagen hat und das in Wahrheit eine Herrschaft über das Volk darstellt, hinter deren scheindemokratisch polierter Fassade soziale Ungerechtigkeit, Chancenungleichheit, Armut und soziales Elend sich ständig und unaufhaltsam weiter ausbreiten.

Die gewählten Repräsentanten des Volks sehen dem unwürdigen Schauspiel hilflos zu. Sie sind nicht in der Lage, etwas dagegen auszurichten; denn sie haben nicht die Macht und auch nicht das Interesse, grundlegende Veränderungen durchzusetzen.

Doch dem breiten Volk in allen entwickelten Demokratien geht es immer schlechter. Es ist ein Skandal, dass in einem der reichsten Länder der Welt jedes siebte Kind unter 15 Jahren, in Ostdeutschland sogar jedes vierte Kind von Hartz IV leben muss. In Berlin ist jedes dritte Kind auf Hartz IV angewiesen.

Im Ruhrgebiet liegt die Kinder-Armutsquote bei steigender Tendenz mit 25,6 Prozent sogar noch deutlich höher als in Ostdeutschland. Trauriger Spitzenreiter im Städtevergleich ist Gelsenkirchen mit einem Anteil von 34,4 Prozent armer Kinder. In Städten wie Mülheim oder Hamm wuchs die Kinderarmut in den fünf Jahren von 2007 auf 2012 um bis zu 48 Prozent. Die Demokratie beschert dem Volk die nachhaltige Pauperisierung ganzer Generationen.

Die Armutsquote beträgt im Bundesdurchschnitt 14,9 Prozent. Für eines der reichsten Länder der Welt ist das eine Schande. Es ist dies aber nicht das Werk eines finsteren Diktators, der sein Volk aussaugt.

Es ist das Werk einer durch das System des repräsentativen Parteienstaats ermöglichten, teils gewissenlosen, teils gleichgültigen und teils einfach auch nur hilflosen und unfähigen Politikerkaste, die sich ständig mehr mit sich selbst beschäftigt und der das eigene luxuriöse Hemd näher als die verschlissenen Hosen der breiten Bevölkerung ist.