Zivilisatorischer Pazifismus
Seite 2: Ein neuer Name, aber keine neue Betrachtungsweise
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Das so Bezeichnete ist mitnichten etwas Neues. Der Sache nach wird es in der Gegenwart etwa vorgetragen durch den Brasilianer Leonardo Boff, den Nordamerikaner Noam Chomsky, Papst Franziskus, Uno-Generalsekretär António Guterres … oder z.B. auch durch nicht wenige Telepolis-Autor:innen.
Schon im letzten Jahrhundert haben u.a. der 1983 in Vancouver ausgerufene "Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung", das Projekt "Weltethos" oder die Deklaration einer "Erdcharta" Wege gebahnt für einen zivilisatorischen Pazifismus im Bewusstsein der ökologischen Krise als Ernstfall.
Das 3. Jahrtausend sollte dann mit der "Uno-Dekade für eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit zugunsten der Kinder der Welt" eingeläutet werden. Alle wegweisenden Initiativen und Impulse wurden aber faktisch gegenstandslos durch das Ende 2001 vom US-Imperium verkündete Paradigma eines weltweiten, permanenten Kriegszustandes. (Vorausgegangen war im gleichen Jahr u.a. ein Rückzug der US-Regierung aus dem Kyoto-Prozess.)
Zu den ältesten Zeugnissen für einen "zivilisatorischen Pazifismus" gehören Verse aus dem Prophetenbuch Jesaia der hebräischen Bibel, die vermutlich im 8. Jahrhundert vor unser Zeitrechnung niedergeschrieben worden sind:
Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern / und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, / und übt nicht mehr für den Krieg.
Die Kriegsökonomie soll also umgestellt werden auf ein Wirtschaften, das Nahrung (Getreide) und Freude ("Wein") hervorbringt, keine Tötungsprodukte.
Das Römische Imperium beförderte durch seine hochgerüstete Symbiose von "Münze – Macht – Militär" später ein Weltgefühl mit endzeitlichen Bedrängnissen. Religiöse Apokalyptik diente den Unterworfenen in diesem Kontext nicht zwingend als Fluchtweg ins Irrationale, sondern eher zur Aufdeckung von imperialen Gewaltstrukturen.
Die kleine Minderheit der Christen verstand sich als Vorhut einer neuen Zivilisation im Sinne des Propheten Jesaia, in der niemand mehr das Kriegshandwerk erlernt. Solche Anfänge verhinderten es freilich nicht, dass sich nach Kaiser Konstantin (gestorben 337 n.Chr.) in sechszehn Jahrhunderten ein Kriegskirchentum herausbildete, das auch dem industriellen Krieg der Moderne assistiert und sich durch Theologenbeistand für die Atombombe offen zur Gotteslästerung bekannt hat.
Die nach dem Abgrund von zwei Weltkriegen mit insgesamt bis zu 100 Millionen Todesopfern im Juni 1945 – wenige Wochen vor dem Einsatz einer neuartigen, ultimativen Massenvernichtungswaffe – verabschiedete Charta der Vereinten Nationen bezeugt den Vorsatz, "künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren". Die "Bombe" erledigte allerdings sogleich den Traum einer Demokratie im Miteinander der Völker.
Der "Atompazifismus" zeigt sich in seinen überzeugenden Varianten bereits als ein vollausgebildeter "Zivilisatorischer Pazifismus": Die Bombe ist – wie der Klimawandel – ein Erzeugnis aus der menschlichen Gattung, doch die Menschheit vermag das "Selbstgemachte Ding" offenbar nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Jetzt verfügen bestimmte Akteure erstmalig innerhalb der gesamten Geschichte über die Fähigkeit zur kollektiven (Selbst-)Auslöschung der eigenen Spezies. Es gilt fortan:
An die Stelle des Satzes "Alle Menschen sind sterblich" ist der Satz getreten: "Die Menschheit als ganze ist tötbar.
Günther Anders: Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit
Im Sinne einer Schicksalsgemeinschaft, die auf Gedeih und Verderb im selben Boot sitzt, gibt es die "Eine Menschheit" erst unter dem Vorzeichen von Atombombe und Klimakatastrophe. Auch wenn Scharlatane etwas anderes erzählen: Fortan stehen keine Heimatinseln und mit hohen Mauern abgesperrte Nationalterritorien für einen Rückzug ins Sichere mehr zur Verfügung.
Vorteile können sich die privilegierten Minderheiten und Regionen auf dem Globus durch einen Abschottungskrieg gegen die Elenden nur für eine kurze Zeitspanne verschaffen. Wir sind in einen Äon eingetreten, in dem sich das Rettende nur für alle ohne Ausnahme zeigen kann – oder eben der Abgrund, dem dann vielleicht schon mittelfristig niemand entrinnen kann.
Militärlogik macht blind
An den Horizont von Zivilisationsgeschick und Menschheitsfamilie wagt sich der wiederauferstandene deutsche Schwertglaube in hiesigen Talkrunden freilich nicht heran. Man begnügt sich weithin mit dem üblichen Kasperle-Theater von Leuten, die eine aktuelle Medienschlacht bestreiten und die nächste Wahl überleben wollen.
Ob selbstgesteckte "nationale Klimaziele" vor der nächsten Wahl eingehalten werden oder nicht, das ist natürlich nicht nebensächlich. Für den "Zivilisatorischen Pazifismus" gibt es freilich einen noch viel schwergewichtigeren "Prüfstein", nämlich die Frage, welchen Beitrag die gegenwärtige Politik in Deutschland zur weltweiten Vernetzung im Dienst einer Revolte für das (Über-)Leben auf dem Globus beisteuert und welche politischen, kulturellen, ökonomischen, wissenschaftlichen, technologischen … Kooperationen sie in diesem Zusammenhang zuwege bringt.
Wo das Geschick des Planeten Erde als Lebensraum verhandelt wird, kann es allein um ein "Gemeinsam-Gewinnspiel" ohne Verlierer gehen. Zur Aufgabenstellung gehört es unbedingt, eine möglichst hohe Punktzahl zu erzielen. Doch im "Gemeinsam-Gewinnspiel" gibt es keine einzige Regel, die uns anfeuert, mehr Punkte als andere zu erzielen. Im Gegenteil: Die höchste Punktzahl kann nur dann erzielt werden, wenn alle sich absprechen, sich in die Karten schauen lassen … und auf ebendiese Weise gemeinsam die höchste "Punktzahl" – das Optimum für alle – erlangen.
Im Licht der "einen Menschheit" gehört es zum Vordringlichsten, überall dem Bewusstsein Bahn zu brechen, dass alle schon deshalb eine Schicksalsgemeinschaft bilden, weil sie denselben Planeten bewohnen. Die menschliche Spezies allein hat die ökologische Krise hervorgebracht. Unter allen Lebewesen auf der Erde vermag auch nur sie es, planmäßig nach Lösungen zu suchen und Brandherde zu löschen. Eine andere Perspektive, als die des gemeinschaftlichen Handelns, kann es, hierbei nicht geben (Beratung, abgestimmtes Vorgehen, Kommunikation, Technologie-Austausch, Kooperation, subsidiäre Hilfen, Ausgleich im Sinne einer globalen Gerechtigkeit …).
Die Vereinten Nationen müssen sich angesichts der ökologischen Krise förmlich neu erfinden. Keine zentralistische Weltregierung (Öko-Diktatur etc.) ist das Ziel, sondern ein Prozess der globalen Verbundenheit von unterschiedlichsten Kleinräumen, Ländern, Kulturen oder Kontinenten (keine Uniformität, sondern Vielgestaltigkeit; kein Diktat, sondern Dialog und Synergie). Das Zauberwort heißt "Kommunikation", wobei Fragen der hierfür längst ausgebildeten Kommunikationstechnologie heute nicht mehr im Vordergrund stehen.
Acht Milliarden Menschen sind mit einem schier unermesslichen Erfahrungsschatz als Weltgestalter, Kreative und Erfinder beteiligt. Wenn irgendwo in einem Dorf, einer Region oder einem Land die Lösung für ein bestimmtes Problem im menschlichen Zivilisationsgefüge gefunden wird, sollte sie ohne Patentschutz und Zeitverzögerung von allen genutzt werden können.
In diesem Kontext wäre die so leichtfertig geschmähte "kulturelle Aneignung" von Erfahrungen, Praktiken und Errungenschaften anderer kein Vergehen, sondern eine Überlebenstugend (Gemeinsam-Gewinnspiel). Was dem alle betreffenden "Weltgemeinwohl" dienlich ist, muss überall frei zur Verfügung stehen und somit dem System des Profits entzogen werden.
Das Jahr 2022 hat uns aber einen ganz und gar anderen Ausblick beschert: Wie eh und je soll es weiterhin um das Konkurrenzringen von Imperien, imperialen Komplexen, selektiven Bündnissen zur Durchsetzung gemeinsamer Interesse und Nationen gehen. Der Uno ist bestenfalls die Aufgabe zugedacht, von Fall zu Fall den Versuch der Raubtierzähmung zu unternehmen. Die Devise lautet bei allen Beteiligten: "Wir werden gewinnen, die anderen müssen verlieren!"
Die Ideologie des aggressiven Wirtschaftens und der Rehabilitation des Krieges macht blind. Sie verhindert die überlebenswichtige Einsicht, dass nichts anderes als ein Gemeinsam-Gewinnspiel ansteht und es hierzu wirklich keine Alternative gibt.
Agenda und Unlogik der militärischen Heilslehre sind der denkbar größte Gegensatz zu einem dialogisch-kooperativen Gefüge der Weltgesellschaft, wie es allein noch Aussicht auf ein neues, lebensfreundliches Klima gewähren kann. Der Verweis auf diesen Widerspruch betrifft das Zentrum des Zivilisatorischen Pazifismus: Ohne Weltfrieden keine ökologische Weltinnenpolitik. Andere sehr bedeutsame Aspekte des Zusammenhangs von Krieg und Klima, von denen einige im nächsten Anschnitt genannt werden, sind demgegenüber nachgeordnet.