Zeitenwende und Hiroshima

Atompilz

"Castle Bravo", mit 15 Megatonnen Sprengkraft die bis heute stärkste thermonukleare Explosion des USA. Bild: US Federal Government

Atombombe über Hiroshima markierte neue Ära. Menschen können alles Leben auslöschen. Was das mit Olaf Scholz’ Zeitenwende zu tun hat. Ein Gastbeitrag.

Der 6. August 1945, an dem die erste Atombombe über Hiroshima gezündet wurde, bezeichnet die eigentliche Zeitenwende. Als Tag Null bezeichnet der Philosoph Günther Anders den 6. August, der ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet habe.

Durch die Entwicklung der Atombombe und die Bereitschaft, sie einzusetzen, habe der Mensch erstmals gezeigt, dass er alles Leben auf diesem Planeten auslöschen kann. Am 6. August 1945 vernichteten die USA mit dem Abwurf der ersten Atombombe die Stadt Hiroshima vollkommen, drei Tage später mit einer weiteren Atombombe die Stadt Nagasaki. Die Explosion verursachte einen riesigen Feuerball mit Temperaturen bis zu 4.000 Grad Celsius, gefolgt von einer ungeheuren Druckwelle.

In der Nähe des Epizentrums verdampfte praktisch alles; gewaltige Feuerstürme wurden entfacht. Große Mengen Radioaktivität wurden freigesetzt, zunächst als Gammastrahlung (Röntgenstrahlung), später als radioaktiver Niederschlag, dem die Menschen schutzlos ausgeliefert waren.

Hölle von Hiroshima

Hiroshima hatte sich in eine Hölle verwandelt: Überall Tote und Schwerverletzte. Viele Menschen erlitten schwerste Verbrennungen. 45.000 Menschen waren am ersten Tag sofort tot. Hinzu kamen ca. 75.000 Verletzte, die ohne jede medizinische Hilfe durch die Stadt irrten. Viele sprangen aus Verzweiflung in die Flüsse. Gegen Ende des Jahres 1945 waren allein in Hiroshima 140.000 Menschen gestorben.

90 Prozent der Ärzt:innen und des Pflegepersonals waren getötet oder verletzt worden. Von den ursprünglich 45 Krankenhäusern waren nur noch drei funktionsfähig. Die komplette Infrastruktur der Stadt war zusammengebrochen. Fast alle Gebäude waren zerstört. Obdachlosigkeit und Hunger waren die Folge.

Keine Lehren durch humanitäre Katastrophe

Dennoch hat diese humanitäre Katastrophe nicht zur Einsicht geführt, dass solche Waffen nie wieder eingesetzt werden dürfen. Im Gegenteil, bereits am 30. Juni 1946 zündeten die Amerikaner zu Testzwecken auf dem Bikini-Atoll eine noch viel stärkere Bombe.

Kurze Zeit später begannen die aufstrebenden Atommächte, die Sowjetunion, England, Frankreich und China und zuletzt Indien, Pakistan und Nordkorea weltweit mit ihren Tests. Mehr als 2.000 Atomwaffen wurden seither gezündet –davon allein 528 in der Atmosphäre –, zumeist in Regionen, in denen indigene Völker lebten oder in ehemaligen Kolonialgebieten. Besonders verheerend war 1954 die Explosion der ersten amerikanischen Wasserstoffbombe (thermonukleare Bombe) mit dem Namen "Bravo".

Die Folgen der oberirdischen Atomtests sind ein weltweiter Anstieg der Krebsraten, insbesondere in den Testgebieten. Radioaktive Isotope, vorwiegend Plutonium, werden seitdem weltweit nachgewiesen.

Prognose: Hunderttausende Krebstote

Die Ärzteorganisation IPPNW rechnet in ihrem Report vom August 2023 allein bis zum Jahr 2000 weltweit nach konservativen Schätzungen mit mindestens 430.000 zusätzlichen Krebstoten durch kumulative Strahlendosen. Langfristig ist aufgrund der Langlebigkeit vieler radioaktiver Isotope mit mindestens zwei Millionen zusätzlichen Krebstoten zu rechnen.

Atomwaffen töten bereits bei ihrer Entwicklung und Testung, nicht erst, wenn sie als Waffe eingesetzt werden.

Hohes Zerstörungspotenzial

Die heutigen thermonuklearen Bomben (Wasserstoffbomben) verfügen, verglichen mit denen von Hiroshima und Nagasaki, über ein noch viel höheres Zerstörungspotenzial. Selbst bei dem Einsatz einer einzigen Nuklearwaffe – bei den herrschenden Nukleardoktrinen ein eher unwahrscheinliches Szenario – gibt es keinen wirksamen Katastrophenschutz und keine ausreichende medizinische Hilfe.

Kein Gesundheitssystem könnte ein solches Szenario bewältigen. Alle Intensivstationen für Brandverletzte der Welt würden nicht ausreichen, um die Überlebenden einer einzigen, über einer Großstadt abgeworfenen Atombombe aufzunehmen. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie und das geplante Gesundheitssicherstellungsgesetz sollen die fatale Illusion erzeugen, ein Atomwaffeneinsatz sei in einer Weise "handhabbar".

Massenvernichtungswaffen ächten

Atomwaffen sind Massenvernichtungswaffen, die geächtet und verboten werden müssen. Schon die Drohung damit und erst recht ihr Einsatz verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht. Eine Drohung – allein durch ihre Existenz – besteht schon dann, wenn der Einsatz, insbesondere der Ersteinsatz dieser Waffen in der herrschenden Nukleardoktrin, nicht ausgeschlossen wird.

Die chinesische Nukleardoktrin ist derzeit die Einzige, die einen Ersteinsatz ausschließt. Jede einzelne Atomwaffe hat das Potenzial, Hunderttausende Menschen unterschiedslos zu töten und zu verstrahlen. Die Abschreckung mit Massenvernichtungswaffen ist nicht vertretbar und verrät die viel zitierten Werte, die sie zu schützen vorgibt.

Die nukleare Abschreckung unterwandert das Völkerrecht, indem sie Zivilist:innen und Städte als militärische Ziele betrachtet. Damit stellt schon die Planung für einen Atomkrieg zumindest die mögliche Bereitschaft zum Massenmord und zu einer katastrophalen Umweltzerstörung dar.

Atomare Teilhabe der Nato

Belgien, Italien, die Niederlande, die Türkei und Deutschland halten als Nichtatomwaffenstaaten dagegen dennoch weiterhin an der nuklearen Teilhabe mit US-Atomwaffen fest. In diesen Ländern wird sie gerade durch Modernisierung der atomaren Sprengköpfe (B61-12), als auch durch neue Trägerflugzeuge (F-35) ausgebaut. Russland hat seit 2023 seinerseits Atomwaffen in Belarus stationiert. Die nukleare Teilhabe macht die Stationierungsorte zu potenziellen Zielen. Für die Länder, in denen sie stationiert sind, bedeuten sie eine Gefahr. Sie bieten keinen Schutz.

Die Friedensnobelpreisträger ICAN und IPPNW fordern seit Langem den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland und eine Beendigung der aus ihrer Sicht völkerrechtswidrigen Praxis der "nuklearen Teilhabe". Dazu schrieb Ottfried Nassauer wenige Monate vor seinem plötzlichen Tod 2020:

Die Mitwirkung an der politischen und technischen nuklearen Teilhabe kann eine politische, moralische und ethische Mitverantwortung für einen künftigen Nuklearwaffeneinsatz durch die Nato-Ländern zur Folge haben. Nichtnukleare Bündnismitglieder wären mitverantwortlich, würde die Allianz Nuklearwaffen einsetzen.

79 Jahre später ist ein weltweiter atomarer Rüstungswettlauf in Gang. Fast alle bestehenden nuklearen Abrüstungs- und Kontrollverträge wurden gekündigt, nur noch der bilaterale New Start-Vertrag bleibt bis Anfang 2026 gültig, aber ein Nachfolgevertrag ist nicht in Sicht.

Dem 2019 durch die USA gekündigten INF-Vertrag und kurz darauf auch von Russland annullierten Vertrag über Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometer folgen jetzt Taten durch die verhängnisvolle Entscheidung, in Deutschland ab 2026 wieder Mittelstreckenraketen aufzustellen. Wie Bundeskanzler Olaf Scholz am Rande des Nato-Gipfels in Washington, Juli 2024 bekannt gab, sollen darunter auch Tomahawk-Marschflugkörper sein.

Die Aufrüstung wird dieses Mal nicht von einem Dialog zwischen beiden Atommächten begleitet. Das ist für Europas Sicherheit katastrophal.

Im Jahr 2024 ist das Atomkriegsrisiko so hoch wie selbst in Zeiten des Kalten Krieges nicht. Dazu tragen die Aufkündigung der nuklearen Abrüstungsverträge, die Klimakrise, die Gefahren durch Cyberkriegstechnologien und Künstliche Intelligenz und die zunehmenden weltweiten Spannungen, insbesondere die eskalierenden Kriege in der Ukraine und in Nahost bei. Durch die immer kürzer werdenden Vorwarnzeiten steigt das Risiko eines "Atomkriegs aus Versehen".

Dennoch gilt nukleare Abschreckung für viele wieder als friedenssichernd. Im aktuellen Europawahlkampf wurde erneut eine gefährliche Debatte losgetreten, Europa müsse sich atomar aufrüsten und könne so seine Sicherheit erhöhen. Dabei gehört Europa bereits jetzt zu den Weltregionen, in denen das Risiko eines Atomkriegs am höchsten ist. Sogar die Forderung nach einer deutschen Atombombe ist nicht mehr tabu.

Dass dies gar nicht möglich wäre, ohne aus dem Nichtverbreitungsvertrag auszutreten oder den 2+4-Vertrag zu verletzen, wird nicht gesagt. Die Beschädigung des letzten Vertrages, der zur Abrüstung verpflichtet, dem Nichtverbreitungsvertrag von 1970 (NVV), den Deutschland sowie alle EU-Staaten unterzeichnet haben, wird mit dieser Diskussion bewusst in Kauf genommen.

Die Folge wäre weltweit ein unkontrolliertes nukleares Wettrüsten mit der Erhöhung des Risikos eines Atomkriegs. Dies zeichnet sich leider schon jetzt ab, wie der neueste Jahresbericht 2024 des Schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri zeigt.

"Wir befinden uns in der gefährlichsten Phase der menschlichen Geschichte" so Dan Smith, Direktor von Sipri.

Alle neun Atomwaffenstaaten setzen wieder vermehrt auf nukleare Abschreckung, rüsten weiter auf und modernisieren ihre Arsenale. 2.100 Atomwaffen befinden sich ständig in höchster Alarmbereitschaft. 2023 gaben die Atomwaffenstaaten weltweit 91,4 Milliarden US-Dollar für Atomwaffen aus. Erst zwei Jahre sind vergangen, seitdem die fünf großen Nuklearmächte einander versichert haben, dass ein Nuklearkrieg niemals geführt werden dürfe und niemals gewonnen werden könne.

In den 80er-Jahren konnte die Friedensbewegung zu einer starken Reduzierung des weltweiten Atomwaffenarsenals beitragen, was schließlich zum Abschluss des INF-Vertrages 1987 zwischen der USA und der Sowjetunion führte.

1996 erklärte der Internationale Gerichtshof eine Bedrohung oder Anwendung von Atomwaffen generell für völkerrechtswidrig. Im selben Jahr wurde der umfassende Atomwaffenteststoppvertrag (CTBT) abgeschlossen. 72 Jahre nach dem Abwurf der ersten Atombombe gelang ICAN 2017 mit dem Atomwaffenverbotsvertrag in der UNO ein großartiger Erfolg.

Zum ersten Mal umfasst ein Abrüstungsvertrag auch die Entschädigung der Opfer und die Sanierung der Umwelt. Inzwischen haben 93 UN-Staaten den Vertrag unterzeichnet und 70 ratifiziert. Drei EU-Staaten – Irland, Malta und Österreich – sind dem Atomwaffenverbotsvertrag bereits beigetreten.

Hiroshima mahnt: Dieser Weg der nuklearen Abrüstung muss konsequent weitergegangen werden. Wir fordern von der Bundesregierung den Abzug aller amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland und damit die Beendigung der nuklearen Teilhabe. Deutschland muss dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten und sich an der Entschädigung der Opfer, wie im Vertrag vorgesehen, beteiligen.

Wie Beatrice Fihn, Geschäftsführerin von ICAN, in ihrer Rede anlässlich der Überreichung des Nobelpreises 2017 sagte:

Die Geschichte der Atomwaffen wird ein Ende haben, und es liegt an uns, was dieses Ende sein wird. Wird es das Ende der Atomwaffen sein, oder wird es unser Ende sein?

Ute Rippel-Lau ist Allgemeinmedizinerin und Mitglied im Vorstand der IPPNW.


Redaktioneller Hinweis: In einer früheren Version dieses Beitrags hieß es, die von Bundeskanzler Olaf Scholz am Rande des Nato-Gipfels in Washington angekündigten Tomahawk-Marschflugkörper seien "atomwaffenfähig". Das war nicht korrekt, der Zusatz wurde gestrichen.