Zukunft der Blauhelme
Auf dem Weg zu einer ständigen UN-Eingreiftruppe
Das unilaterale militärische Vorgehen der USA und verbündeter Staaten gegen den Irak ohne valide völkerrechtliche Grundlage ab dem 20. März 2003 unterminiert die Autorität des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (UN) und stellt das mit der UN-Charta errichtete System kollektiver Sicherheit ein Mal mehr in Frage. Die Situation ist nicht grundsätzlich neu. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat der UN-Sicherheitsrat auf zahlreiche, bedeutsame Fälle von Friedensbrüchen und Angriffshandlungen im Sinne des Art. 39 UN-Charta nicht reagiert. Ausgehend von den Blauhelm-Einsätzen der UN werden im folgenden Ursachen und Auswege aus der latenten Paralyse des Sicherheitsrates in der Friedenssicherung diskutiert.
Bis zum Ende des Kalten Kriegs sind die Blauhelm-Einsätze der Vereinten Nationen (UN) zu einem wichtigen Pfeiler der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik geworden. Die Langzeitmissionen und mandatsgemäß abgeschlossene Operationen sind Ausdruck der konstruktiven Rolle, die UN-Friedenstruppen in Konflikten spielen können. Zum 31. Mai 2002 waren 45.145 Soldaten und Polizisten sowie 3.837 internationales Zivilpersonal aus 87 Ländern an den 15 zur Zeit laufenden UN-Einsätzen zur Friedenssicherung beteiligt.
Das klassische Modell des neutralen, auf dem Friedenswillen der beteiligten Parteien aufbauenden Peacekeeping hat in den 1990er Jahren inmitten zerfallender Staaten, ethnischer Auseinandersetzungen, systematischer Menschenrechtsverletzungen und Bürgerkriege allerdings versagt. Die Einsätze in Somalia, Rwanda, Bosnien und Sierra Leone haben das drastisch vor Augen geführt. Vordringlich ist nicht mehr der Ausbau von Normen, sondern vielmehr der Institutionen zur Durchsetzung der Menschenrechte und der friedlichen Streitbeilegung. Nach dem historischen Inkrafttreten des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes (IstGH) zum 1. Juli 2002 muss jetzt die nachhaltige Professionalisierung der UN-Friedenseinsätze unterstützt werden. Vor allem aber gehört die Einrichtung einer stehenden und ständig abrufbereiten UN-Einsatztruppe auf die globale Agenda.
Das Versagen in Rwanda, Bosnien und Sierra Leone
Die Staatengemeinschaft sah praktisch untätig zu, als in Rwanda in der Zeit von April bis Juli 1994 über 800.000 Menschen von extremistischen Bahutu niedergeschlachtet und weitere vier Millionen in die Flucht getrieben wurden. Die zur Unterstützung und Überwachung des im August 1993 abgeschlossenen Friedensabkommens von Arusha in das Land entsandte UN-Mission UNAMIR kollabierte zu Beginn des Völkermords praktisch vollständig. Die Soldaten waren weder in der Lage sich selbst, geschweige denn die Zivilbevölkerung zu schützen. Die personelle Sollstärke von 2.548 Mann wurde wegen des Unwillens der UN-Mitgliedsländer, Truppen oder Material zu stellen, erst nach Monaten erreicht.
Als angesichts der Massaker schnell gehandelt werden musste, nahmen die Beratungen im UN-Sicherheitsrat drei Wochen in Anspruch. Die Prämisse der Unparteilichkeit ist noch während des Völkermords aufrecht erhalten worden. Einige Regierungen weigerten sich, die Massentötungen überhaupt als Völkermord anzuerkennen, einige zogen ihre UNAMIR-Kontingente vor Ort eigenmächtig ab. Am 21. April beschloss der Sicherheitsrat, die zerbröckelnde UNAMIR-Präsenz offiziell auf 270 Personen zu reduzieren, um sie knapp vier Wochen später auf 5.500 zu erhöhen. Es dauerte allerdings sechs Monate, bis die UN-Mitgliedsländer die Verstärkung zur Verfügung stellen konnten - viel zu spät für die Opfer.
Unter dem Eindruck schwerer Völkermordverbrechen durch serbische Einheiten wurden die von serbischen Truppen eingekesselten Städte Sarajevo, Bihac, Gorazde, Zepa und Srebrenica von den UN zu "Schutzzonen" erklärt. Am 11. Juli 1995 wurde Srebrenica von serbischen Truppen unter dem Kommando von General Ratko Mladic eingenommen. Die sogenannte Schutztruppe der UNPROFOR-Mission aus den Niederlanden leistete keinen Widerstand. Auf die Besetzung Srebrenicas folgte eines der schwersten Massaker des Bosnienkrieges, bei dem schätzungsweise 8.000 muslimische Bosnier ermordet wurden. Der Ende 1999 vorgelegte UN-Bericht zum Fall Srebrenicas und eine im April 2002 vorgelegte Untersuchung des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD) kommen unter anderem zu dem wenig überraschenden Schluss, dass Mandat und Ausrüstung der Mission in Bosnien vollkommen mangelhaft gewesen seien.
Auch die Ende 1999 entsandte UN-Mission für Sierra Leone (UNAMSIL) wurde "nicht mit den notwendigen Mitteln ausgestattet, um [ihre] Arbeit professionell zu erledigen", beklagte UN-Sprecher Fred Eckhard. Die zunächst auch nur mit einem friedenserhaltenden Mandat ausgestattete UNAMSIL war mit der Bürgerkriegssituation überfordert und konnte nicht einmal sich selbst schützen. Im Mai 2000 wurden rund 500 UN-Soldaten der Friedenstruppe von der berüchtigten RUF-Guerilla unter Foday Sankoh als Geiseln genommen. "Man schickt Streitkräfte zur Erhaltung eines Friedens, der überhaupt nicht existiert", schrieb France-Soir zutreffend.
Der Brahimi-Bericht: Weiterentwicklung der UN-Einsätze
Im August 2000 legte UN-Generalsekretär Annan den Ergebnisbericht der "Sachverständigengruppe für die UN-Friedensmissionen" unter Lakhdar Brahimi vor, das wichtigste Dokument zum Peacekeeping seit Boutros-Ghalis "Agenda für Frieden". Der vorgefundene, desolate Zustand des Peacekeeping wird an einigen Zahlen deutlich: mit nur 32 Offizieren musste die Peacekeeping-Abteilung (DPKO) in New York die 27.000 Blauhelme in aller Welt betreuen, für die 8.000 Polizisten war ein Stab von nur 9 Personen zuständig. Für die Hauptverwaltung und die logistische Unterstützung wurden nur 1,25 Prozent des Gesamtetats der Friedenseinsätze aufgewandt. Und dieser ist mit 2,77 Mrd. US-Dollar für den Zeitraum von Juli 2001 bis Juni 2002 nur um ein Fünftel höher als bspw. der reguläre Jahresetat der Feuerwehr von Tokio. Die Aufstockung des Personalbestands in der DPKO ist eine zentrale Forderung des Brahimi-Berichts, die bereits konkrete Früchte getragen hat. Die Anzahl der Dienstposten wurde von der Generalversammlung 2000 und 2001 um insgesamt 184 erhöht.
Um schneller auf Truppen und anderes Personal zurückgreifen zu können, hat die DPKO ein Stand-by-Register (UNSAS) eingerichtet. Die Verbesserung dieses Systems ist ein weiteres Hauptanliegen des Brahimi-Reports. Seinerzeit hatten 87 Staaten genau 147.900 Mann als prinzipiell verfügbar angemeldet. Eine beeindruckende, aber irreführende Zahl. Erfahrungsgemäss reagieren die Mitgliedsstaaten meist hinhaltend oder ablehnend, wenn es um einen konkreten Einsatz geht. Das Recht "einfach nein" zu sagen, bleibt ihnen vorbehalten.
Der von der Kommission unterstützte Ansatz, dass sich Staaten im Rahmen des UNSAS zusammentun, Peacekeeping-Kontingente trainieren und für Einsätze bereithalten, zielt in die richtige Richtung. Das Problem der Abhängigkeit von den Staaten freilich bleibt bestehen. Die zentrale Aussage des Berichts lautet entsprechend: "Die von der Gruppe empfohlenen Veränderungen werden keine dauerhafte Wirkung haben, solange die Mitgliedsstaaten nicht den politischen Willen aufbringen, die Vereinten Nationen politisch, finanziell und operativ dazu in die Lage zu versetzen, als Friedenskraft wirklich glaubwürdig zu sein."
Partei für Opfer ergreifen
Die Experten fordern außerdem ein Überdenken des Konzepts der Unparteilichkeit. Halte sich eine Partei nicht mehr an ein Friedensabkommen und verletze seine Bedingungen, dann bedeute eine dessen ungeachtete Fortsetzung der Gleichbehandlung der Parteien durch die UN im schlimmsten Fall Mittäterschaft.
Bei Gewalt gegen Zivilisten müssten Blauhelme vor Ort prinzipiell zum Eingreifen autorisiert und in der Lage sein. Werde eine UN-Truppe entsandt, dann müsste sie darauf vorbereitet sein "gegen die noch vorhandenen Kräfte von Gewalt und Krieg vorzugehen, mit der Befähigung und der festen Absicht, diese zunichte zu machen". In der Praxis müsste dies eine stärkere Ausrichtung einer UN-Operation und ihres Mandats an den Risiken im Einsatzgebiet bedeuten, vor allem eine stärkere Berücksichtigung von Worst-case-Szenarios. Die Einsätze müssen folglich militärisch robuster sein. Der UN-Sicherheitsrat muss außerdem, so der Bericht, "klare, glaubwürdige und erfüllbare" Mandate erteilen.
Problemursache Sicherheitsrat
"Der Sicherheitsrat und insbesondere seine fünf ständigen Mitglieder [...] erfahren eine erstaunliche Schonung", so der Völkerrechtler Winrich Kühne mit Blick auf den Brahimi-Report zutreffend. Zumeist versagte die UNO, weil der Sicherheitsrat nicht oder jedenfalls nicht rechtzeitig fähig war, militärisch wirksam vorzugehen. Das Einlegen eines Vetos eines der ständigen Mitglieder führt dazu, dass die UNO untätig bleibt, wenn es zu keinem konsensfähigen Mandat kommt. Dieses auszuhandeln benötigt angesichts akuter Konfliktsituationen allerdings kostbare Zeit und führt zu verwässerten und unklaren Formulierungen.
Der Völkerrechtler Hans Köchler weist darauf hin, dass "[...] das Veto-Privileg von Anfang an als machtpolitisches Haupthindernis bei der Verwirklichung des Konzeptes kollektiver Sicherheit erkannt [...] worden [ist]." Das Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat ist durch Abschaffung des Vetorechts an die Erfordernisse der Friedenssicherung und des Menschenrechtsschutzes anzupassen. Ein Beschluss könnte als angenommen gelten, wenn drei Viertel der Mitglieder ihre Zustimmung erteilen. Dieser an sich konsequenten Folgerung werden sich die Vetomächte allerdings nicht anschließen.
Als Alternative kommt das Instrument der "Uniting for Peace"-Resolution der Generalversammlung vom November 1950 in Betracht. Demnach kann sie mit Zweidrittelmehrheit Kollektivmaßnahmen und den Gebrauch bewaffneter Kräfte empfehlen, "falls der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit seiner ständigen Mitglieder es in einem Fall einer offenbaren Bedrohung des Friedens, eines Friedensbruches oder einer Angriffshandlung unterlässt, seine erstgegebene Verantwortung für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit auszuüben".
Die Rechtmäßigkeit der Resolution wird mehr als fünfzig Jahre nach ihrer Verabschiedung kaum mehr angezweifelt. Ein Beschluss auf seiner Grundlage kann völkerrechtliche Legitimität beanspruchen. Einsätze, die vollkommen an der UNO vorbei geführt werden, bergen dagegen die Gefahr, das völkerrechtliche Gewaltverbot der Charta und damit die Vereinten Nationen insgesamt zu untergraben.
Nicht verwirklicht: Die Friedenskonzeption der UN-Charta
Die Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrates wird nicht allein durch den paralytischen Abstimmungsmodus eingeschränkt. Auch mehr als fünfzig Jahre nach Gründung der UNO ist die in der UN-Charta niedergelegte Friedenskonzeption nicht in ihrer ganzen Breite umgesetzt.
Die Ausübung von autorisierter Waffengewalt durch Mitgliedsstaaten müsste nach dem Konzept der Charta ein Sonderfall sein. Das Gegenteil ist der Fall. Der Sicherheitsrat ist bei der Durchführung militärischer Maßnahmen auf nationale Streitkräfte angewiesen, die keineswegs seinem Kommando unterstehen. So sind an die Mitgliedsstaaten gerichtete und zur Waffengewalt ermächtigende Resolutionen das primäre Instrument des Sicherheitsrates, wenn militärische Zwangsmaßnahmen nach Art. 42 UN-Charta für erforderlich gehalten werden. Dieses in der Charta nicht als Regelfall enthaltene System ist darauf angelegt, dass Mitgliedsstaaten gerade dann mit Streitkräften bereitstehen, wenn es um die Durchsetzung zweifelhafter nationaler Interessen geht - und nicht bei wirklichen Anliegen der Weltgemeinschaft. Zu Recht ist diese Praxis völkerrechtlicher Kritik ausgesetzt
Ständige UN-Einsatztruppe
Nach Art. 43 UN-Charta sind Abkommen zwischen der UNO und den Mitgliedsstaaten vorgesehen, durch die Kontingente nationaler Streitkräfte dem direkten Befehl der Weltorganisation unterstellt werden sollen. Solche Abkommen sind allerdings nie abgeschlossen worden. Der Versuch, das von der Charta vorgesehene Sicherheitssystem zu verwirklichen, findet eben aus diesem Grund auf Ad-hoc-Basis statt. Einsatzkräfte müssen auf Fall-zu-Fall Basis auf Grundlage schwer voraussehbarer Bereitstellungen von Mitgliedsstaaten spontan zusammengestellt werden.
Als Grundlage für die Aufstellung einer ständig einsatzbereiten UN-Truppe könnte mangels Sonderabkommen ein Beschluss des Sicherheitsrates in Betracht kommen. Realistischer ist ihre Einrichtung durch einen völkerrechtlichen Vertrag gleichgesinnter Staaten. Das Statut einer ständig einsatzbereiten UN-Friedenstruppe, bestehend aus international rekrutierten Freiwilligen, könnte sich in den Einsatzvoraussetzungen an die UN-Charta koppeln und dem UN-Generalsekretär das Oberkommando einräumen. Vergibt der Sicherheitsrat ein Mandat, könnte der Generalsekretär unmittelbar auf die Truppe zurück greifen. Vorausgesetzt wird hier der Wille der Vertragsparteien, unabhängig von ihrem nationalen Militär eine selbständige militärische Komponente zur Friedenssicherung der UN zu schaffen.
Vollzugsorgan des IStGH und der ad-hoc Tribunale
Eine ständige UN-Einsatztruppe könnte nicht nur für friedensschaffende und friedenssichernde Maßnahmen eingerichtet werden, sondern - wenn nötig - insbesondere den internationalen Strafgerichtshöfen als Vollzugsorgan für die Verhaftung angeklagter Individuen direkt beiseite gestellt werden.
Die SFOR zum Beispiel hat sich als permanent unfähig oder unwillig erwiesen, die Haftbefehle des Jugoslawien-Tribunals gegen Karadzic, Mladic und andere Angeklagte auszuführen. Mitte Mai 2001 standen immer noch insgesamt 38 flüchtige Männer aus Bosnien-Herzegowina auf der Fahndungsliste. Die Chefanklägerin, Carla del Ponte, hält die Situation für untragbar und sieht die Einrichtung eines unabhängigen, internationalen UN-Einsatzkommandos als Lösung. "Eine solche Polizei wäre auf die Unterstützung anderer Staaten nicht angewiesen und müsste auf politische Entscheidungen keine Rücksichten nehmen. Heute stellen wir einen Haftbefehl aus und warten auf die Ausführung durch die SFOR", so del Ponte.
In ihrem am 31. Januar 2000 vorgelegten Bericht forderte auch die internationale Untersuchungskommission zu Ost-Timor die Einrichtung einer internationalen Untersuchungs- und Strafverfolgungseinheit, die eine unabhängige Identifizierung und Verfolgung der Verantwortlichen gewährleisten könnte. Gegen den damaligen Armeechef Wiranto z.B. ermittelt die indonesische Justiz nicht.
Folgerungen
Die im Brahimi-Report formulierten Empfehlungen weisen den Weg zu einer professionelleren und an den Opfern von Menschenrechtsverletzungen orientierten Friedenssicherung und sind sehr zu begrüßen. Den konsequenten Schritt, die Einrichtung einer ständigen UN-Einsatztruppe zu fordern, macht die Expertengruppe leider nicht.
"Wir sind [...] noch nicht so weit, ein stehendes UN-Heer zu entwickeln", sagte schon Kofi Annan bei einem Australien-Besuch im Februar 2000. Genau das ist allerdings in dem von der UN-Charta konzipierten System kollektiver Sicherheit angelegt und stellt eine konsequente Antwort auf die grundlegenden Mängel der auf ad-hoc-Basis stattfindenden UN-Einsätze dar. Als Zwischenlösung bietet sich an, etwa die entstehende EU-Eingreiftruppe oder andere Bereitschaftsbrigaden von Fall zu Fall in den Dienst der UN zu stellen.
Die derzeitigen Bemühungen zu einer Stärkung der UN-Fähigkeiten zur Friedenssicherung werden sich angesichts weiterhin zu erwartender akuter Notlagen und Konfliktsituationen zu bewähren haben. Hinter dem Versagen etwa in Rwanda und Bosnien steht unermessliches individuelles Leid. Es bestehen berechtigte Zweifel, ob solches in Zukunft mit einem - wenn auch effizienteren - "weiter so" wirklich verhindert werden kann. Der Weg bis zur Einrichtung einer ständigen und schnell einsatzbereiten UN-Einsatztruppe und einem angemessenen Abstimmungsverfahren im Sicherheitsrat, so ist zu befürchten, wird mit weiteren Tragödien gepflastert sein.