Zeitenwende für Russland – auch an der "Heimatfront"

Seite 2: Der Umbau Russlands betrifft nicht nur Oppositionelle

Vielmehr begann ein ultrakonservativ ideologisiertes Establishment den Staat und die Gesellschaft bis an die Basis umzubauen. Fahnenappelle und pseudomilitärische Erziehung an den Schulen, ideologischer Unterricht an den Universitäten, die Ablösung kritischer Geister etwa in Putins Menschenrechtsrat oder an der Spitze der Russischen Akademie der Wissenschaften sowie der auf Funktionsträger, sich demonstrativ patriotisch zu äußern. Es reichte nun nicht mehr, "unpolitisch" zu sein.

Es folgte die Etablierung eines staatsnahen Kinder- und Jugendverbandes mit dem Ziel, damit die recht kritische jüngere Generation schon vor ihrer politischen Mündigkeit auf einen nationalkonservativen Kurs zu bringen.

Hinzu kamen immer stärkere Einschränkungen für die LGBTQ-Szene, die Verbreitung eines traditionellen Frauenbildes, das vor allem die Mutterschaft als Lebensziel propagiert. Alles ging Schlag auf Schlag in Richtung zu einer Gesellschaft, die ihr Ideal nun in der Vergangenheit sucht, von der Ideologie noch mehr in der Zarenepoche als in der Sowjetzeit, denn internationaler oder emanzipatorischer Geist war nicht enthalten, sondern nur ein ultrakonservativer Rechtsradikalismus.

Waren davon immer noch nicht alle Russen betroffen, sorgte die Teilmobilmachung im September des Jahres für ein wahres Schockerlebnis in der Gesellschaft. War der Feldzug im Nachbarland zuvor immerhin noch eine Sache der "Profis" aus russischen Zeit- und Berufssoldaten, betrafen die folgenden Einberufungen Männer aus praktisch in jeder russischen Kleinstadt.

Der Krieg, den die Führung entfesselt hatte und der nicht wie gewünscht lief, erreichte die Familien im ganzen Land. Nicht wenige entschlossen sich zur Flucht in Nachbarstaaten wie Georgien oder Kasachstan, da die EU-Ostgrenze von den dortigen Hardliner-Staaten bereits dichtgemacht worden war.

Nur der Weg nach Süden und nicht nach Westen war noch geeignet, einem Krieg zu entkommen, den man weder persönlich unterstützte noch gewillt war, dort zu sterben.

Vor allem ältere Russen waren lange im Vertrauen auf Langzeitpräsident Putin, der sie aus den verarmten 1990er-Jahren in einen oft bescheidenen Wohlstand geführt hatte, dem Kriegskurs zumindest passiv gefolgt. Sie schätzten sein Image, für Stabilität zu stehen und übersahen oft, dass diese schon vor dem radikalen Wandel 2022 in Stagnation übergegangen war.

Doch die Mobilmachung brachte auch hier eine Wende, in der sich erstmals in Umfragen mehr Russen für eine Kriegsbeendigung aussprachen, als für eine Fortsetzung, obwohl diese unzweifelhaft das aktuelle Programm des Kremls ist. Bei den aktuell restriktiven innenpolitischen Verhältnissen bedeutet das jedoch nicht gleich eine ernste Gefährdung des bürokratischen Regierungssystems, das manch westlicher Experte in einem Wunschdenken herbeireden will.

Denn jedem ist bewusst, dass selbst leichte Formen eines aktiven Widerspruchs sehr schnell zur Inhaftierung führen können, anders, als es noch in der Zeit bis Februar der Fall war.

Nichteinverstandene leiden passiv

Unter dem russischen System nach der Zeitenwende 2022 leiden im Inneren vor allem die, die nicht einverstanden sind mit dem, was geschieht. Im Gegensatz zum Eindruck, der aus deutschen Presseberichten entstehen könnte, befindet sich die große Mehrheit dieser Menschen immer noch im Land, ist aber politisch nicht aktiv.

Fast jeder von ihnen kennt jemanden, der sich etwa anlässlich der Mobilisierung ins Ausland abgesetzt hat. Aber dennoch ist die große Mehrzahl weiter in Russland vor Ort und wohnt oft in jüngeren Milieus der großen Städte, wo die Kriegs- und Regierungsunterstützung stets ein Minderheitenphänomen war.

Ich habe selbst in den letzten Wochen mit eine Reihe dieser Menschen gesprochen, was nur möglich ist, wenn man Vertrauen genießt und glaubhaft versichert, dass keine Äußerung namentlich gekennzeichnet in einem ausländischen Presseerzeugnis landet.

Tatsächlich hat sich auch diese Szene der Nichteinverstandenen durch die russische Zeitenwende stark gewandelt. Man spreche selbst innerhalb des eigenen Milieus kaum noch über Politik, da man nie sicher sein kann, was die Konsequenzen sein könnten, bekam ich zu hören.

"Russen, die ihre Meinung kritisch sagen, eint vor allem, dass sie alle im Ausland sind" meinte eine junge Russin zu mir. Man sei vorsichtig in sozialen Netzwerken, denn jede Äußerung kann im "neuen Russland" nach Kriegsbeginn der Beginn eines Weges sein, die in Flucht oder Haft endet. Es gibt viel beachtete "Heldinnen und Helden", die sich äußern und sogleich diesen Weg antreten, aber sie sind – wie im Ernstfall in jedem Volk – nur eine Minderheit.

Manche suchen nach alternativen Nachrichten in den nun exilrussischen kritischen Medien. Andere finden es deprimierend, ständig Nachrichten zu hören, die man selbst furchtbar findet und nicht ändern kann – und ziehen sich so weit wie möglich ins Privatleben zurück.

Dass der Konsum westlicher Güter und Medien um einiges teurer und schwieriger geworden ist, lässt auch diese meist urbanen, jungen Russen erstaunlich kalt. "Ich würde gerne auf all das lebenslang verzichten, wenn nur in der Ukraine keine Menschen mehr sterben würden" war eine Aussage, die ich mehrfach hörte.

Das Mitgefühl mit den Opfern der eigenen Politik verursacht unter vielen dieser Russen eine depressive Grundstimmung, Auswanderungsgedanken haben viele, sie hält nur ein Mangel an Möglichkeit davon ab. Was den Westen an sich angeht, ist eine gewisse Desillusionierung eingetreten. "Niemand dort interessiert, wie es uns geht" meinte eine junge Russin zu mir.

Europa schließe die Grenzen für Russen, obwohl klar sei, dass damit vor allem die Nichteinverstandenen im Land getroffen würden, die nun vor Ort keine Zukunft mehr sähen. Sie fühlten sich wie in einer Sackgasse ohne Rettungsweg.

Zufriedenheit fehlt auch in der "Z-Fraktion"

Dabei soll natürlich nicht unterschlagen werden, dass es in Russland auch die entgegengesetzte, sogenannte "Z-Fraktion" gibt, die nationalpatriotischen Kriegsbefürworter. Deren Stimmung ist aber nur unwesentlich besser, seit russische militärische Erfolge an der Front ausbleiben. Manche ergehen sich in der Forderung nach radikalen Lösungen, doch auch diese überzeugten Kriegsfans sind in der Bevölkerung nur eine kleine Minderheit.

Die weitaus größte Zahl der Menschen ist apathisch, abwartend und unsicher. Sie akzeptiert, dass die Führung entscheidet und hofft mit viel Sorge, dass sich alles irgendwie doch wieder besser entwickeln wird.

Die Regierung müsste wissen, dass ein blindes Befolgen radikaler Vorstellungen nicht nur riskant für das eigene Land und die eigene Herrschaft wäre, sondern auch eine Zerreißprobe für das eigenen Volk. Längst hat man bemerkt, dass der "Brain Drain" an ausgewanderten hochqualifizierten Regimegegnern in der russischen Wirtschaft Spuren hinterlassen hat und versucht sich darin, diese zur Rückkehr zu bewegen.

Das ist jedoch ein wenig erfolgversprechender Ansatz, wenn zeitgleich im "neuen" Kriegsrussland die Suche nach "Verrätern" verstärkt wird und niemand sicher sagen kann, ob und wann eine weitere Mobilisierungswelle durch das Land geht, um weitere Hunderttausende russischer Männer in einen Eroberungskrieg zu schicken.

Wird der Weg in einen totalitären russischen Staat fortgesetzt, kann es im Gegensatz dazu durchaus zu weiteren Auswanderungswellen kommen. Vor allem, falls der Staat in noch größerem Umfang ein aktives Bekenntnis der Bevölkerung zur ultrakonservativen Doktrin von einer "russischen Welt" verlangt. Auch die pure Lebensqualität der nächsten Jahre wird Einfluss auf die Auswanderungsneigung haben. Hier sind Prognosen schwierig.

Mit einem Zusammenbruch ist nicht zu rechnen, aber mit einem Rückschritt durch einen eingeschränkten Zufluss von ausländischer Technik.

Auch ein Zusammenbruch des politischen Systems ist, anders, als viele Politiker im Westen denken, keine automatische Folge der aggressiven russischen Politik. Nicht jede Diktatur ist zwangsläufig instabil, wie zahlreiche aktuelle Beispiele, etwa der deutsche Gaslieferant Aserbaidschan oder Nordkorea zeigen.

Auch die Russen wissen das - Stalin herrschte mit grausamen Methoden über Jahrzehnte, die Sowjetunion brach erst zusammen, als ein ungeschickter Michail Gorbatschow Versuche unternahm, das verkrustete, totalitäre System zu reformieren.