Zu viel Wirklichkeit: Presserat kritisiert detaillierte Verbrechensberichte
Tut er zu viel des Guten? Das Dilemma der Kriminalberichterstattung: Welche Fakten sind für die Öffentlichkeit wichtig, wo fängt der Voyeurismus an?
Immer wieder beschäftigt sich der Deutsche Presserat mit Beschwerden über zu explizite Schilderungen von Verbrechen. Aus der jüngsten Sitzung seien dazu zwei öffentlich ausgesprochene Rügen betrachtet.
Die Landshuter Zeitung erhielt eine Rüge wegen der Nennung von Details aus einem Missbrauchsprozess. Die Redaktion schilderte im Einzelnen, die dem Angeklagten vorgeworfenen Handlungen. Diese Darstellung war nach Ansicht des Presserats nicht mehr vom öffentlichen Interesse an dem Prozess gedeckt.
Die detaillierte Schilderung der vorgeworfenen Missbrauchstaten war zudem geeignet, das Opfer erneut zum Opfer zu machen. Der Presserat sah in der Berichterstattung einen schweren Verstoß gegen dessen Persönlichkeitsschutz nach Ziffer 8 sowie eine unzulässige Sensationsberichterstattung nach Ziffer 11 des Pressekodex.
Deutscher Presserat, Pressemitteilung
In der gerügten Fassung vom 12. Juli 2024 hieß es beispielsweise: "'Etwa elf Jahre alt war das Mädchen laut Anklage, als der um zwölf Jahre ältere Halbbruder zum ersten Mal seinen Finger in ihre Scheide einführte."
Daraus machte die Redaktion später: "... als es der um zwölf Jahre ältere Halbbruder zum ersten Mal unsittlich berührte".
Wo beginnt Sensationsberichterstattung?
Ist es sensationsheischend, einen solchen Tatvorwurf nicht als unsittliches Berühren zu verklausulieren?
Dazu muss man sich klar machen, weshalb es überhaupt Presseberichte über Strafverfahren gibt. Sie helfen, die Öffentlichkeit des Verfahrens herzustellen. Schließlich wird jedes Urteil "im Namen des Volkes" (§ 268 StPO) gesprochen.
Berichterstattung dient hier nicht der Unterhaltung, sondern der Darstellung praktizierter Rechtsprechung. "Das Volk" soll diese nicht einfach nur hinnehmen, es darf und soll darüber ggf. auch diskutieren. Um ein Urteil mit dem eigenen Rechtsempfinden abstimmen zu können, müssen Tatvorwurf der Staatsanwaltschaft, wichtige Beweise und Statements der Verteidigung berücksichtigt werden.
Deshalb greift es regelmäßig zu kurz, wenn insbesondere von Verhandlungen vor Amtsgerichten neben dem Urteil nur der abgeurteilte Tathergang oder gar nur der ursprüngliche Tatvorwurf rapportiert wird.
Hier kann man in der Tat immer wieder mal den Eindruck gewinnen, Journalisten erzählten gerne True-Crime-Geschichten und hätten an der eigentlichen Prozessbeobachtung wenig Interesse.
Für das Gesamtbild jedenfalls müssen unter dem Blickwinkel einer öffentlichen Kontrolle der Justiz Taten so genau beschrieben werden, dass die Rezipienten ein im Wesentlichen zutreffendes Bild davon vor Augen haben.
Unter der Chiffre "sexueller Missbrauch" wird hingegen in der Medienberichterstattung sehr Verschiedenes subsumiert.
Schwierig ist auch der Vorwurf, "die detaillierte Schilderung der vorgeworfenen Missbrauchstaten" sei geeignet, "das Opfer erneut zum Opfer zu machen".
Medienopfer?
Das Problem besteht selbstverständlich. Es ist der öffentlichen Gerichtsverhandlung aber immanent, und zu verantworten hat dies der Täter.
Die Berichterstattung erfolgt in solchen Fällen stets in anonymisierter Form, was sich nicht nur aus dem Pressekodex ergibt, sondern auch aus dem Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes.
Im persönlichen Umfeld von Verbrechensopfern wissen allerdings auch ohne Presse viele Bescheid. Hier gilt wie immer die Abwägung, ob Gerüchte, Phantasien und in der persönlichen Kommunikation falsch Kolportiertes weniger schlimm sein sollen als die korrekte Darstellung in der Presse.
Das betrifft jeden Verkehrsunfall aus einer Polizeimeldung, jede Beleidigung (die aus Rücksicht auf das Opfer im Artikel nicht wiederholt wird), gilt für jeden Bericht über Tierquälerei, Köperverletzung etc.
Frau vergewaltigt Mann
Auch bei Bild sah der Presserat in einem Prozessbericht unter anderem zu "detaillierte Schilderung der intimen Handlungen", die "über das öffentliche Interesse heraus" gingen.
Bild.de wurde für einen übertrieben sensationellen Prozessbericht unter der Überschrift "Kulturwissenschaftlerin (46) vergewaltigte Ex-Mann (69)" gerügt. Die Redaktion schilderte Einzelheiten von sexuellen Handlungen und stellte diese auch als Tatsachen dar, obwohl es sich zum Zeitpunkt des Prozesses lediglich um Vorwürfe handelte. Die Redaktion verstieß damit gegen Ziffer 13 des Pressekodex, wonach Medien nicht vorverurteilen dürfen.
Deutscher Presserat
In diesem bis heute unveränderten und sehr ähnlich auch gedruckt erschienenen Beitrag heißt es unter anderem:
Bei einem weiteren Treffen im Sommer 2020 soll sich S. in der Nähe des Rheins auf das Opfer gesetzt, ihm die Hose geöffnet und an ihm vergangen haben. Der Mann versuchte zu flüchten. Dies gelang ihm nicht.
Bild.de
Und zu einem weiteren Tatvorwurf:
Dort habe sie ihm die Hose heruntergezogen und an seinen Penis gefasst. Die ebenfalls anwesende Tochter (damals 12) habe auf ihre Mutter eingeschlagen, bis die aus der Wohnung geflüchtet sei.
Bild.de
Wie sollte berichtet werden?
Wie sollte eine für den Presserat medienethisch korrekte Darstellung aussehen? Sollten die Leser wieder mit einem "unsittlich berührt" hinreichend informiert sein?
Das Urteil des Presserats, die Berichterstattung sei vorverurteilend gewesen und habe behauptete Vorwürfe zu Tatsachen erhoben, ist jedenfalls nicht nachvollziehbar. Denn die Vorwürfe werden eindeutig der Anklage zugeordnet. Durchgängig heißt es, die Ex-Gattin "soll etwas getan haben", nie "sie hat es getan".
Die Pressesprecherin schreibt auf Anfrage unter anderem:
Die Überschrift "Staatsanwalt sicher: Kulturwissenschaftlerin (46) vergewaltigte Ex-Mann (69)" erweckt für den durchschnittlichen Leser den Eindruck, die Vergewaltigung sei bereits erwiesen.
Sonja Volkmann-Schluck, Deutscher Presserat
Aber was sonst sollte die Staatsanwaltschaft sein wenn nicht sicher, dass ihre Tatvorwürfe stimmen? Sie kann und darf gerade nicht ohne diese Überzeugung klagen, nach dem Motto, man werde vor Gericht schon sehen, ob etwas dran ist (u.a. § 170 StPO).
Und das Gericht darf das Hauptverfahren nur eröffnen, "wenn nach den Ergebnissen des vorbereitenden Verfahrens der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint" (§ 203 StPO).
Damit ist selbstverständlich noch nichts entschieden. Aber ohne die Überzeugung der Staatsanwaltschaft, beim Beschuldigten handele es sich um einen Straftäter, kann es kaum zum Prozess kommen (von Sonderfällen wie dem Klageerzwingungsverfahren abgesehen).
Der Bitte, wenigstens an einem Beispielsatz aufzuzeigen, wie eine medienethisch korrekte Darstellung der Tatvorwürfe aussehen sollte, kam der Presserat nicht nach.