Zeitenwende? Zeitenwende!

Der Begriff aus der Scholz-Rede 2022 muss auf frühere Ereignisse bezogen werden. Doch die werden ebenso wenig beachtet wie die Zusicherungen an Moskau nach 1990. Eine völkerrechtliche Einordnung.

"Zeitenwende" – dieser Begriff hat in Deutschland eine geradezu magische Aura entfaltet. Geprägt von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag, hat er ihm zugleich einen eindeutigen Inhalt gegeben: Krieg und Aufrüstung. Damit war Russlands Präsident Wladimir Putin als Auslöser und Verantwortlicher dieser Wende fixiert und der 100 Milliarden-Euro-Rüstungsbeschluss als unvermeidliche Konsequenz aus historischer Verantwortung gerechtfertigt.

Die Tatsache, dass der Krieg gegen die Ukraine ein Kriegsverbrechen und schwerwiegender Verstoß gegen die Völkerrechtsordnung ist, genügte, die Vorgeschichte für unbedeutend zu erklären und zu entsorgen.

Norman Paech war Professor für öffentliches Recht an der ehemaligen HWP in Hamburg und Bundestagsabgeordneter.

Doch bleiben wir bei dem Begriff der Zeitenwende, müssen wir ihn früher ansetzen, denn nur die Vorgeschichte und nicht die Kreml-Psychologie erklärt, warum es zu dieser Katastrophe kommen musste.

Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, ein Jahr später mit dem "Zwei-plus-Vier-Vertrag" die Grenzen Deutschlands neu gezogen wurden und wiederum ein Jahr später die Sowjetunion und ihr Militärbündnis, der Warschauer Pakt, sich auflösten, konnte man wahrlich von einer Zeitenwende sprechen.

Aus dieser Perspektive erscheint der Krieg Russlands gegen die Ukraine nur als eine weitere Etappe in der durch die Zeitenwende Anfang der Neunzigerjahre gegenüber der vergangenen Epoche des Kalten Krieges neu definierten Auseinandersetzung zwischen West und Ost.

Wer seinerzeit vom Ende der Kriegsgefahr und einer "Friedensdividende", von Abrüstung und "gemeinsamer Sicherheit" träumte, konnte sich zwar auf den Wortlaut des "Zwei-plus-Vier-Vertrages", "die Sicherheit zu stärken, insbesondere durch Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung, und sich gegenseitig nicht als Gegner zu betrachten", auf Gorbatschows "Politik der ausgestreckten Hand" und die Charta von Paris vom November 1990 stützen. Aber nur neun Jahre später wurde der wahre Charakter dieser neuen Epoche mit dem Überfall der Nato-Staaten auf Jugoslawien im März 1999 deutlich.

Der US-amerikanische Exzeptionalismus, vulgo "America first", wollte schon damals nichts mehr von der 1990 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und US-Außenminister James Baker gegebenen Zusicherung wissen, dass es keine Osterweiterung der Nato gegen den Willen Moskaus geben werde.

Dieser Krieg war der erste völkerrechtswidrige Krieg auf europäischem Boden und nicht der russische Krieg gegen die Ukraine. Das wird in der derzeitigen Kriegsbegeisterung gegen Russland systematisch unterschlagen.

Ein Krieg unter Umgehung des UN-Sicherheitsrats, der erste Griff nach Osten, dem unmittelbar danach die Eingliederung von elf Staaten an der Ostgrenze Russlands folgten: 1999 Polen und die Tschechoslowakei, 2002 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, 2011 Albanien, Kroatien, 2017 Montenegro, 2020 Nordmazedonien.

Es fehlen noch Bosnien-Herzegowina, Georgien und Ukraine. Lange hatte sich Boris Jelzin gegen diese Entwicklung gewehrt. Im Mai 1997 gab er schließlich mit der Nato-Russland Grundsatzakte seinen Widerstand auf und stimmte dem Vordringen der Nato nach Osten zu.

Dies war ein Zugeständnis, welches die USA im umgekehrten Verhältnis nie gemacht hätten. Zu Recht, denn die Nato-Mitgliedschaft erschöpft sich nicht nur in der Einrichtung diplomatischer Büros, sondern bedeutet die enge Einbindung in die Nato-Planung und die Stationierung US-amerikanischer Raketen unmittelbar an der Grenze zu Russland.

Angesichts des Überfalls der Nato auf Jugoslawien, der jahrzehntelangen Intervention in Afghanistan seit 2002, des Überfalls auf den Irak 2003, die militärischen Interventionen in Libyen 2011 und Syrien 2014 – alles völkerrechtswidrige Überfälle – sollte die Skepsis der Russen vor den Versicherungen der ausschließlich friedlichen Ziele der Nato-Erweiterung verständlich sein.

Es muss nicht alles neu erzählt werden: die weitgehenden Angebote Putins zur Zusammenarbeit mit dem Westen im Deutschen Bundestag 2001, seine deutliche Warnung, wenn seine Angebote immer wieder zurückgewiesen würden, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, die Erklärung Georgiens und Ukraine zum Tabu für die Osterweiterung und der an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Präsident Nicolas Sarkozy scheiternde Versuch Bakers, die beiden Länder im Jahr 2008 dennoch in die Nato zu integrieren.

Eine Situation wie 1962 in Kuba

Die USA und ihre Nato-Partner wussten genau, dass sich mit dem weiteren Vordringen der Nato über die rote Linie eine Situation wie die Kuba-Krise 1962 ergeben würde.

So hatten die US-Geheimdienste bereits im November 2021 vorausgesagt, dass Putin den Befehl zur Invasion geben würde. Als sie im Januar ihre Erkenntnisse wiederholten und den 16. Februar als Termin für den Einmarsch angaben, wäre noch genügend Zeit gewesen, den Krieg zu verhindern.

Putin hatte am 21. Dezember 2021 mit "harten militärisch-technischen Maßnahmen" auf "unfreundliche Maßnahmen" des Westens gedroht. Es ging ihm vor allem um eine langfristige Garantie, dass die Ukraine nicht in die Nato einbezogen werde. Die Annexion der Krim am 18. März 2014 sollte Politik und Militär der Nato gezeigt haben, dass Putin nicht zögern würde, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen.

Aber die USA und ihre engsten Verbündeten ließen es auf einen Krieg ankommen. Sie hatten schon beim Maidan-Putsch mitgeholfen und die Ukraine nachhaltig aufgerüstet. Dieser Krieg war vermeidbar und es stellt sich die Frage, ob ihm nicht schon eine längere Planung zugrunde lag.

Horst Teltschik, ehemaliger Chef der Abteilung für auswärtige Beziehungen im Kanzleramt von Helmut Kohl, schreibt in seinem lesenswerten Buch "Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden", welches bereits 2019 erschien (S. 203, 204):

Die Geschichte des Weges in die Konfrontation... zeigt eine Spirale gegenseitigen Misstrauens, wobei Moskau auch immer wieder Signale seiner grundsätzlichen Kooperationsbereitschaft aussandte und der Westen es insbesondere in der Schlüsselzeit 2007/2008 an Kompromissbereitschaft fehlen ließ. In dieser [Teltschiks] Interpretation geht es Russland in erster Linie um Sicherheit und darum, weiterhin ein eigenständiges Machtzentrum zu bleiben. Es agiert aggressiv, ... weil es einen weiteren Einflussverlust vermeiden möchte und weil es den Sicherheitsversprechen des Westens zunehmend nicht mehr traut.

Stimmt diese Sichtweise, dann führt die gegenwärtig von Washington und den osteuropäischen Nato-Staaten favorisierte Konfrontationspolitik nur zu einer immer weiteren Verschlechterung der Beziehungen und gefährdet letztlich den Frieden.

Es ist allerdings eine der unumstößlichen Überzeugungen im Westen, dass der Kreml nicht verhandeln will, es also keinen Zweck hat, ihm Verhandlungen anzubieten. Putin reagiere nur auf Gewalt. Deshalb gilt die von Wolodymyr Selenskyj ausgegebene Devise, Krieg bis zum Sieg, die insbesondere die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verficht.

Dementsprechend werden die raren Gelegenheiten wirklicher Verhandlungen torpediert. Ob die durch Frau Merkel, François Hollande und Viktor Poroschenko selbst aufgedeckte Verhandlungsfarce von Minsk II im Jahr 2015 oder die offensichtlich bis zu einem Vertragsentwurf für Waffenstillstand und Frieden gelangten Verhandlungen in Istanbul im März 2022, die durch eine Intervention des britischen Premiers Johnson in Kiew gestoppt wurde oder die schließlich ebenfalls am Widerstand der USA und Großbritanniens gescheiterten Friedensbemühungen des ehemaligen israelischen Premiers Naftali Bennett, der Befund bestätigt:

Die USA und ihre Nato-Verbündeten sind an einem Frieden nicht interessiert, da ihr Kriegsziel weit über die Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine hinausgeht und die Schwächung Russlands, seine Ausschaltung als internationaler Machtfaktor verfolgt – in den Worten der deutschen Außenministerin Baerbock, "Russland ruinieren".

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist schon lange ein Krieg der USA gegen Russland. John Mearsheimer von der Universität Chicago, ein führender Vertreter der realistischen Schule, pointiert:

Die USA wollen Russland nicht nur innerhalb der Ukraine besiegen. Sie versuchen auch, die russische Wirtschaft zu zerstören. Es gibt Leute, die sogar davon sprechen, Russland zu zerschlagen wie einst die Sowjetunion. Die USA sind darauf aus, Russland aus der Reihe der Großmächte zu verdrängen.

Ob nun Verhandlungen oder nicht, Waffenlieferungen sind das stärkere Argument. Sie verlängern den Krieg und eskalieren die Gewalt. Dass diese Politik schließlich den Einsatz von Nuklearwaffen provozieren kann, wird durchaus gesehen, die Gefahr aber heruntergespielt. Und das ist das Bedrohlichste an dieser Perspektive, dass die USA diese Gefahr nicht berührt, denn ihr Territorium liegt im Falle der Detonation mindestens 8.000 Kilometer entfernt.

Dieser Artikel erscheint auch in Spinnrad. Forum für aktive Gewaltfreiheit, Ausgabe 1/2023, herausgegeben vom Internationalen Versöhnungsbund – Österreichischer Zweig

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