Yanis Varoufakis über Fake-Strommärkte, Ukraine-Krieg und bedrohte Demokratie

Seite 2: Europa exportiert erneut Elend in die Welt

Und wie wirkt es sich auf den Globalen Süden aus, dass Europa Gas und Öl aufkauft, wo immer es welches finden kann?

Yanis Varoufakis: Ist es nicht furchtbar? Europa exportiert wieder einmal Armut. In den Jahren 2008, 2009 und 2010 hat Europa bereits Deflation in den Rest der Welt getragen, zunächst durch die Krise der deutschen und französischen Banken, schließlich mit der Staatsschuldenkrise. Wir haben Arbeitslosigkeit in den Rest der Welt exportiert. Jetzt exportieren wir Armut, Energiearmut, die sich in Nahrungsmittelarmut niederschlägt, weil Deutschland, Frankreich, Italien und sogar das kleine Griechenland im Moment versuchen, so viel Gas wie möglich zu kaufen, in verflüssigter Form aus Norwegen, Katar, Algerien oder wo immer es zum Verkauf steht.

Natürlich können die reichen europäischen Staaten den gesamten afrikanischen Kontinent und den Großteil Asiens und Lateinamerikas auf diesen Märkten überbieten. Sie treiben also die Preise für diese Länder, die Entwicklungsländer, in die Höhe, während die gleichzeitig unter Nahrungsmittelknappheit leiden. So exportiert Europa wieder einmal Elend in den Rest der Welt. Wir machen das schon seit tausend Jahren. Es ist nicht neu. Von den Ufern Europas verbreitete sich ja der Kolonialismus über die Welt.

Könnten Sie über Ihre Forderung nach einem Ende der russischen Sanktionen und Ihre Reaktion auf den jüngsten ukrainischen Blitzangriff sprechen, bei dem eine Stadt nach der anderen zurückerobert wurde, während Russland klarstellt, weiter nicht verhandeln zu wollen.

Yanis Varoufakis: Es ist eine Tragödie, dass im Krieg nicht verhandelt wird, wo immer er stattfindet. Ich muss sagen, dass ich mich grundsätzlich freue, wenn es einem angegriffenen Land gelingt, den Angreifer zurückzuschlagen. Ich freue mich daher, dass die russischen Truppen zurückgedrängt worden sind. Ich würde mich auch freuen, wenn es den Palästinensern gelänge, ihr gestohlenes Land zurückzuerlangen. Ich freue mich für alle überfallenen Völker, wenn sie ihre Häuser, Städte, Dörfer, Felder, Olivenbäume oder was auch immer zurückerhalten.

Davon einmal abgesehen findet in Europa mit der Ukraine eine absolute Tragödie statt, denn ich sehe kein Ende des Krieges. Es kann keinen militärischen Sieg weder für Putin noch für die Ukraine geben. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Putin in diesem Moment ein weiteres mörderisches Abenteuer in Teilen der Ukraine plant. Uns steht ein sehr langer Krieg bevor, dessen Opfer sich vervielfachen werden und der sich ausweiten wird.

Menschen werden in Afrika oder Lateinamerika an Hunger sterben. Ein neuer Kalter Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Europa auf der einen Seite und China und Russland auf der anderen Seite hat sich entzündet, während afrikanische und asiatische Nationen fassungslos daneben stehen. Ja sicher, sie mögen Putin nicht. Ihnen gefällt nicht, was Putin unternimmt. Aber gleichzeitig weigern sie sich zu akzeptieren, dass die USA und Europa Sanktionen gegen jeden verhängen können, den sie nicht mögen. Sie wissen, dass solche Sanktionen nie effizient oder im Interesse der meisten Staaten und der Mehrheit der Menschen sind.

Die Top-Story in den Medien war in den letzten Tagen der Tod der britischen Königin Elizabeth. Wie sehen Sie als linker Politiker aus Griechenland die Fixierung eines Großteils der westlichen Welt auf Monarchien und natürlich auf die britische Königsfamilie?

Yanis Varoufakis: Ich versuche, wenn jemand stirbt, unabhängig von meiner Meinung über den Verstorbenen, die Menschen zu respektieren, die in Trauer sind. Deshalb werde ich mich in meiner Antwort sehr zurückhalten. Lassen Sie mich Ihnen jedoch eine Antwort geben.

Ich trauere um die bürgerlichen Freiheiten und um die Meinungsfreiheit. Ein Bekannter von mir hat mir vor kurzem von einem Vorfall vor dem House of Commons in London, dem Parlament des Vereinigten Königreichs berichtet. Das Parlament befindet sich neben dem Big Ben bzw. unterhalb davon. Dort wurde nun ein Demonstrant verhaftet, der die Dreistigkeit besessen hatte, ein Plakat hochzuhalten. Vielmehr, es war nicht einmal ein Plakat, sondern ein Stück Papier, auf das er "nicht mein König" gekritzelt hatte, als der neue britische König Charles vorbeiging.

Er wurde also verhaftet. Mein Bekannter ging ein paar Tage später an denselben Ort mit einem leeren Blatt Papier und einem Stift. Polizeibeamten kamen vorbei und wollten sich auf ihn stürzen. Er sagte ihnen:

Wenn ich also hier auf dieses Stück Papier schreibe: "Nicht mein König", dann werden Sie mich verhaften?

Und sie sagten: "Ja." Sie warteten neben ihm, was er tun würde. Das ist für mich der Tod der Demokratie. Darüber sollten wir uns klar sein.

Yanis Varoufakis ist Mitglied des griechischen Parlaments und ehemaliger Finanzminister Griechenlands. Er ist Mitgründer der paneuropäischen Partei Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25).