X statt Frau oder Mann: Erstmals Gerichtsurteil ohne Fachgutachten

Da die Pronomen "sie" und "er" geschlechtsbezogen sind, bevorzugen manche nicht-binären Personen das englische "they/them". Foto: gdsteam / CC-BY-2.0

Nicht-binäre Person in den Niederlanden ist schwanger und will später als Elternteil registriert werden, nicht als Mutter

Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit den Geschlechtsmerkmalen ihres Körpers übereinstimmt, mussten lange für Anerkennung kämpfen. Erst Ende der 1970er-Jahre entschied das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auf die Menschenwürde und die freie Entfaltung der Persönlichkeit, dass jemand den Geschlechtseintrag in offiziellen Dokumenten ändern lassen durfte.

Damals wurde zur Voraussetzung gemacht, dass bei der Person eine Transsexualität festgestellt und eine geschlechtsangleichende Operation durchgeführt wird. Bei einem Transmann könnten beispielsweise die Brüste entfernt werden; einen künstlichen Penis zu erzeugen, ist bis heute schwierig. Eine Transfrau könnte Brüste und eine Vulva statt Penis bekommen.

Psychologisch-psychiatrische Antwort

1980 wurde in Deutschland ein eigenes Transsexuellengesetz verabschiedet. Psychologisch-psychiatrisch sprach man lange Zeit von einer "Geschlechtsidentitätsstörung". Betroffene erfuhren es aber als stigmatisierend, eine psychiatrische Störung diagnostiziert zu bekommen. Darauf reagierten die US-amerikanischen Psychiater 2013 mit der neuen Kategorie "Genderdysphorie".

Das klingt zwar weniger nach Störung, stand aber immer noch im Diagnosehandbuch der US-Psychiater, das auch in vielen anderen Ländern verwendet wird. Die Weltgesundheitsorganisation unternahm inzwischen einen weiteren Schritt zur Entstigmatisierung und führte die "geschlechtliche Inkongruenz" ein.

Hier geht es um die fehlende Übereinstimmung zwischen dem selbst erlebten und biologisch bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht. Damit rücken die Mediziner nun weiter davon ab, Transsexualität als psychologisch-psychiatrische Störung aufzufassen.

Gründe des Leidens

Bei der Genderdysphorie stand noch im Mittelpunkt, dass die Menschen unter der fehlenden Übereinstimmung leiden. Doch was, wenn das Leiden vor allem durch soziale Ablehnung entsteht? Müsste dann nicht eher die Gesellschaft statt des Betroffenen therapiert werden?

Tatsächlich mussten Psychiater in den 1970er-Jahren anerkennen, dass sie irrsinnigerweise Homosexualität pathologisiert hatten. Vor allem Schwule aber auch Lesben sollten damals mit Psychotherapie, Konditionierung, vereinzelt aber auch mit Elektroschocks oder gar Gehirnoperationen an die gesellschaftliche Norm angepasst werden.

In Reaktion auf gesellschaftliche Proteste kam es dann aber insbesondere unter Leitung des US-Psychiaters Robert L. Spitzer (1932-2015) zu einem Umdenken: Wenn Menschen nur psychisch leiden oder sozial eingeschränkt sind, weil sie von der Gesellschaft ausgegrenzt werden, dürfe man keine psychiatrische Störung diagnostizieren. Diese Einsicht hält sich bis heute.

Geschichte der Psychiatrie

Nachdem die Homosexualität in mehreren Schritten aus den psychiatrischen Handbüchern gestrichen wurde – jedenfalls in den liberaleren, westlichen Ländern –, ist Transsexualität nun der nächste Kandidat für die Depathologisierung. In diesem Zusammenhang muss man auch noch einmal den historischen Kontext in Erinnerung rufen, dass die Psychiatrie neben der Kirche und Polizei/Justiz eine der gesellschaftlichen Institutionen zur Aufrechterhaltung der Normalität (oder der Normen) wurde.

Das Denken, dass Menschen mit bestimmten Problemen und Erfahrungen automatisch eine Erkrankung im medizinischen Sinn hätten, ist leider bis heute in vielen Köpfen verankert. Dabei ist die Sichtweise, psychische Störungen seien Gehirnstörungen, rein hypothetisch. (Psychiatrie: Gebt das medizinische Modell endlich auf!).

Zu diesem Missverständnis tragen leider auch wissenschaftliche Zeitschriften und viele Medien bei: Als beispielsweise eine Studie in der Fachzeitschrift Science 2019 zeigte, dass ein kultureller Faktor (nämlich das Geburtsjahr) die Wahl gleichgeschlechtlicher Partner viel stärker beeinflusste als die Gene, diskutierten die Medien vor allem den genetischen Einfluss (Science: Genetik kann Sexualverhalten nicht erklären).

Dabei verbreitete Science schon 1993 die Botschaft, es gäbe vielleicht ein "Schwulen-Gen", nämlich am Chromosomenplatz Xq28. Der genetische Fund konnte später zwar nicht repliziert werden, doch der Gedanke lebt bis heute in vielen Köpfen weiter. Und im Übrigen wird damit die sexuelle Vorliebe bestimmter Gruppen wieder mit medizinischen Kategorien verbunden. (Was noch zur sexuellen Orientierung gesagt werden muss).

Binäres Modell

Die Akzeptanz von Transsexualität war in der jüngeren Vergangenheit schon ein großer Schritt. Allerdings fügten sich die Betroffenen zunächst nahtlos ins Frau-Mann-Schema ein: Es ging eben um jemanden mit einer männlichen Identität in einem weiblichen Körper; oder mit einer weiblichen Identität in einem männlichen Körper.

Das dualistische oder binäre Denken, dass alle Menschen entweder Frau oder Mann sein müssten, wurde damit aufrechterhalten. Zur Not sollten eine Hormonbehandlung und gegebenenfalls eine Operation das Problem lösen, indem sie die fehlende Übereinstimmung beseitigen.

Eine unrühmliche Rolle spielte dabei die Forschung des neuseeländisch-amerikanischen Sexologen John W. Money (1921-2006). Er beobachtete in den 1950er-Jahren das Verhalten von Kindern, deren biologisches Geschlecht weder eindeutig männlich, noch eindeutig weiblich war.

Aus seinen Studien leitete er die Hypothese ab, dass es neben dem biologischen auch ein soziales Geschlecht gebe. Hierfür führte er den heute bekannten Begriff "Gender" ein, der allerdings erst in der zweiten feministischen Welle größere Bekanntheit erlangte.

Illusion der Machbarkeit

Fatal war allerdings seine Behauptung, das soziale Geschlecht beziehungsweise Gender sei sehr plastisch, sozusagen machbar: Das heißt, wenn man Kinder nur früh genug als Frau oder Mann aufziehe, würden sie diese Identität übernehmen – ohne Probleme.

Dieses Denken bestimmte über Jahrzehnte hinweg die medizinische Praxis, Kindern mit uneindeutigem biologischen Geschlecht mit dem Seziermesser zur Eindeutigkeit zu "verhelfen". Eltern wurden unter Druck gesetzt, die fehlende Eindeutigkeit führe zu psychischem Leiden und schade der Entwicklung des Kindes. Doch auch hier muss man wieder fragen, ob das Leiden nicht vor allem durch die Ablehnung der Gesellschaft – und auch die Mediziner selbst – erzeugt wurde.

Letztere dachten sich sogar eine "Phallometrie" aus, um die Geschlechtsorgane von Kindern zu beurteilen. Sah etwas nicht hinreichend wie ein Penis oder wie eine Vulva aus, sollte es medizinisch passend gemacht werden.

Geschlechtliches Spektrum

Dieser Denkfehler wurde von Wissenschaftlern wie der Biologin Anne-Fausto Sterling bekämpft. Diese entwickelte selbst ein Modell, demzufolge es fünf Geschlechter gibt.

Inzwischen mehren sich die Funde, dass auch das biologische Geschlecht eher ein Spektrum ist: Zwar gibt es an dessen äußeren Polen eine "typische Frau" oder einen "typischen Mann". Dazwischen bestehen es aber mehr oder weniger ausgeprägte Unterschiede, um nicht von "Abweichungen" zu sprechen (Abschied vom binären Geschlechtsmodell).

Dadurch, dass Mediziner diese Unterschiede lange Zeit stigmatisierten oder gar operativ beseitigten, erfuhr wiederum das binäre beziehungsweise dualistische Frau-Mann-Modell künstlich Unterstützung. Der Realität entsprach es aber nie. Heute gelten geschlechtsangleichende Operationen ohne medizinische Notwendigkeit und Einwilligung des Betroffenen in der Regel als Menschenrechtsverletzungen.

Und damit sind wir in der Gegenwart angekommen: Da natürlich eine Hormonbehandlung, vor allem bei einem heranwachsenden Menschen, oder die irreversible Operation der Geschlechtsorgane massive Eingriffe sein können, hat eine psychologisch-psychiatrische Begleitung durchaus ihren Sinn. Speziell geschulte "Gender-Psychologen" sollen überprüfen, wie ernsthaft und permanent der Wunsch nach einer Geschlechtsänderung ist.

Was aber, wenn die Meinungen des Betroffenen und der Fachleute auseinandergehen? Und was bei Personen, die zwar mit ihrem biologischen Geschlecht unzufrieden sind, sich aber nicht klar als Frau oder Mann identifizieren wollen?

Streitpunkt Geschlechtseintrag

Vielen dürfte noch das Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2017 in Erinnerung sein. (Wozu nutzen Geschlechtsidentitäten überhaupt?). In den den Medien wurde dies vielfach falsch dargestellt, als ob damit ein "drittes Geschlecht" eingeführt worden sei. Tatsächlich wurde aber vom Gericht nur festgestellt, dass es eine Diskriminierung der Betroffenen ist, wenn es zur Bezeichnung als "Frau" oder "Mann" in offiziellen Dokumenten keine Alternative gibt.

Ein Ausweg wäre gewesen, die Geschlechtsangabe generell zu entfernen. Man sollte einmal überlegen, welchen Sinn es noch hat, dass der Staat die Menschen in Frauen, Männer – oder jetzt eben auch "geschlechtlich Diverse" – einteilt. Der Gesetzgeber hat stattdessen aber eine dritte Möglichkeit eingeführt.

Diese Diversität entlarvt das binäre/dualistische Geschlechtsmodell als Irrtum der Wissenschafts- und Medizingeschichte, den viele moderne Gesellschaften übernommen haben. Menschen, die sich nicht eindeutig als Frau oder Mann sehen, bezeichnen sich darum manchmal als "nicht-binär". Auch die Bezeichnung als "intersexuell" (zwischengeschlechtlich) ist geläufig.

Neue Gerichtsentscheidung

Ein solcher Fall beschäftigte kürzlich das Zivilgericht in Arnheim, unweit der deutschen Grenze. Eine Person, die sich selbst als nicht-binär sieht, wollte statt der Kennzeichnung als Frau oder Mann ein X im Ausweis. In den Niederlanden geschah das 2018 zum ersten Mal.

An dem neuen Fall war jetzt aber anders, dass die betroffene Person kein psychologisches Gutachten vorlegen wollte. Dieses koste nicht nur 250 Euro, sondern die spezialisierten Gender-Psychologen hätten zudem lange Wartelisten. Der Kläger verlangte vom Gericht, den Verwaltungsbeamten auch ohne Gutachten zur Eintragung des X zu verpflichten.

Das am 9. Dezember 2021 veröffentlichte Urteil gab nun dem Kläger Recht. Er konnte damit erstmals ohne Gutachten nachweisen, eine nicht-binäre Identität zu haben – und damit die entsprechende Anpassung in offiziellen Dokumenten erhalten. Zudem wollte er sich auch einen geschlechtsneutralen Vornamen eintragen lassen.

Laut Medienberichten geht es dabei um den 30-jährigen Ryan Ramharak, der zurzeit die niederländische Beamtenlaufbahn anstrebt. Er bekam bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen, ließ es später aber in männlich ändern. Jetzt gilt er offiziell als nicht-binär, was eigenen Angaben zufolge seiner Geschlechtsidentität am besten entspricht.

Schwangere nicht-binäre Person

Der Fall dürfte die Gerichte und Medien weiter beschäftigen: Der Betroffene ließ sich zwar mit Testosteron behandeln, jedoch nicht Gebärmutter und Eierstöcke entfernen. Darauf verzichtete er ausdrücklich, um später vielleicht einmal eigene Kinder zu bekommen.

Mit seinem 31-jährigen schwulen Partner David, den er über eine Dating-App kennenlernte, scheint das jetzt zu klappen. Das Paar berichtet, zwei Jahre lang probiert zu haben, bis Ryan endlich schwanger wurde. David habe sein Glück als werdender Vater anfangs nicht glauben können.

Der nicht-binäre Ryan will nach der Geburt allerdings nicht als Mutter, sondern als "Elternteil" eingetragen werden. Wie die niederländischen Behörden darauf reagieren, ist allerdings noch unklar. Der Fall könnte Rechtsgeschichte schreiben.

Für homosexuelle Männer mit Kinderwunsch könnte das eine interessante Möglichkeit sein: Mit einem Transmann oder einer nicht-binären Person mit Gebärmutter und Eierstöcken könnten sie in einer Beziehung eigenen Nachwuchs zeugen.

Man sieht, dass die Natur nicht nur dualistisch ist, sondern pluralistisch. Und auch die Wissenschaft soll die Welt zwar so einfach wie möglich beschreiben, doch auch so komplex wie nötig.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.

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