Wozu überhaupt noch Demokratie?

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 29

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Seit Jahrzehnten geht es den Völkern nur noch schlechter. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Das politische System der entwickelten repräsentativen Demokratien verschwendet massenhaft Ressourcen. Die politische Kaste verbraucht für sich selbst große Geldmengen und verantwortet eine immense Fehlleitung von Steuereinnahmen und eine immense Staatsverschuldung. Die Zeche zahlt die Bevölkerung. Das Herrschaftssystem ist nur noch formal eine Art Demokratie. Das "Schrumpfen der Mittelschicht", die "Erosion des Leistungsprinzips" und die "Refeudalisierung" der Gesellschaft sind Standardthemen der Soziologie demokratischer Länder. Was hat die vermeintliche Volksherrschaft dem Volk gebracht? Ein in reinen Formalismen erstarrtes politisches System, in dem das Volk nichts zu sagen hat und das in Wahrheit eine Herrschaft über das Volk darstellt, hinter deren scheindemokratisch polierter Fassade soziale Ungerechtigkeit, Chancenungleichheit, Armut und soziales Elend sich ständig und unaufhaltsam weiter ausbreiten. Dem breiten Volk in allen entwickelten Demokratien geht es von Jahr zu Jahr immer schlechter.

Die Demokratien sind gerade mal um die 200 Jahre alt. Historisch gesehen also eine ziemlich junge Einrichtung. Und allem Anschein nach ist ihre Lebenserwartung begrenzt. Es sieht nicht danach aus, als ob sie auf alle Ewigkeit weiter bestehen würde.

Ihren Zenit haben die entwickelten repräsentativen Demokratien auf jeden Fall längst überschritten. Ihre Anziehungskraft auf Menschen, die in den entwickelten Demokratien leben, lässt rapide nach. Enttäuschung macht sich seit Jahrzehnten breit. Die Menschen wenden sich in Scharen von der Politik ab - von der demokratischen Politik. Gut die Hälfte aller Wahlberechtigten geht in vielen Ländern nicht einmal mehr wählen. Nahezu in allen Demokratien ist ein Trend zur Wahlenthaltung festzustellen. Tendenz steigend.

Als die Bürger sich im 18. und 19. Jahrhundert gegen Absolutismus und Adelsherrschaft erhoben, verbanden sie mit der Forderung nach Demokratie den Menschheitstraum von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit nach Jahrhunderten der Ungleichheit, Unfreiheit und Unterdrückung. Dem privilegierten Adel setzten sie den Gedanken entgegen, dass ein politisches System nichts wert ist, wenn es nicht der größtmöglichen Zahl der Menschen das größtmögliche Glück bietet.

Wesentlich war nicht die formal einwandfreie Abwicklung von Wahlen und Prozeduren der politischen Willensbildung. Darüber herrschten durchaus unterschiedliche Vorstellungen. Wesentlich war, dass es der Mehrheit der Menschen gut gehen sollte - besser als je zuvor.

Das ist das Urversprechen der Demokratie. Eine Demokratie, in der es den Menschen schlechter als vorher und von Jahr zu Jahr immer schlechter geht - gleich in welcher Hinsicht -, ist keinen Pfifferling wert.

In allen Demokratien geht es den Menschen wesentlich besser als in den vordemokratischen Systemen. Aber in den entwickelten Demokratien geht es ihnen wieder wesentlich schlechter als noch in den frühen Demokratien. In den entwickelten Demokratien geht es wieder bergab. Die Verhältnisse verschlechtern sich dramatisch.

Konkret verband sich mit Demokratie stets das Versprechen wachsender Wohlfahrt, zunehmender sozialer Gerechtigkeit, nachhaltiger Chancengleichheit, Generationengerechtigkeit und der Überwindung von Elend und Armut.

Das war und ist der Grundgedanke aller Demokratie: Dass die Menschen nicht länger Untertanen sind, sondern ihr Geschick in die eigenen Hände nehmen können, dass nicht andere ihr Leben bestimmen, sondern sie selbst, und dass es ihnen besser ergeht als zuvor.

Nur die freien und gleichberechtigten Bürger sind die legitimen Inhaber der staatlichen Ordnungsmacht und Herrschaftsbefugnis. In der Demokratie ist daher das Spannungsverhältnis zwischen bürgerlicher Freiheit und staatlicher Ordnungsmacht unaufhebbar. Nur dann hat Demokratie ihren höheren Sinn.

Doch wozu braucht man überhaupt noch eine Demokratie, wenn sie nicht einmal das mehr leistet?

Die frühen Jahre der sich entwickelnden Demokratien waren Zeiten des Aufbruchs und der Zukunftshoffnung für nahezu alle Menschen. Sie brachten Freiheiten, von denen viele Bürger lange kaum zu träumen wagten: Freiheit der Meinungsäußerung, eine freie Presse, generell einen freien Zugang zu Informationen, Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit, Freiheit der Religionsausübung, Rechtsstaatlichkeit und viele Menschen- und Bürgerrechte mehr. Sie sind und bleiben für immer und ewig die grandiosen Errungenschaften der Demokratie.

Aber unter der demokratischen Oberflächenstruktur haben sich im Laufe der Jahrzehnte Formen der politischen Willensbildung und der politischen Herrschaft herausgebildet und verfestigt, die dem Geist demokratischer Herrschaft krass entgegenstehen.

Die Machteliten haben sich in den Demokratien wie Krebsgeschwüre festgefressen und die Kontrolle über die Prozesse der politischen Willensbildung in ihre Hände genommen und usurpiert. Das Volk hat nur noch wenig und immer weniger mitzubestimmen. Die Demokratie findet weitgehend ohne das Volk und im Laufe der Jahrzehnte zunehmend auch gegen das Volk statt.

Die entwickelten Demokratien halten ihre Versprechungen nicht

Die entwickelten Demokratien der Gegenwart lösen so gut wie keine der Menschheitshoffnungen ein, derentwegen so viele Menschen auch heute noch felsenfest und unerschütterlich an die Segnungen der Demokratie glauben.

Ohne Zweifel: Die Menschenrechte und die Bürgerrechte, der Rechtsstaat sind heute in den meisten Demokratien verankert. Und das soll nicht gering geachtet werden. Ohne diese Freiheitsrechte wären die demokratischen Systeme der politischen Willensbildung schon lange überhaupt nichts mehr wert.

Noch immer weigern sich viele Menschen, das System der Demokratie auch nur in Gedanken zu kritisieren, weil sie fürchten, dann auch gleich als Feinde von Menschenrechten, Bürgerrechten und Bürgerfreiheiten zu gelten. Natürlich sind die Menschen-, Freiheits- und Bürgerrechte ein hohes Gut, das nicht zur Disposition steht und niemals stehen soll.

Aber es geht um die Prozesse der politischen Willensbildung und um die politische Herrschaft in der Demokratie. Es geht darum, wer die Macht ausübt und auf wessen Kosten er das tut. Und da bestehen nicht bloß mehr oder minder belanglose Defizite.

Das gesamte System der demokratischen Repräsentation ist in das Gegenteil seiner selbst mutiert. Die Staatsgewalt geht nicht mehr vom Volk aus, und sie wird auch nicht mehr für das Volk und schon gar nicht vom Volk ausgeübt. Das Volk spielt in den entwickelten Demokratien nur noch eine untergeordnete Rolle - als Legitimationsbasis für die Ausübung von Herrschaft, als Quelle endlosen Schröpfens und als Staffage für die politische Show.

Das führt dazu, dass alle Kräfte des politischen Systems im Ergebnis die Lage des Volks progressiv verschlechtern. Darin unterscheiden sich die entwickelten Demokratien nachhaltig von den demokratischen Idealen der frühen Jahre.

Als die modernen Demokratien entstanden, herrschte eine begeisterte Aufbruchsstimmung: Es ging bergauf - wirtschaftlich, politisch, kulturell und in jeder anderen nur denkbaren Hinsicht. Doch nach den Anfängen des hoffnungsvollen Aufbruchs ist das System gekippt und hat sich ins Gegenteil seiner selbst verkehrt. Das Kapital hat seine Herrschaft in Stein gemeißelt und wird sie nicht mehr aus der Hand geben.

Deshalb lässt sich dieser über Jahrzehnte schleichende Prozess auch nicht einfach wieder zurückdrehen. Die Kräfte, die ihn in Gang gesetzt haben, haben ja die Machtstrukturen grundlegend umgebaut. Und diejenigen Kräfte, die im Verlauf dieses Prozesses Macht errungen haben, zeigen keinerlei Neigung, sie leichtfertig wieder aus der Hand zu geben.

Die Folge ist: Nur wenigen geht es gut, der breiten Bevölkerung geht es zunehmend schlechter. Die untere Schicht der Bevölkerung wächst und wächst und wächst, und die mittlere Schicht schrumpft und schrumpft…

In allen entwickelten repräsentativen Demokratien wächst die Armut

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist tiefer geworden und wird weiter immer tiefer. Große Teile der Bevölkerung leben in bitterer Armut. Selbst in relativ reichen Ländern wie Deutschland.

In allen entwickelten Demokratien wächst die Armut. Kinder aus armen und bildungsfernen Schichten haben deutlich schlechtere Chancen als Kinder aus bürgerlichen Familien. Eine wachsende Zahl von Bürgern kann sich und ihre Familien von ihrer Hände Arbeit nicht oder kaum noch ernähren. Altersarmut breitet sich aus, weil viele Rentner von ihren Renten nicht mehr leben können.

Die gestern und heute lebenden Generationen haben die Einkünfte künftiger Generationen schon heute aufgezehrt und zehren sie ungerührt weiter auf. Der Mittelstand wird in einem sich über Jahrzehnte erstreckenden Prozess buchstäblich zwischen den Fronten zerrieben - als direkte Folge des demokratischen Systems; denn er ist die einzige verbliebene große Sozialschicht, die einstweilen noch ohne gar zu großes Risiko ausgesaugt werden kann. Doch wie lange noch?

Die Unterschicht ist weitgehend zerschröpft und muss sogar vom Staat alimentiert werden. Und die oberste Oberschicht lässt sich nicht ohne ein für die politische Kaste viel zu hohes Risiko anzapfen. Davor schreckt die ach so demokratische Politik zurück. Die wahren Herrscher im System bleiben unangetastet.

Der Abstand der wirklich Reichen vom Rest der Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten in geradezu exponentiell gewachsen. Er hat längst Ausmaße erreicht, die alle Vorstellungen sprengen.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Dies kann man ausnahmsweise nicht den demokratischen Systemen der entwickelten Welt zur Last legen. Aber man kann ihnen zur Last legen, dass sie der Ausbreitung einer Plutokratie nicht Einhalt gebieten.

Die entwickelten Demokratien tun nichts dagegen, dass die Herrschaft der Superreichen die fromme Mär widerlegt, wir lebten in einer Leistungsgesellschaft; denn die wirklich Reichen aller Länder haben ihre Vermögen nicht durch Leistung und schon gar nicht durch Arbeit, sondern durch Erbschaft erworben. Und sie erhalten und mehren es auch nicht durch Leistung und Arbeit. Ihr Kapital erhält und mehrt sich ganz von selbst - wenn auch mit tatkräftiger staatlicher Förderung. Die demokratische Politik ist nicht viel mehr als ein williger Helfer der Plutokratie.

Noch 1970 gehörten dem reichsten Zehntel der bundesdeutschen Gesellschaft 44 Prozent des gesamten Volksvermögens. 2012 gehören ihm über 66 Prozent.

Einem einzigen Prozent der Bevölkerung gehören heute 35,8 Prozent des Vermögens, das heißt, sie besitzen mehr als die ärmeren 90 Prozent der Menschen. Denen gehören zusammen nämlich nur 33,4 Prozent des gesamten Vermögens.

Die entwickelten Demokratien sind keine Leistungsgesellschaften

Die Superreichen des Geldadels arbeiten nicht und sie leisten nichts. Sie lassen ihr Kapital arbeiten. Sie sind keine Unternehmensgründer und auch keine Unternehmenslenker. Sie sind Anleger und verwalten das Vermögen, das ihre Väter und Großväter geschaffen haben.

Doch Geldvermehrung durch Vermögensverwaltung ist keine Leistung. Die Geldelite ist auch keine Leistungselite. Die demokratische Politik hat diese gigantische Umverteilung von unten nach oben auf jeden Fall nicht verhindert. Im Gegenteil, sie hat nach Kräften mitgeholfen, sie wachsen und gedeihen zu lassen.

Die entwickelten Demokratien sind keine Leistungsgesellschaften mehr. Sie haben sich selbst von Leistungsgesellschaften zu ergebenen Dienern und Handlangern des Kapitals gewandelt.

Wer mit seinem Vermögen Geld verdient, zahlt pauschal 25 Prozent Kapitalertragssteuer. Wer sein Einkommen durch Arbeit erzielt, zahlt hingegen bis zu 45 Prozent.

Das demokratische System schafft keine Gerechtigkeit. Es schafft krasse Ungerechtigkeit und lässt sich davon auch durch nichts abbringen. Im Gegenteil: Es perpetuiert sie. Die entwickelten Demokratien bestreiten inzwischen gar, dass sie überhaupt dafür zuständig sind, soziale Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen.

Die Superreichen tragen in immer geringerem Maße zum Gemeinwohl bei, obwohl sie für sich selbst doch so gern das Bild von der Lokomotive in Anspruch nehmen, die den Zug des allgemeinen Wohls in Fahrt bringt. Doch sind sie noch nicht einmal ein Bummelzug, sondern nichts als eine Riesenbremse.

1960 trugen die Gewinnsteuern der Kapitaleigentümer etwa 35 Prozent zu den Einnahmen des Staats bei, während die Massensteuern der arbeitenden Menschen nur ein bisschen mehr aufbrachten, nämlich 38 Prozent. Zwischen Kapital und Arbeit herrschte damals noch so eine Art fragiles Gleichgewicht.

Die Zeiten sind längst vorüber. Das Gleichgewicht ist gekippt. Die fortschreitende Entwicklung der Demokratien hat überall den gleichen Prozess in Gang gesetzt: Die Reichen werden reicher. Alle anderen werden ärmer.

Heute zahlt das Gros der Bevölkerung mit seinen Massensteuern 71 Prozent des gesamten Steueraufkommens. Die Gewinnsteuern liegen unter 20 Prozent. Also wächst der Reichtum des Geldadels ganz von selbst. Er braucht nicht einmal selbst etwas dafür zu tun. Er kann sich hinsetzen und dabei zuschauen, wie sein Vermögen blüht und unaufhörlich wächst. Und das wächst schneller als das Gras im Sommerregen.

Die oberste Oberschicht ist fein ‘raus. Den Staat finanzieren die arbeitenden Menschen aus der Mittelschicht. Die Angehörigen der obersten Oberschicht tragen noch nicht einmal richtige Peanuts dazu bei. Doch wie lange wird das noch möglich sein, wenn die Mittelschicht weiter schrumpft? Denn deren Wohlstand sinkt.

Hier zeigt sich einmal mehr die selbstzerstörerische Eigendynamik der entwickelten Demokratien. Die einzige Bevölkerungsschicht, auf der das politische und wirtschaftliche System dauerhaft ruht, wird nach und nach von den Rändern her angefressen und aufgezehrt. Und das wird so lange gehen, bis die Mittelschicht im Kern vernichtet ist.

2010 jedenfalls hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer Studie festgestellt, dass der Anteil der Mittelschicht an der Bevölkerung allein in den zehn Jahren von 2000 zu 2010 um vier Prozentpunkte geschrumpft ist. Nach den DIW-Zahlen aus dem Sozioökonomischen Panel - einer Langzeitbefragung von rund 11.000 Haushalten in Deutschland - sank der Anteil der Mittelschicht seit 2000 von 64 bis auf 60 Prozent der Bevölkerung mit einem Nettoeinkommen zwischen 860 und 1.844 Euro.

Zugleich stieg der Anteil der unteren Einkommensschicht von 18 auf 22 Prozent. Die Schere öffnet sich langfristig und auf Dauer. Die preisbereinigten Nettoeinkommen aller Beschäftigten in Deutschland gingen zwischen 2000 und 2010 um 2,5 Prozent zurück.

Besonders drastisch sanken die Einkommen von Geringverdienern. Sie verdienten 2010 zwischen 15,6 und 21,9 Prozent weniger als noch zur Jahrtausendwende. Von den Zuwächsen bei der Wirtschaftsleistung der zehn Jahre zwischen 2000 und 2012 ist bei den Erwerbstätigen nichts angekommen.

Sehr deutlich stiegen hingegen die Einkommen aus Gewinnen und Kapitalvermögen. Der Mehrheit der Bevölkerung in den entwickelten Demokratien geht es in jeder Hinsicht immer ein bisschen schlechter. Die demokratischen Systeme von den USA über Europa bis hin nach Japan schaffen es nicht, die Wohlfahrt der Menschen zu verbessern.

Auch nach einer 2012 veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung schrumpft die Mittelschicht in Deutschland seit 1997 dramatisch. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ging in 15 Jahren um 5,5 Millionen Menschen zurück. Damit gehören statt 65 nur noch 58 Prozent der Deutschen dem Mittelstand an.

Besonders stark ist der Rückgang in der unteren Hälfte der Einkommensmittelschichten, deren Anteil sogar um 15 Prozent sank. Umgekehrt gibt es knapp vier Millionen Menschen mehr, die zu den unteren und untersten Einkommensschichten zählen.

Zur Mittelschicht zählen die Forscher Ein-Personen-Haushalte mit einem monatlich verfügbaren Einkommen von 1.130 bis 2.420 Euro. Für einen Vier-Personen-Haushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegen die Grenzen bei 2.370 und 5.080 Euro. Die Zahlen basieren auf dem Sozio-Ökonomischen Panel für 2010, für das 20.000 Erwachsene befragt wurden.

Danach macht sich in den Mittelschichten inzwischen jeder Vierte Sorgen, seinen Status zu verlieren. Das sind deutlich mehr Deutsche als noch vor zehn Jahren. Außerdem gelingt immer weniger Menschen der Aufstieg aus den unteren Einkommen in die Mittelschicht. Selbst eine gute Ausbildung ist kein Garant mehr für ein Leben in gesichertem Wohlstand. Hingegen sind die unteren Einkommen der Mittelschicht gefährdet, in einkommensschwache Bereiche abzurutschen.

"Aufwärtsmobilität auf breiter Front ist eine Grundvoraussetzung für die Soziale Marktwirtschaft und den Zusammenhalt der Gesellschaft", betont der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann-Stiftung Aart De Geus. "Alle müssen eine realistische Chance haben, durch eigene Anstrengung die ökonomische Leiter hinaufzuklettern."

Die Studie zeigt auch: Nach dem Abstieg aus der Mittelschicht, fällt es heute schwerer, wieder in höhere Einkommensschichten aufzusteigen. 70 Prozent der unteren Einkommen finden sich nach drei Jahren immer noch in der gleichen Schicht wieder (2000: 67 Prozent). Eine ähnliche Tendenz ist für hohe Einkommen zu erkennen (2000: 66 Prozent, 2010: 74 Prozent). Das Risiko, eine hohe Einkommensschicht wieder zu verlassen, hat sich also verringert.

Auch die Steuerpolitik ist den Forschern zufolge dafür verantwortlich, dass die Mittelschicht schrumpft. Von den Steuerreformen der 1990er Jahre haben vor allem Reiche profitiert. Die Mittelschicht wurde deutlich weniger entlastet. Arbeitsmarktreformen und der Rückgang normaler Arbeitsverhältnisse seien eine weitere Ursache. Die entstandenen atypischen Beschäftigungsverhältnisse sind in der Regel durch eine unterdurchschnittliche Entlohnung gezeichnet.

Die großen demokratischen Hoffnungen, die einst gegen Ende der Diktaturen des 20. Jahrhunderts in die Demokratien gesetzt wurden, sind zutiefst enttäuscht worden. Eine scheindemokratische Oberfläche verdeckt nur notdürftig undemokratische Strukturen.

Wir leben längst wieder in einem Herrschaftssystem, das nur noch formal eine Art Demokratie ist. Soziologen wie Sighard Neckel befassen sich seit langem mit der Thematik. Das "Schrumpfen der Mittelschicht", die "Erosion des Leistungsprinzips" und die "Refeudalisierung" der Gesellschaft sind Standardthemen der Soziologie demokratischer Länder.

Was hat die vermeintliche Volksherrschaft dem Volk gebracht? Ein in reinen Formalismen erstarrtes politisches System, in dem das Volk nichts zu sagen hat und das in Wahrheit eine Herrschaft über das Volk darstellt, hinter deren scheindemokratisch polierter Fassade soziale Ungerechtigkeit, Chancenungleichheit, Armut und soziales Elend sich ständig und unaufhaltsam weiter ausbreiten.

Die gewählten Repräsentanten des Volks sehen dem unwürdigen Schauspiel hilflos zu. Sie sind nicht in der Lage, etwas dagegen auszurichten; denn sie haben nicht die Macht und auch nicht das Interesse, grundlegende Veränderungen durchzusetzen.

Doch dem breiten Volk in allen entwickelten Demokratien geht es immer schlechter. Es ist ein Skandal, dass in einem der reichsten Länder der Welt jedes siebte Kind unter 15 Jahren, in Ostdeutschland sogar jedes vierte Kind von Hartz IV leben muss. In Berlin ist jedes dritte Kind auf Hartz IV angewiesen.

Im Ruhrgebiet liegt die Kinder-Armutsquote bei steigender Tendenz mit 25,6 Prozent sogar noch deutlich höher als in Ostdeutschland. Trauriger Spitzenreiter im Städtevergleich ist Gelsenkirchen mit einem Anteil von 34,4 Prozent armer Kinder. In Städten wie Mülheim oder Hamm wuchs die Kinderarmut in den fünf Jahren von 2007 auf 2012 um bis zu 48 Prozent. Die Demokratie beschert dem Volk die nachhaltige Pauperisierung ganzer Generationen.

Die Armutsquote beträgt im Bundesdurchschnitt 14,9 Prozent. Für eines der reichsten Länder der Welt ist das eine Schande. Es ist dies aber nicht das Werk eines finsteren Diktators, der sein Volk aussaugt.

Es ist das Werk einer durch das System des repräsentativen Parteienstaats ermöglichten, teils gewissenlosen, teils gleichgültigen und teils einfach auch nur hilflosen und unfähigen Politikerkaste, die sich ständig mehr mit sich selbst beschäftigt und der das eigene luxuriöse Hemd näher als die verschlissenen Hosen der breiten Bevölkerung ist.

Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer

Zuletzt hat der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty in seinem Buch "Le capital au XXIe siècle" (Das Kapital im 21. Jahrhundert) so etwas wie die Weltformel des Kapitalismus postuliert: Return on Capital ist größer als Economic Growth (r > g). Die Rendite aus Vermögen übertrifft stets das Wirtschaftswachstum. Das allerdings haben alle Analytiker und Kritiker schon immer gesagt, die erkannten, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.

Pikettys Weltformel erschüttert den von Milton Friedman geprägten Volksglauben, dass Kapitalismus, Marktfreiheit und Demokratie sich komplementär zueinander verhalten. Er bestätigt einmal mehr: Der Kapitalismus erdrückt die Demokratie:

Die Kapitalanhäufung führt zu immer größeren Ungleichheiten in der Gesellschaft, die als Ungerechtigkeit empfunden werden und deshalb destabilisierend wirken. Wenn die Rendite des Kapitals vier bis fünf Prozent beträgt, … die Wirtschaft aber nur mit einem Prozent im Jahr wächst, nimmt die anfängliche Ungleichheit rasend schnell zu. Unsere demokratischen Gesellschaften stützen sich jedoch auf das Leistungsprinzip oder zumindest auf die Hoffnung darauf, dass Leistung gerecht belohnt wird.

Thomas Piketty

Und weiter:

Der Demokratie liegt der Glaube an eine Gesellschaft zu Grunde, in der die soziale Ungleichheit vor allem auf Leistung und Arbeit beruht, nicht auf Abstammung, Erbe und Kapital. In der Demokratie gerät sonst die proklamierte Gleichheit der Rechte aller Bürger in schreienden Gegensatz zur real existierenden Ungleichheit der Lebensverhältnisse. Ohne rationale Rechtfertigung lässt sich diese Ungleichheit nicht ertragen. …

Die Dynamik des Kapitalismus kennt keine Moralität. Sie entfaltet sich endlos weiter, solange die Institutionen der Demokratie sie nicht regulieren, wenn nötig radikal.

Und genau das haben sie bis jetzt nicht geschafft. Und es sieht nicht danach aus, dass sie es jemals in der Zukunft schaffen werden.

Unter dem Einfluss der in den meisten demokratischen Staaten explodierten Staatsverschuldung haben sich die wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse in der Welt völlig verschoben.

Noch zu Beginn der 1990er Jahre betrug die gesamte Wertschöpfung der Weltwirtschaft 15 Billionen Euro. Davon waren gerade mal 1,5 Billionen spekulative Produkte der Finanzwirtschaft. Zu Beginn der 2010er Jahre beträgt das weltweite Wirtschaftsaufkommen rund 50 Billionen Euro, die spekulativen Produkte der Finanzbranche aber betragen über 500 Billionen Euro. Die Realwirtschaft hat sich in zwanzig Jahren verdreifacht, die Spekulationswirtschaft aber verdreihundertfacht.

Als Folge dieser gigantischen Umverteilung wirtschaftlicher und politischer Macht hat sich auf der ganzen Welt die Einkommens- und noch viel mehr die Vermögensverteilung zu Gunsten der Reichen und Superreichen und zum Nachteil der restlichen Bevölkerung massiv verschoben. Schulden machen reich. Genauer: Sie machen einige wenige enorm reich und die meisten anderen arm.

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Rogoff spricht davon, dass heute längst wieder Vermögensmacht wie zu Zeiten der rücksichtslosen "robber barons" im 19. Jahrhundert, des entfesselten Raubtierkapitalismus und auf dem Höhepunkt der Ungleichheit herrscht.

Die sozialen Kosten der repräsentativen Demokratien sind viel zu hoch

Jedes Jahr wächst die Zahl der Millionäre allein in den USA um rund 15 Prozent. Die Kluft zwischen arm und reich geht weltweit rasant auseinander. Die entwickelten Demokratien feiern die Wiederauferstehung des unkontrollierten Frühkapitalismus in abgewandelter, moderner Form.

Die demokratisch gewählten Entscheidungsträger tragen die Hauptverantwortung für diese unheilvolle Entwicklung. Sie haben die entscheidenden Weichenstellungen durchgesetzt und die Unternehmenssteuern und die Steuern auf Kapitaleinkünfte und Vermögen radikal gesenkt. Sie sind eben nicht die Vertreter der Interessen ihrer Wähler, sondern die Handlanger der Plutokraten.

Die resultierende Strukturveränderung ist eine unmittelbare Folge fehlender Besteuerung von Unternehmen und Superreichen sowie der immensen Staatsverschuldung. Sie hat dazu geführt, dass heute viel zu viel Geld in der Welt im Umlauf ist. Und je mehr Geld zirkuliert, desto wichtiger wird es. Heute beherrscht die Geldwirtschaft die Realwirtschaft, statt ihr zu dienen.

Der Wert aller Aktien, die 2011 gehandelt wurden, betrug 45 Billionen Euro. Doch alle Arbeitnehmer der Welt verdienten im selben Jahr nur 42 Billionen Euro. Und das sind die Märkte von Optionen und anderen Geldwetten: gigantische 1.500 Billionen Euro.

Etwas kann nicht stimmen mit dem Finanzsystem, wenn mit Geldgeschäften ein Vielfaches von dem verdient wird, was Milliarden Arbeitnehmer und Maschinen erwirtschaften.

Ohne das Geld derjenigen, die von der Staatsschuldenkrise profitiert haben, lässt sich die öffentliche Verschuldung nicht abbauen. Aus der heutigen Verschuldung von 81 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) werden in nur einer Generation 130 Prozent bei einem realistischen Wachstum von nur einem Prozent und bei niedrigen Zinsen. Und wenn die Zinsen nur auf drei Prozent ansteigen, explodieren die öffentlichen Schulden auf 250 Prozent des BIP. Es bestehen kaum Chancen, auf herkömmlichen Wegen aus den Schulden herauszukommen.

Doch nicht nur, dass es breiten Kreisen der Bevölkerung immer schlechter geht und ihnen immer tiefer in die Taschen gegriffen wird, um die Herrschaft der politischen Kaste aufrecht zu erhalten. Die sozialen Kosten des Systems "repräsentative Demokratie" sind viel zu hoch. Sie übersteigen bei weitem seinen Gewinn.

Das politische System mit seinem umfangreichen Apparat und der Notwendigkeit für die politischen Parteien, Wahlen zu gewinnen und das mit Wahlgeschenken zu finanzieren, haben die Finanzen der entwickelten Demokratien in aller Welt und auf allen Ebenen ruiniert.

Auf Dauer kann sich kein Volk und kein Staat der Welt einen solchen Luxus leisten. Die Zeiten, in denen es den Völkern in den Demokratien immer besser ging, sind unwiederbringlich vorüber. Seit Jahrzehnten geht es den Völkern nur noch schlechter.

Das politische System der entwickelten repräsentativen Demokratien verschwendet massenhaft Ressourcen, die dringend gebraucht werden. Die politische Kaste mit ihren zehn- bis zwanzigtausend Personen verbraucht nicht nur für sich selbst große Geldmengen. Sie verursacht vor allem eine immense Fehlleitung von Steuereinnahmen und eine immense Staatsverschuldung.

Das kostet das Volk weit mehr, als die Gegenleistung wert ist. Politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen, deren Inhalt vom Primat des Machterhalts und Machtgewinns von Parteien bestimmt ist, können der breiten Bevölkerung nicht nützen. Sie schaden ihr immens.

Die demokratische Politik mit ihren unzähligen Fehlleistungen ist das Geld nicht wert, das sie fehlleitet und verprasst. Eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung der entwickelten Demokratien muss zwangsläufig zu dem Ergebnis kommen, dass ihr Nutzen gering ist und ihre Kosten immens sind.

Wozu überhaupt soll das System der demokratischen Repräsentation noch gut sein, wenn das Volk in ihm nur noch eine untergeordnete Rolle spielt und die Entscheidungsprozesse ein ständiges Ärgernis sind?

  • Etwa um den staatlich finanzierten, aus eigener Kraft gar nicht lebensfähigen Apparat der politischen Parteien am Leben zu erhalten? Der Parteienstaat ist doch das Problem, nicht die Lösung.
  • Um die in kurzen Abständen stattfindenden Wahlkämpfe mit ihren Schaugefechten und Scheinalternativen auf Kosten der Steuerzahler bis in alle Ewigkeit fortzuführen? Sie sind ein weiteres Problem, aber keine Lösung.
  • Um möglichst viele Parlamentarier in Bund, Ländern und Kommunen in Brot und Arbeit zu halten? Sie sind das Problem, nicht die Lösung.
  • Um möglichst viele Parlamente mit vielen hundert Abgeordneten zu unterhalten, in denen permanent Scheindebatten fürs Fernsehen geführt und am Ende Regierungsentscheidungen doch nur gehorsam abgenickt werden? Sie sind ein Riesenproblem und ganz gewiss nicht die Lösung.
  • Oder gar um wegen der alle paar Monate stattfindenden Wahlen damit zurechtkommen zu müssen, dass die Politik monatelang paralysiert und entscheidungsunfähig ist, weil sie im Wahlkampf steht und keine Entscheidungen trifft? Genau darin liegt ja eines der vielen Probleme, aber nicht die Lösung.
  • Um die öffentlichen Finanzen vollends zu ruinieren und die Staatsschulden weiter ständig zu erhöhen? Sie sind eines der Hauptprobleme und ganz sicherlich keine Lösung. Wahrscheinlich können die öffentlichen Schulden in repräsentativen Demokratien überhaupt nicht nachhaltig reduziert werden.
  • Um marode Wirtschaftszweige mit Hilfe von Subventionen künstlich und gegen jede wirtschaftliche Vernunft am Leben zu erhalten? Sie sind eines der Beispiele sinnloser Ressourcenverschwendung in entwickelten repräsentativen Demokratien. Aber gewiss keine Lösung.
  • Um dafür zu sorgen, dass viele tausend Lobbyisten auch unter den Parlamentariern stets einen Ansprechpartner zu finden? Die finden die auch so.
  • Um den demografischen Wandel über uns hinwegrollen zu lassen und die dringend benötigte Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland weiterhin mit populistischen Latrinenparolen zu bewältigen? Nein, man braucht ja auch keinen Fußpilz.
  • Um die Städte, Gemeinden und Landkreise endgültig in den Ruin zu treiben? Natürlich nicht.
  • Um weiterhin jede wirklich dringend erforderliche Reform in endlosen Gremiensitzungen und überflüssigen Palavern bereits im Keim zu ersticken und die Politik des haltlosen Wurschtelns bis ans Ende aller Tage fortzuführen? Sicherlich nicht.

Ja, wozu denn dann?

Es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Menschen in den entwickelten Demokratien der Welt darüber nachdenken müssen, ob es Alternativen zu den erstarrten und verkrusteten Herrschaftsformen gibt, die sich ohne Fug und Recht noch immer als Demokratien bezeichnen.

Sie verfügen ja im besten Fall überhaupt nur noch über Spurenelemente der Demokratie-Ideale von einst und nennen sich nur Demokratien, sind es aber längst nicht mehr. Sie schmücken sich mit einem Namen, den sie längst nicht mehr verdienen. Sie sind leere Hülsen im Gewande einer Demokratie.

kosch.htm