Zensur und Propaganda
Heute wäre John Steinbeck 100 Jahre alt geworden - "Of Mice and Men" gehört in den USA immer noch zu den am häufigsten indizierten Werken
Gelangweilt. Vielleicht auch einsam. Oder verzweifelt. Ein klein bisschen wütend? Wer weiß, wie ein Welpe sich fühlt, wenn er so ganz allein zu Hause gelassen wird. Fest steht: Toby war gerade dabei, das Manuskript von "Von Mäusen und Menschen" zu Konfetti zu machen, als John Steinbeck nach Hause kam.
Natürlich war Steinbeck sauer, als er seinen Irischen Setter mit dem halb zerfledderten Manuskript ertappte. Schließlich war es das einzige Exemplar und sein Verlust eine mittlere Katastrophe in einer Zeit ohne Kopierer und Computer. Zwei Monate Arbeit, die er in den Mülleimer werfen konnte, "aber", so Steinbeck in seinem Brief vom 27. Mai 1936 an seine Agentin Elizabeth Otis: "der arme kleine Kerl hat möglicherweise wie ein Kritiker gehandelt. Ich wollte keinen guten Hund für ein Manuskript ruinieren, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es überhaupt etwas taugt. Also hat er nur eine ganz gewöhnliche Tracht Prügel bekommen".
Wäre es nach Steinbecks Kritikern gegangen, hätte nicht der Hund, sondern der Autor eine Tracht Prügel verdient. Tatsächlich gehört ‚Von Mäusen und Menschen' bis heute zu den am häufigsten indizierten Werken der Vereinigten Staaten. Jedes Jahr sorgen zahlreiche Initiativen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten dafür, dass das Werk an einzelnen Schulen aus dem Unterricht verbannt wird. Bemängelt werden die "obszöne Sprache", das gewalttätige Ende sowie der politisch unkorrekte Umgang mit Behinderten und Schwarzen. Überhaupt sei das Buch für Jugendliche ungeeignet.
Schon zu Lebzeiten hatte sich Steinbeck mit seinem ungehobelten Stil ziemlich unbeliebt gemacht, nicht zuletzt in seiner Heimatstadt Salinas: Nachdem "Die Früchte des Zorns" (1939) erschienen waren und Steinbeck für die Familiensaga den Pulitzer-Preis bekommen hatte, meinten Angestellte der Stadtbibliothek von Salinas, es sei ein Glück, dass Steinbecks Eltern schon tot wären, denn auf diese Weise bliebe ihnen diese Schande erspart. "Schande" deshalb, weil das preisgekrönte Werk mit folgender Szene endet: Die Mutter eines tot geborenen Kindes rettet einen verhungernden Mann, indem sie ihn an ihrer Brust säugt. Das wurde von so manchem puritanisch erzogenen Leser als pornografische Zumutung empfunden und als Gotteslästerung obendrein, denn die junge Mutter trägt marienhafte Züge. Zahlreiche öffentliche Bibliotheken setzten das Epos auf ihre schwarze Liste, an einigen Orten wurden ‚Die Früchte des Zorns' gar auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Inzwischen regt sich kaum noch jemand auf über das Buch. Jedenfalls rangierte es in den vergangenen Jahren auf der Liste der am häufigsten verbotenen Werke weit hinter Von Mäusen und Menschen.
Zorn erregten und erregen diese beiden Bücher von Steinbeck allerdings nicht nur wegen der darin verwendeten Sprache oder aufgrund einzelner Szenen. Mit anderen Worten: Die Provokation steckt nicht nur in den Details, sondern vor allem im Kern der Geschichten. Und zwar schildert Steinbeck das Elend der Okies, jener verarmten Farmer also, die seit Beginn der 30er Jahre auf der Flucht waren vor der Dürrekatastrophe, die den Mittleren Westen in die so genannte Dust Bowl (Staubschüssel) verwandelt hatte. Nun waren die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts nicht irgendein Jahrzehnt, sondern das Zeitalter der Great Depression. Steinbecks Bücher waren allein deshalb eine Provokation, weil er es wagte, vom Elend - und Scheitern - der Farmer zu berichten. Damit stellte er nichts Geringeres als den amerikanischen Traum von Erfolg und Glückseligkeit in Frage - und das ausgerechnet in wirtschaftlich schweren Zeiten, wo man als aufrechter Amerikaner besonders positiv denken musste.
Vielleicht war es ja sein schlechtes Gewissen angesichts dieser "Jugendsünden", das Steinbeck während des Zweiten Weltkrieges zum Kriegsberichterstatter und in den 60er Jahren zum Fürsprecher des Vietnam-Krieges machte? Bombs Away! The Story of a Bomber Team (1942) - eine Auftragsarbeit der U.S. Air Force, in der Steinbeck aus dem Alltag einer Bomberstaffel berichtet - liest sich jedenfalls wie eine Propagandaschrift. Ganz im Sinne amerikanischer Geschichtsschreibung betont Steinbeck, die Vereinigten Staaten hätten sich nur widerwillig in den aktuellen Krieg hineinziehen lassen. Der Grund: Man sei ja so mit sich selbst beschäftigt gewesen die letzten Jahre. Wobei die internen Probleme eigentlich nur logistischer Natur waren:
In all history, probably no nation has tried more passionately or more thoughtfully to avoid fighting than the United States had tried to avoid the present war against Japan and Germany. During the years 1930 to 1940, the nation was preoccupied with internal difficulties, with problems of distribution and production not impossible of solution, but requiring thought and trial and error and some conflict.
Wenn man bedenkt, wie sehr sich Steinbeck nur wenige Jahre zuvor für die Okies engagiert hat, klingt die Formulierung some conflict besonders zynisch. Merkwürdig aktuell nimmt sich folgende Passage aus, in der Steinbeck erklärt, warum der Zweite Weltkrieg wie gemacht ist für die Vereinigten Staaten:
What the Axis could not understand was that the measure of our unrest was the measure of our vitality. The war was dumped into our laps; we could not avoid it, but fortunately for us, we have been given a kind of war we are peculiarly capable of fighting - a war without established technique or method, a kind of war rooted in production in which we surpass. If we ourselves had chosen the kind of war to be fought, we could not have found one more suitable to our national genius. For this is a war of transport, of machines, of mass production, of flexibility, and of inventiveness, and in each of these fields whe have been pioneers if not actual inventors.
Erst kürzlich wurden die so genannten Verbündeten der USA darauf hingewiesen, dass künftig nur noch diejenigen ein Wörtchen mitzureden haben in der Welt-Kriegs-Politik, die in Sachen Rüstung mithalten können. Wer kann, schafft an - der Rest hält die Klappe. Da wundert einen kaum noch, dass das Volk der Zensur-Wütigen nichts gegen Bücher wie Bombs Away! einzuwenden hat. Auf der Liste der Banned Books taucht es jedenfalls nicht auf. Zum Glück gibt es Initiativen wie das Office for Intellectual Freedom, die gegen jede Art von Zensur kämpfen - schließlich sei das Recht auf freie Meinungsäußerung ein amerikanisches Grundrecht.
Was Steinbecks Werke immer wieder ins Kreuzfeuer der Kritik brachte, ist die zunächst merkwürdige Tatsache, dass sie sich von jeder beliebigen Ideologie vereinnahmen lassen - wenn auch nie vollständig. So galt "Stürmische Ernte" (‚In Dubious Battle', 1936) als kommunistische Propaganda, weil darin die Eskalation eines Streiks von Wanderarbeitern geschildert wird. Der Spiegel schrieb 1950: "Der 48jährige kalifornische John Steinbeck, Abkömmling irischer und deutscher Familien, steht politisch so weit links, daß er seinen Landsleuten zur Zeit unbehaglich ist." Nur wenige Jahre zuvor ließen die Nationalsozialisten die "Früchte des Zorns" ins Deutsche übersetzen, "um", so der Spiegel, "zu zeigen, daß es in "Gottes eigenem Land" verdammt menschlich elend zugeht."
Die Ideologie-Anfälligkeit von Steinbecks Werken hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass da einer seiner aktuellen Meinung Ausdruck gegeben hat - ohne sich viel um die Rezeption im Allgemeinen und die Literaturkritik im Besonderen zu scheren. Insofern ist Steinbeck ein ganz und gar unpolitischer Autor - und gerade das macht ihn so angreifbar und unerträglich für seine Kritiker.