Wütendes Griechenland: Über Bahncrash, Spardiktat und Massenprotest

Seite 2: Crash mit Ansage?

Trotz alledem präsentierte der als Verkehrsminister agierende, aber nicht vereidigte Giorgos Gerapetritis Dokumente, die eine in Betrieb befindliche Telematik rund um die entscheidende Bahnstation Larissa belegen sollten. Gleichzeitig besuchte Oppositionsführer Alexis Tsipras das Gebäude für Telematik, das im Juli 2019, also direkt nach der Amtsübernahme durch Mitsotakis, von einem Feuer zerstört wurde.

Tsipras, von Fernsehkameras begleitet, fand einen verwüsteten, verlassenen Ort ohne jegliche Geräte vor. In einem Nachbargebäude befand sich gleichzeitig der ministerielle Staatssekretär im Verkehrsministerium Michalis Papadopoulos und wollte der mitgereisten Presse die "Telematikstation von Larissa" präsentieren. Papadopoulos referierte und wurde von einem Eisenbahner lauthals unterbrochen.

Denn das, was die Regierung Telematik getauft hatte, war nichts weiter als ein analoges Kontrollpanel für die Ein- und Ausfahrt in den Bahnhof von Larissa. Die Regierung ruderte zurück und nannte das Kontrollpanel nun "lokale Telematik". Papadopoulos selbst benutzte diesen Ausdruck und erklärte, dass es ab September eine Telematik bei Athen, Tithorea, Larissa und Thessaloniki geben würde. Dann könne, so Papadopoulos, die Telematik von Larissa aus, mehrere benachbarte Bahnstationen überwachen.

Dadurch hätte das Unglück bei Tempi vermieden werden können. Fakt ist aber auch, dass bis zum Sommer 2019 am zentralen Bahnhof Larissa zwei Fahrdienstleiter für die Verkehrsleitung und zwei weitere im Tower des zumindest für die fragliche Teilstrecke des Unfalls relevanten Streckenabschnitt die Telematik bedienten. Am 28. Februar war nur der tragische Fahrdienstleiter verantwortlich.

Es stellte sich heraus, dass seine Schnellkursausbildung nicht vollständig war. Im Raum steht zudem der Vorwurf, dass die Beförderung des 59 Jahre alten Mannes vom Büroboten zum Fahrdienstleiter aufgrund von Protektion durch einen Regierungspolitiker geschah.

Papadopoulos Blamage steht pars pro toto für das Gesamtbild, welches die Regierung in Athen den Bürgern bietet. Aber auch Tsipras kommt bei der Bewertung seiner Verantwortlichkeit nicht gut weg. Bahnangestellte und Gewerkschaftler beklagen, dass auch unter seiner Regierungszeit die Sicherheit und die Telematik des Schienennetzes nicht gewährleistet waren.

Eindeutige Umfragen

An den Bürgern prallen solche Hahnenkämpfe gegenseitiger Schuldzuweisung ab. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts ALCO legte zutage, wie sie die Verantwortung sehen. Ihnen wurden die Namen von Organisationen, Regierungen und Personen vorgelegt, und sie sollten bestimmen, ob diese Personen für das Unglück verantwortlich sind: staatliches Unternehmen für das Schienennetz OSE: 95 Prozent; Fahrdienstleiter Larissa: Ja 91 Prozent; Verkehrsminister Kostas Karamanlis: 90 Prozent; alle Regierungen: 87 Prozent; aktuelle Regierung: 86 Prozent; private Eisenbahngesellschaft Hellenic Train: 77 Prozent.

Eine Randnotiz ist, dass Hellenic Train, ein Tochterunternehmen der italienischen Staatsbahnen, das seit 2017 in Griechenland aktiv ist, immer wieder vom TÜV Hellas (TÜV Nord) positiv zertifiziert wurde. Griechische Medien fragen sich nun, was solche Qualitätszertifikate in der Praxis wert sind. Es stellt sich heraus, dass die Prüfung darin bestand, dass die Züge zum überwiegenden Großteil an den Bahnhöfen ankamen. Das marode Schienen- und Sicherheitstechniknetz war nicht Bestandteil der Untersuchungen.

Für die hinsichtlich ihrer persönlichen Sicherheit im Alltag vollkommen desillusionierten Bürger in Griechenland ist ein weiteres Detail wichtig. Griechenland hat für 2022 unter den Nato-Staaten gemessen am BIP die höchsten Rüstungsausgaben und liegt mit 3,54 Prozent sogar vor den USA.

Die griechischen Ausgaben übertreffen, trotz Zeitenwende und Sondervermögen, die deutschen (1,49 Prozent des BIP) um mehr als das Doppelte. Dem aktuellen Jahresbericht des Generalsekretärs der Nato Jens Stoltenberg ist zu entnehmen, dass die Pro-Kopf-Ausgaben für die Rüstung von 400 Dollar 2014 auf 713 Dollar 2022 anstiegen.

Für die Bürger selbst gibt es keine derartigen Lohnsprünge. Die im Zuge des Sparzwangs abgeschaffte Tarifautonomie ist immer noch nicht wiederhergestellt. Um die Bürger zu besänftigen, erhöhte Mitsotakis nun den Mindestlohn auf 780 Euro brutto pro Monat. Damit ist er nun, ohne jeglichen Inflationsausgleich, auf dem Niveau des Vorkrisenjahres 2009.

All dies hat Auswirkungen auf das politische Klima im Land. Public Issue fragte die Bürger sowohl 2019 als auch jetzt vor den Wahlen im Mai nach ihrem Empfinden.

2019 empfanden 17 Prozent der Befragten Wut, 20 Prozent waren besorgt, 14 Prozent hatten Hoffnung und 21 Prozent gaben Enttäuschung als ihr vorherrschendes Gefühl an. Auf die gleiche Frage antworten inzwischen vierzig Prozent mit Wut, 15 Prozent mit Besorgnis, sieben Prozent mit Hoffnung und sechzehn Prozent mit Enttäuschung. 58 Prozent der Befragten geben dem Zwang zu Privatisierungen die Schuld am Unglück bei Tempi.

In den aktuellen Wahlumfragen verliert daher die regierende Nea Dimokratia Stimmen, ohne dass die beiden anderen Sparkursparteien Syriza und Pasok wesentlich zulegen können. 36 Prozent würden "niemanden", 33 Prozent Mitsotakis und 26 Prozent Tsipras zum Regierungschef wählen.

Gestärkt werden die gegenüber dem Sparkurs kritischen Parteien wie die Kommunisten und Mera25 (Yanis Varoufakis), während die Zahl derer, die "unentschlossen" als Wahlentscheidung angeben, immer weiter anwächst. Bis zu den von Mitsotakis ohne genauere Angabe auf Mai terminierten Wahlen muss sich zeigen, welche der Parteien die "Unentschlossenen" auf ihre Seite ziehen kann.