Zeichen gegen Populismus
Wie der EuGH die PKW-Maut kippt und dadurch die Europäische Idee schützt - Ein Kommentar
Die deutsche Pkw-Maut verstößt gegen Europarecht. Das sagt der europäische Gerichtshof in seinem aktuellen Urteil. Damit geht ein jahrelanger politischer und juristischer Streit zu Ende. Das ist ein gutes Urteil. Es ist juristisch klar und präzise. Es ist aber noch viel mehr: Es ist ein klares Zeichen dafür, dass Diskriminierungen in Europa verboten sind. Der EuGH duldet keinen plumpen Populismus, der Stimmung gegen die Bürger anderer Staaten macht.
Alles begann im bayrischen Landtagswahlkampf 2013. Horst Seehofer gab seinen Wählern ein Versprechen: Ausländer, die deutsche Autobahnen benutzen, sollten künftig Maut zahlen müssen. Deutsche PKW-Fahrer dagegen sollten von einer Abgabe verschont bleiben. Das kam bei den bayrischen Wählern gut an und zahlte sich am Wahltag aus.
Vordergründig geht es nur um eine PKW-Maut, also eine mehr oder weniger unwichtige verkehrspolitische Maßnahme. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit steht eine politische Grundidee der Europäischen Union im Feuer. Alle Bürgerinnen und Bürger Europas werden gleich behandelt, völlig unabhängig von ihrer Nationalität. Das ist ein grundlegendes europäisches Credo, das die EU im Innersten zusammenhält.
Diese Idee ist revolutionär. Denn über viele Jahrhunderte war es normal, dass die Staaten ihre eigenen Staatsbürger besser behandeln als die Bürger anderer Staaten. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wollte Europa ganz bewusst in eine völlig andere Richtung gehen. Inzwischen gibt es sogar eine rechtlich ausgefeilte Unionsbürgerschaft. Eine Maut, die nur von Ausländern zu zahlen ist, widerspricht dieser Idee völlig. Kein Wunder, dass die psychologischen und politischen Auswirkungen in den Nachbarstaaten Deutschlands verheerend waren - und weiter sind.
Im Lauf der politischen Diskussionen wurde aus der Maut eine Infrastrukturabgabe. Trotz neuer Details und des neuen Namens blieb es dabei: Alle Autofahrer, die deutsche Autobahnen benutzen, zahlen die Infrastrukturabgabe. Die deutschen Autofahrer werden aber über die KFZ-Steuer entlastet. Ihre KFZ-Steuer wird um den Betrag der Infrastrukturabgabe verringert. Unter dem Strich zahlen deutsche Autofahrer die Infrastrukturabgabe deshalb faktisch nicht. Ausländische Fahrzeughalter müssen aber zahlen. Aus der Sicht fast aller Europajuristen ist das eine indirekte Diskriminierung, die eklatant gegen Europarecht verstößt
Die Konsequenz ließ nicht lange auf sich warten: Österreich hat Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Die Niederlande unterstützen die Klage aktiv. Die Klagebegründung, aufs Wesentliche reduziert: Ausländische Autofahrer werden gegenüber deutschen deutlich benachteiligt Das Infrastrukturabgabe-Gesetz verstößt deshalb gegen das grundlegende Diskriminierungsverbot der europäischen Verträge.
Dieses Argument hat der Europäische Gerichtshof übernommen. Die Maut diskriminiert die Autofahrer, die nicht deutsche Staatsbürger sind. Und das verletzt das europäische Recht. So einfach ist das.
Der EuGH hat seine Chance genutzt zu zeigen, welche große Bedeutung die Gleichbehandlung aller Bürger in Europa hat
Vor sechs Wochen hatte der Generalanwalt noch ganz anders argumentiert. Die Steuerentlastung für die deutschen Autofahrer habe mit der Infrastrukturabgabe nichts zu tun. Deshalb sei sie auch keine Entlastung, die deutschen Autofahrern für die Infrastrukturabgabe geleistet werde. Also würden deutsche Autofahrer gar nicht entlastet - und ausländische Fahrzeughalter nicht diskriminiert.
Mit dieser Argumentation machte sich der Generalanwalt - man muss es so hart sagen - lächerlich. Die KFZ-Steuer-Entlastung wird exakt zur gleichen Zeit wie die Infrastrukturabgabe beschlossen. Sie entspricht in der Summe exakt der Abgabe, die für die Benutzung der Autobahnen zu zahlen ist. Das soll Zufall sein? Das behaupten noch nicht einmal die deutschen Politiker, die die PKW-Maut um jeden Preis durchsetzen wollten. Das ist ein abschreckendes Paradebeispiel für naive Juristerei im Elfenbeinturm.
Meistens folgt der EuGH den Vorschlägen des Generalanwalts. Aber nicht immer. Und das ist gut so, wie das Beispiel der PKW-Maut zeigt.
Rein juristisch ist das Urteil des EuGH klar und präzise. Es entspricht allen Regeln der juristischen Kunst. Es hat eine juristische Streitfrage auf hohem Niveau geklärt. Seine Bedeutung reicht aber viel weiter. Das Urteil setzt ein Zeichen gegen Diskriminierung, Abschottung und letztlich Populismus in Europa.
Der EuGH hat seine Chance genutzt. Die Chance zu zeigen, welche große Bedeutung die Gleichbehandlung aller Bürger in Europa hat. Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit zerstören den europäischen Zusammenhalt. In einer Zeit, in der Europa politisch auseinanderdriftet, ist das Urteil eine Wohltat. Nationale Egoismen nehmen - in der EU und anderswo - immer mehr zu. In solchen Zeiten ist die Diskriminierung von Ausländern bei vielen Wählern sehr populär. In Wahlkämpfen verspricht sie verlässlich Wählerstimmen. Die Entscheidung des EuGH zur deutschen Infrastrukturabgabe zieht hier rote Linien.
Mit europäischem Recht ist nichts vereinbar, das fremde Staatsbürger diskriminiert und ausgrenzt. Das Gericht hat die europäische Idee damit massiv verteidigt.
Aber darf der europäische Gerichtshof solche Überlegungen überhaupt berücksichtigen? Ist er nicht ein Gericht, das sich auf rein rechtliche Erwägungen beschränken sollte? Selbstverständlich: Der EuGH muss europäisches Recht anwenden und weiter entwickeln. Rechtssetzung oder gar Rechtsbeugung sind ihm verboten. Aber der Gerichtshof in Luxemburg ist kein Gericht wie jedes andere. Er hat auch die Funktion eines europäischen Verfassungsgerichts. Verfassungsgerichte müssen die politischen Folgen ihrer Urteile im Auge haben.
Und zusätzlich: Der EuGH ist ein wichtiger Player auf der europäischen politischen Bühne. Die Richter in Luxemburg dürfen sich deshalb nicht in den juristischen Elfenbeinturm zurückziehen. Sie müssen einen weiten Blick auf alle, nicht nur die juristischen Konsequenzen ihrer Urteile haben. Es reicht nicht, juristisch sauber zu arbeiten. Sie müssen auch die Auswirkungen ihrer Urteile auf die europäische Öffentlichkeit, die Politik und den weiteren Integrationsprozess berücksichtigen.
Damit erzählt man dem EuGH nichts Neues. Das hat er in der Vergangenheit auch immer getan. Er hat sich als Motor der europäischen Integration verstanden. Europäische Rechtsfragen lassen oft Spielräume für richterliche Interpretationen und Abwägungen. Seine richterlichen Spielräume hat der europäische Gerichtshof in seiner Geschichte immer europafreundlich genutzt. Im Zweifel für die Weiterentwicklung und Vertiefung der EU - Das war über Jahrzehnte das Motto seiner Rechtsprechung. Damit entspricht er auch dem Geist der europäischen Grundlagenverträge. Mit dem Urteil zur PKW-Maut hat er seinen Ruf als Wächter der europäischen Verträge und der europäischen Idee eindrucksvoll bestätigt.
Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler ist Jurist und Politikwissenschaftler an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.