Zur Kritik der Identitätspolitik
Kopftücher, eine Diskussionsrunde und die muslimische Identität - Ein Kommentar
Eine Soziologie-Professorin und Islam-Expertin kündigte kürzlich eine Podiumsdiskussion über "Das islamische Kopftuch - Symbol der Würde oder der Unterdrückung?" an. Dazu lud sie streitbare Kontrahentinnen ein, die von einer Befürworterin des Kopftuchs als "Schleier der Freiheit" bis zu dezidierten Islam-Kritikerinnen reichten, darunter auch die stets polarisierende Krawallschachtel Alice Schwarzer.
Eine studentische "Initiative gegen anti-muslimischen Rassismus" warf der Professorin daraufhin sogleich Rassismus vor, forderte ein Verbot der Veranstaltung und - ihre Entlassung. Der Asta der Universität nannte dies eine "Hetzkampagne" und stellte sich hinter die Veranstaltung; eine solche Diskussion müsse möglich sein. Die Universitätsleitung unterstützte die Professorin ebenfalls und wies die vorgetragenen Ansinnen zurück.
Die Veranstaltung fand schließlich statt; dabei wurden die bekannten Standpunkte ausgetauscht, die von der Charakterisierung des Kopftuchs "als Flagge des politischen Islam" (Alice Schwarzer) bis zur von der Theologin Dina El Omari vorgetragenen Position reichten, es als "Zeichen einer selbstbestimmten Spiritualität" zu interpretieren. Vor dem Veranstaltungssaal hatten sich parallel die Kritiker*innen lautstark versammelt. Andere Podiumsteilnehmer*innen stellten das Kopftuch als Zwang dar, von dem die Frauen befreit werden müssten (Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi) oder bezeichneten es als Symbol der "sexuellen Apartheid", wie die Publizistin Nekla Kelec.
Was ist von der Kritik an der Veranstaltung als Forum, Ausdruck eines anti-muslimischen Rassismus zu halten? Wie immer muss man genau hinschauen und differenzieren:
1. Anti-muslimischen Rassismus gibt es bekanntermaßen auf Seiten insbesondere der völkischen Rechten durchaus: Der Islam gerät hier zum Sinn- und Zerrbild "fremdartiger" religiöser und kultureller Praktiken, die nicht zur Kultur und modernen Sichtweise des "abendländischen" Christentums passen würden - wie wenn in dessen Rahmen nicht fast zwei Jahrtausende lang ähnlicher Unsinn verzapft und nicht weniger vernunftfreie Ge- und Verbote praktiziert worden wären; erst die "Aufklärung" und der moderne Staat haben das religiöse Regelwerk ein Stück weit ins Privatleben zurückgestutzt; und auch dies (gerade in Deutschland) nur unvollständig. Mit Frauen hat der Katholizismus bekanntlich auch heute noch ein Problem und Kopftücher wurden von diesen bis in die 50er Jahre hinein gerade in den katholischen Landgemeinden ganz selbstverständlich getragen - wie heute noch in Polen und im christlich-orthodoxen Russland.
2. Die Religion dient hier als Sinnbild für das identitär Fremde, das nicht Integrierbare, was in praktischer Perspektive unsinnig ist: Können sich Zuwanderer ins alltägliche Leben integrieren, passen sie erfahrungsgemäß auch ihre religiösen Praktiken an diesen Integrationserfolg an. Gelingt die Integration nicht bzw. wird sie verweigert, kann eine mögliche Reaktion darin bestehen, dass nun trotzig die eigene "Identität" hochgehalten wird - mehr hat man ja nicht mehr vorzuweisen ....
3. Aber: Rechtfertigt dies die Zurückweisung jeglicher kritischen Diskussion über (zumindest von Teilen der Flüchtlinge praktizierten) den Islam, dessen Frauenbild und seine Geboten? Besteht die Akzeptanz islamischer Personen darin, dass man ihre Auffassungen für sakrosankt erklärt und sich nicht mehr kritisch damit auseinandersetzt?
Das kann nicht sein und führt zu einem "umgekehrten" Rassismus: Der religiöse Glaube oder bestimmte kulturell-soziale Praktiken werden zu qua regionaler Herkunft oder kultureller Zugehörigkeit untrennbar mit bestimmten Individuen verbundenen Wesensmerkmalen erklärt, so dass die Kritik daran gleich als unzulässige Infragestellung der Person, ihrer ominösen "Identität" erscheint. Eine derartige Identitätsbestimmung naturalisiert veränderliche Ideen, Glaubensvorstellungen, Positionen und Handlungsweisen und stellt insofern eine Elementarform eines modernisierten, kulturellen Rassismus dar.
4. Boris Palmer hat in einer SPIEGEL-Diskussion mit Hasnain Kazim eine rationelle Unterscheidung dazu getroffen - und dies gilt unabhängig davon, wie man Palmers Äußerungen zu manchen anderen Themen beurteilen mag!
Wer z.B. als Jude antisemitisch angegriffen wird, kann sich als Jude betroffen fühlen (und selbst das ist nicht selbstverständlich - vielleicht sieht er sich trotz Herkunft gar nicht mehr als Jude, sondern ist religionsfrei in Alltagspraxis und Denkweise!). Aber sich als Jude betroffen zu fühlen, wenn z.B. die Politik Netanjahus oder der israelische Umgang mit den Palästinensern kritisiert wird, stellt eine krasse Themaverfehlung dar: Israelische Politik, eine zionistische Staatsauffassung oder politische Konzepte bezüglich des Umgangs mit den arabischen Nachbarn sind kein natürlicher Bestandteil einer wie auch immer modellierten "jüdischen Identität", sondern der allgemeinen Diskussion und Beurteilung zugängliche politische Positionen, die objektiviert, als frei flottierende Standpunkte existieren und von vielen geteilt oder verworfen werden können, ohne dass diese dadurch ihre "Persönlichkeit" aufgeben müssen.
Eine "Opferidentität" für sich zu reklamieren, heißt, eine Eigenschaft wie die Religionszugehörigkeit und das Festhalten am damit verbundenen Regelwerk als Freibrief für eine Generalabsolution zu missbrauchen: Die reklamierte "Identität" begründet eine schützenswerte Sonderrolle als diskursfreien Raum, in dem die Auffassungen und Handlungsweisen des "identitären" Opfers keiner kritischen Analyse und begründeten Zurückweisung mehr unterzogen werden dürfen.
Derartige Zurückweisungen können in aufgeklärten Diskussionszusammenhängen natürlich nur in Gegenargumenten, also argumentativen Denkangeboten, bestehen, die bei Annahme eine neue Sicht auf das eigene Leben, Denken und Meinen ermöglichen. Denn dieses Denken und Meinen muss keineswegs damit schon feststehen, dass man zufällig in eine muslimische oder katholische Familie hineingeboren wurde. Die Identität macht aus diesem Zufall eine Notwendigkeit, die sich auf liebgewonnene Denk- und Verhaltensgewohnheiten beruft, die qua schierer Existenz der kritischen Betrachtung entzogen sind, da sich das jeweilige Individuum als damit untrennbar verwachsen ansieht - eine zutiefst diskursfeindliche, strukturkonservative Grundhaltung.