Zeitenwende für Russland – auch an der "Heimatfront"

Die Stimmung in Moskau und ganz Russland war schon mal besser. Archivbild: Benreis / CC BY-SA 3.0

Im Inneren Russlands ist Ende 2022 nur wenig so, wie es war. Nichteinverstandene leiden, aber auch die "Z-Fraktion" ist frustriert. Die Entwicklung war vorhersehbar. (Teil 2 und Schluss)

Als der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Bezug auf die russische Ukraine-Invasion ab Februar den Begriff der "Zeitenwende" prägte, war dieser von Anfang an in Deutschland hoch umstritten.

Siehe Teil 1: Zeitenwende für Russland.

"Russlandversteher" sahen die aktuelle Situation als Folge einer langjährigen Entwicklung, die der Westen maßgeblich mit verursacht hat, etwa durch das Vordringen der Nato nach Osteuropa oder den fehlenden Druck der Europäer auf Kiew, die Vereinbarung von Minsk zur Lösung des Ukraine-Konflikts umzusetzen.

Hardlinern unter den Ukraine-Freunden wiederum ging das Verhalten der Bundesregierung unter diesem Schlagwort nicht weit genug – und sie fordern bis heute lautstark nach der Lieferung von Angriffswaffen auch durch Deutschland um, wie sie überzeugt sind, den Ukraine-Krieg durch einen militärischen Sieg der Ukraine zu beenden.

In Bezug auf den Angreifer Russland selbst ist der Begriff einer "Zeitenwende" aber in der Tat angemessen, um die umfangreiche Änderung des politischen Systems im Inneren und der außenpolitischen Lage im Jahresverlauf 2022 zu beschreiben.

In Russland selbst und in Bezug auf seine geopolitische Lage ist zum Jahresende kaum noch etwas so, wie es im Januar 2022 schien. Die gewaltigen Änderungen im Inneren sollen Thema dieses Textes sein - die Fortsetzung wird sich der neuen Defensive widmen, in die die russische Außenpolitik im Jahresverlauf geriet.

Vorkriegs-Russland als typische Autokratie

Damals - vor nicht einmal zwölf Monaten - schien Russland wie eine typische Autokratie. Wer sich als Russe nicht groß politisch engagierte oder auch im privaten Umfeld kritisch zu den Behörden äußerte, hatte weitgehend nichts zu befürchten. "Unpolitisch" konnte man sein Leben leben und in politikfernen Bereichen der Verwaltung sogar durchaus Karriere machen.

Politisches Engagement wurde nicht gefördert. Eine Autokratie ist natürlich keine echte Demokratie. Wahlen waren frei und geheim, aber nicht fair, Auszählungsergebnisse wurden manipuliert, wirklich systemkritische Opposition bei der Teilnahme behindert, wenn nicht gar ihr Antritt verhindert.

Die russische Korruption bis an die untere Basis der Gesellschaft tat ihr übriges, zu viel Demokratie zu verhindern, schon aus Eigennutz der Profiteure. Aber sie ist weder ein rein russischen Phänomen in Osteuropa - die Ukraine kämpft ebenso mit ihr und großer Oligarchenmacht - noch ein Produkt des Putinschen Systems und war schon zur Zarenzeit vorhanden.

Über dem gesamten System stand der Kreml mehr oder weniger symbolisch. Präsident Putin selbst wirkte, vor allem seit Beginn der Corona-Pandemie vom tagespolitischen Geschehen eher entrückt, ließ die verschiedenen Interessengruppen im System ihre Vorschläge vortragen und entschied nur bei einigen zentralen Dingen wie ein Schiedsrichter, welchem Weg man folgen solle.

Seine noch Jahre zuvor recht gewitzten Reden gegen den Westen wurden zunehmend träge. Viele Analysten beschäftigten sich damit, wer in das nach ihm benannte "System Putin" frischen Wind bringen, ja ihm vielleicht sogar nachfolgen könnte.

Totalitäre Entwicklung mit Ansage

Ein Wandel hin zu einem totalitäreren System deutete sich dennoch bereits in den letzten Jahren an. Das Gesetz über ausländische Agenten, ursprünglich inspiriert von einer ähnlichen Norm aus den USA, wurde Schritt für Schritt verschärft.

Betraf die Regelung zu Beginn nur vom Ausland regelmäßig unterstützte Organisationen, wurden erst auch Einzelpersonen in die "Agentenliste" einbezogen und zunehmend bei regierungskritischen Organisationen auch nach Gründen gesucht, ihnen diesen Stempel zu verschaffen.

Auch die Einschränkungen, denen eine solcher ausländischer "Agent" unterworfen war, nahmen von einer reinen Kennzeichnungspflicht immer weiter zu. Putin verkündete bereits 2021 seine unheilige Doktrin vom "dreieinigen" russischen Volk, zu dem er ungefragt auch die Ukrainer und Weißrussen zählte.

Doch man nahm diese Theorie nicht so ernst, dass man mit kriegerischen Schritten rechnete, diese "Einigkeit" mit Waffengewalt herzustellen. Viele übersahen, dass Putin gerade hier wieder mit dem Engagement und der Überzeugung agierte, die ihn bei früheren Attacken wegen des westlichen Dominanzstrebens angetrieben hatten. Nur ging es hier eben nicht um eine Abwehr.

Den Bereich der klassischen Medien hatte die Regierung schon vor längerer Zeit zwangsweise "auf Kurs" gebracht - alle großen TV-Station und fast alle Radiosender mit politischem Inhalt wurden nach und nach von kritischen Inhalten und durch feindliche Übernahmen "gesäubert", kritisch berichtende Journalisten dort gerieten leicht in Haft.

Dennoch hatten die Russen bis zum Kriegsbeginn die Möglichkeit, sich über unabhängige Online-Medien zu informieren, einige Zeitungen berichteten kritisch über das Landesgeschehen und immerhin ein Radio- und ein TV-Sender widerstanden dem staatlichen Druck zur Anpassung, Echo Moskwy und Doschd.

Der Angriffsbefehl stellt die Welt von oben auf den Kopf

Als dann der Putin-Befehl zur Invasion kam, schien Russland von oben herab auf den Kopf gestellt zu werden. Kaum jemand bezweifelt, dass der Angriffsbefehl auf das Nachbarland direkt aus dem Kreml von ganz oben kam. Egal, ob vorher dubiose Berater oder der Inlandsgeheimdienst FSB die falsche Information ausgegeben hatten, man könne das Nachbarland als leichte Beute in kurzer Zeit militärisch erobern.

Tatsächlich war dies ein Glaube, der quer durch die russische Expertenriege ging, auch durch den Teil, der eine solche Invasion mit gutem Grund als fatal für Russlands Zukunft einschätzte.

Danach ging es Schlag auf Schlag. Alle kritische Berichterstattung im Land wurde unterbunden, wer sich daran nicht anpasste, musste vor einer Verhaftung ins Ausland flüchten. Viele "gemäßigt" kritische Medien wie RBK oder Kommersant passten sich zwangsweise an, um ihr Erscheinen nicht zu gefährden, andere wie Echo Moskwy hatten sich schon vor dem Krieg zu weit vorgewagt, um in Russland nach Kriegsbeginn weiter existieren zu können.

Neue Gesetze – wie eine Norm, die jede von der Version des Verteidigungsministeriums abweichende Berichterstattung über den Ukraine-Krieg unter Strafe stellte – machten dies möglich.

Doch die Zeitenwende in Russland betraf nicht nur kritische Journalisten oder andere Oppositionelle, die reihenweise ihre Koffer packten oder inhaftiert wurden. Auch ganz normale Russen bemerkten schnell, dass im Russland ab Februar 2022 ein schärferer Wind wehte.

Dafür sorgten nicht einmal so sehr die westlichen Sanktionen, die von dort kommende Markenprodukte stark verteuerten, da sie nun auf halblegalen Wegen über Drittstaaten ins Land kommen müssen.