Zum Tod von Michail Gorbatschow: Für eine Renaissance des Neuen Denkens

Seite 2: Friedensbewegung im Westen – Gorbatschow im Osten

Es sollte noch weitere Jahrzehnte dauern, bis das Neue Denken mit seinen grundlegenden Momenten – Priorität der allgemein menschlichen Interessen als Voraussetzung zur Sicherstellung aller übrigen Interessen, die Bekämpfung der menschheitsbedrohenden Gefahren (Massenvernichtungsmittel, ökologische Katastrophe) und Verzicht auf Gewalt – endlich die Ebene der Politik erreichte.

In den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts betrat es in Gestalt von zwei Akteuren die weltpolitische Bühne: in Westeuropa als Friedensbewegung, die damals, in Reaktion auf die drohende Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, mit der Forderung "Einer muss anfangen aufzuhören!" den Ausstieg aus der Logik des Wettrüstens postulierte und sich rasant als Bewegung für das Überleben der Menschheit überhaupt begriff – und im Osten in Gestalt des sowjetischen Parteivorsitzenden Michail Gorbatschow und seiner Administration.

Ausgehend von der Tatsache, "dass die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte sterblich geworden ist und der Charakter der modernen Waffen keinem Staat mehr die Hoffnung lässt, sich allein mit militärtechnischen Mitteln, und sei es der allerstärksten, zu verteidigen"1, gelangte Gorbatschow zu einer Konsequenz, die bis in die Formulierung hinein an Egon Bahrs Konzept der "Gemeinsamen Sicherheit" anklang2:

Unter den heutigen Bedingungen kann die Sicherheit, vor allem der atomaren Großmächte, nur gegenseitig und – im globalen Rahmen – nur allumfassend sein. Die Politik der Stärke hat sich grundsätzlich überlebt.

Daraus folgte für ihn das Primat der Politik, sprich: Verhandlungen, Verzicht auf das Denken und Handeln in den Kategorien eines Nullsummenspiels (mein Gewinn ist dein Verlust) und der Mut, eine Menschheitsvision in ein konkretes Ziel politischen Handelns zu verwandeln:

Der einzig richtige Weg ist die Beseitigung der Atomwaffen, die Reduzierung und Begrenzung der Rüstung überhaupt.

Am 15. Januar 1986 war die politische Sensation perfekt: Der damalige Generalsekretär der KPdSU verlas eine Erklärung, die in konkreten und realisierbaren Teilinitiativen den Weg zu einer atomwaffenfreien Welt bis zum Jahre 2000 wies.

In der Retrospektive hat Gorbatschow immer wieder betont, dass seine Politik des Neuen Denkens nicht als gigantische Kopfgeburt am Schreibtisch entstand, sondern im Wechselspiel mit der praktischen Politik Schritt für Schritt entwickelt, modifiziert, umgesetzt und weiterentwickelt wurde. Neues Denken und Neues Handeln bedingten sich gegenseitig.

Und weil diese Politik mit Hochdruck, ehrlich und konsequent von der Sowjetunion vorangetrieben wurde, gelangen dieses Mal echte Erfolge auf dem Gebiet der Abrüstung: Der gemeinsamen Erklärung mit Ronald Reagan vom November 1985, ein Atomkrieg könne niemals von einer Seite gewonnen, dürfe daher auch niemals begonnen werden und keine Seite dürfe militärische Vorherrschaft anstreben, folgten u.a. das Totalverbot landgestützter nuklearer Kurz- und Mittelstreckenraketen, die Verringerung strategischer Atomraketen und die Vernichtung von insgesamt 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit.

Long time ago.

Zweitausendfünfhundertmal ein Zweiter Weltkrieg

Wir haben es alle seit dem Ende des ersten Kalten Krieges schnell vergessen und wieder gut verdrängt: Bei allen Abrüstungserfolgen in Qualität und Quantität reichen auch die verbliebenen atomaren Sprengköpfe nach wie vor für den mehrfachen Overkill! Der Einsatz von nur fünf Prozent aller Atombomben weltweit könnte den gesamten Planeten unbewohnbar machen.3

Die Menschheit ist also auch jetzt noch in der Lage, unseren Globus ganze zwanzigmal zu vernichten. Die weltweit vorhandenen über 15.800 Atomsprengköpfe verfügen über ein Zerstörungspotenzial von 7.500 Megatonnen TNT, was einer Tonne Sprengkraft für jeden Menschen oder der Waffenwirkung von 2.500 Zweiten Weltkriegen entspricht.

Das Erbe des Neuen Denkens wird gerade fahrlässig an die Wand gefahren, die Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsverträge, die das Ende des Kalten Krieges ermöglicht hatten, stehen auf der Kippe oder sind bereits gekündigt, Atomsprengköpfe werden ‚modernisiert‘, kurz: Ein unkontrolliertes atomares Wettrüsten auf allen Ebenen und in mehreren Weltregionen zugleich wird immer wahrscheinlicher.

Wenn es überhaupt eine Aussicht auf Abhilfe geben soll, dann wäre die erste Konsequenz, diese Tatsachen, so alarmierend sie sein mögen, endlich wieder zur Kenntnis zu nehmen und im allgemeinen Bewusstsein von Politikern und Bevölkerungen der direkt und mittelbar betroffenen Länder – also aller! – zu verankern. Eine Rückbesinnung auf die Prinzipien des Neuen Denkens ist notwendiger denn je! Daher noch mal und sei es zum hundertsten Male:

Ein Atomkrieg kennt keinen Gewinner, sondern ausschließlich Verlierer. Entweder wir schaffen die Atombombe ab oder die Atombombe schafft uns ab! Wer den Frieden will, der muss – in Abwandlung des klassischen lateinischen Sprichworts – den Frieden vorbereiten.

Sollte sich die Politik der neuen Eskalation weiter verschärfen und ihr von unten kein Druck entgegengesetzt werden, dann droht in letzter Konsequenz nichts weniger als – Globozid! Sei es militärisch via Massenvernichtungsmittel oder friedlich als Klimakatastrophe. Resignation oder Trägheit können wir uns nicht leisten. Nach wie vor gilt Einsteins Ermahnung:

Bloßes Lob des Friedens ist einfach, aber wirkungslos. Was wir brauchen, ist aktive Teilnahme am Kampf gegen den Krieg und alles, was zum Kriege führt.

In diesem Sinne also.