Zurück zur Sturm-und-Drang-Zeit der Egoshooter
Mit Quake IV und Serious Sam II treffen sich zwei Subgenres auf unerwartete Art und Weise. David gegen Goliath? In Quake IV zeigen sich die Schwächen, in Serious Sam II jedoch die unerwarteten Stärken des Genres Egoshooter
Als id-Software 1996 Quake auf den Markt brachte, war das Genre der Egoshooter - jener Variante von 3D-Spiel, in dem der Spieler aus der Ich-Perspektive seine Spielfigur steuert - bereits einige Jahre in den Medien. Denn seit dem Erscheinen des Urvaters des Genres, Castle Wolfenstein 3D (1992 id-Software), sowie seiner noch populäreren Nachfolger Doom (1993) und Doom II (1994, beide id-Software) sorgte die neue Art von Spiel für Aufregung.
Durch Darstellung von Nazi-Dekorationen oder satanistischen Szenen spekulierte id-Software in jenen Jahren wohl am gerissensten mit dem elterlichen Aufregungspotenzial einerseits sowie mit kodierten juvenilen Rebellionsriten andererseits. Hier war der Appeal von Splatter, Action und Heavy Metal in einem technologisch und spielerisch brillanten Design zum Alptraum jedes Erwachsenen verschmolzen, und id-Software - nomen est omen - appellierte auch im simplen, aber durchaus rasantem Reaktionstest der schnellen, unkomplizierten Action an die primitiveren Instinkte im Spieler.
Quake (1996, id-Software), der neue Titel der Doom-Macher, blieb gegen seine Vorgänger und den schärfsten Rivalen Duke Nukem (1996, 3D Realms) vermeintlich farblos, lieferte aber eine technische Revolution: Konnten die Shooter bisher mit nur scheinbarer Dreidimensionalität aufwarten (ein zweidimensionaler Plan mit unterschiedlichen Höhenebenen), so war Quake "wirklich" in drei Dimensionen programmiert. Dieser technologische Sprung ließ auch die eher fantasielose Einzelspielerkampagne vergessen, vor allem, da sich der Fokus der Spielegemeinde schnell auf das zuvor weniger verbreitete Multiplayer-Spiel konzentrierte.
1997 folgte Quake II, doch abgesehen von der technischen Weiterentwicklung der 3D-Engine trat id-Software, was das Spielerlebnis betraf, auf der Stelle. Der große Sprung geschah erst 1998, als Valves Half-Life das junge Genre des Egoshooters nachhaltig revolutionierte. Das Spiel benutzte eine modifizierte Variante der 3D-Programmierung von Quake 2, doch anstatt wie bisher relativ linear von Punkt A nach B zu wandern und auf dem Weg allerhand Monster zu töten und Med-Packs aufzusammeln, erzählte Half-Life eine Geschichte, und ließ für viele damit den Traum vom "interaktiven Film" etwas näher rücken.
Der andauernde finanzielle und kritische Erfolg gab Half-Life Recht. Fortan konnte sich kein neuer Shooter ohne mehr oder wenige anständige Handlung, Zwischensequenzen sowie logische Zusammenhänge in Level-Architektur oder Abfolge behaupten. Half-Life und somit der "neue", story-basierte Shooter war zum neuen Paradigma der Industrie geworden. Es gab seitdem so gut wie kein "großes" neues 3D-Spiel, das von dem von Half-Life vorgegebenen Vorbild der Immersion durch die Story wesentlich abgewichen wäre.
Das adrenalingetriebene, auf reine Reaktion und Reflexe abgestimmte Gameplay von Doom oder Quake verlagerte sich auf Multiplayerspiele, deren populärste Proponenten Unreal Tournament (1999, Epic Games), das gänzlich ohne Einzelspielerkampagne auskommende Quake III: Arena (id-Software 1999) sowie die von Fans entwickelte Half-Life-Modifikation Counter-Strike (1999) waren - und in ihren Neuinkarnation bis heute sind.
Als 2001 die bis dahin unbekannten kroatischen Programmierer Croteam Serious Sam veröffentlichten, wurde dies vielen Beobachtern als ein kauziger Rückschritt in der Entwicklung des Genres angesehen. Ohne großartige Handlung schickte Croteam den Spieler durch exotische Kulissen. Die Hauptaufgabe bestand darin, absurde Mengen an bizarr bunten und schrägen Gegnern mit einem beeindruckenden Waffenarsenal zu zerstören. Hier gab es keine Story, hier gab es keine Zwischensequenzen, und die künstliche Intelligenz, die im Rest der Shooterwelt oft schon beachtliche Ausmaße erreicht hatte, reichte bei Serious Sam gerade zum brüllenden Losstürmen der Gegner ohne Rücksicht auf Verluste aus.
Hier zeigte sich der Urtyp des Shooters aus seiner Sturm-und-Drang-Zeit wieder - reflexorientiertes Ballern sowie die Betonung der mechanischen und reaktionsschnellen Bewegungsabläufe. In Serious Sam: The Second Encounter (Croteam 2002) gab es noch mehr vom selben, und auch Painkiller (2004, People Can Fly) orientierte sich - im Unterschied zum Gros der Konkurrenz - an den Tugenden der Frühzeit - und der Kroaten. Diese Vereinfachung und Reduktion auf das Wesentliche als Arcade-Shooter zeigt sich in diesen Spielen umso deutlicher, als sich das Genre mit zahlreichen, immer komplexer werdenden Strategie- und Military-Ablegern (im historischen Fall beispielsweise mit der Call of Duty-Reihe, im simulationslastigen, zeitgenössischen Gewand etwa mit SWAT) bereits in mehrere Untergenres diversifiziert hatte. Und die große Hoffnung des Geschichten erzählenden Shooters, mittlerweile schon als "Rollenspiel-Egoshooter" kategorisiert, S.T.A.L.K.E.R., lässt ja nach wie vor hauptsächlich durch Terminverschiebungen aufhorchen.
Vor wenigen Wochen erschienen nun mit Serious Sam II und Quake IV zwei Egoshooter, die paradigmatisch für zwei Subgenres - Arcade und story-driven - stehen mögen. Und obwohl es wie ein ungleicher Kampf aussehen mag - da id-Software, die millionenschweren Begründer des Genres mit ihrer langjährigen Erfahrung, dort die noch nahezu unbekannten Kroaten -, zeigen sich in Quake IV die Schwächen, in Serious Sam II jedoch die unerwarteten Stärken des Genres Egoshooter.
Wollte man boshaft Parallelen zur Frühgeschichte des Computerspiels ziehen, so würde sich für Quake IV wohl Pacman eignen: Hier wie da wird durch dunkle, enge Tunnel gelaufen, die Gegner tauchen in Überzahl hinter Ecken auf und können mit der richtigen Strategie besiegt werden. Serious Sam II hingegen hat auf den zweiten Blick mehr mit Space Invaders oder Galaxian gemein: Auf riesenhaften Arealen ist man hier wie da bemüht, in geometrischen Wellen angreifenden Gegnern den Garaus zu machen, in Bewegung zu bleiben sowie durch Dauerfeuer ausgelöste bunte Explosionen zu bewundern.
Und eben hier, beim Schauwert und der Unmittelbarkeit des Gebotenen, kann das simple Serious Sam II punkten. Zugegeben: Die Grafikengine von Quake IV, die als Lizenzprodukt bei id-Software für klingelnde Kassen sorgen wird, liefert beeindruckende Szenen, und man mag zu Recht einwenden, dass das Spiel ohnedies nur als Technikdemo für die letzte Generation der Spielgrafik angesehen werden sollte.
Doch dafür gibt sich Quake IV zu ambitioniert, versucht zu verbissen, die beim indirekten Vorgänger Doom III (2004) gemachten Fehler zu verbessern, und bemüht sich etwas zu angestrengt, nicht nur technisch Höchstleistungen zu liefern. Auch die altbekannten Ingredienzien sind wieder da. Die Musik wird wie gehabt vom Umfeld des Industrial-Gottes Trent Reznor von Nine Inch Nails geliefert (Chris Vrenna), die Handlung ist militärisch düster und von Grausamkeit, Verstümmelungen und Horrormotiven geprägt. Exemplarisch zeigt sich dies bei einem der erzählenden Elemente des Spiels, in der Umwandlung des Protagonisten in einen "Strogg", eine den aus Star Trek bekannten Borgs ähnlichen Mensch-Maschine. Genüsslich zelebriert Quake IV hier seine Erzählmomente und die Inaktivität des Spielers, der aus der Ego-Perspektive miterleben muss, wie er, hilflos und bewegungslos an einen Operationssessel auf einem Fließband gefesselt, Stück für Stück seines menschlichen Körpers beraubt wird - Amputationen und Verstümmelungen inklusive.
Diese grausamen Szenen erscheinen in ihrer Inszenierung allerdings leider nicht als story-notwendige Metamorphose, die eine veränderte oder erweiterte Funktionsweise des Spielers zur Folge hätte, sondern nur als billiger Schockeffekt, der die Handlung im weiteren Verlauf nur oberflächlich und am Rande betrifft. Nach wie vor läuft der Spieler mit - künstlich intelligenter - Soldatenverstärkung durch die Gänge, erledigt brav und recht linear die von der Story in stromlinienförmigen US-Military-Stil erzählten Briefings vorgegebenen Missionsziele und kämpft dabei sowohl gegen die Humorlosigkeit als auch das Gefühl an, das alles schon mal gesehen zu haben - dieselben Lüftungsschächte, Maschinenhallen, Aufzüge und Tunnels, dieselben Soldaten und auch Gegner.
Nicht nur in ihrer Uninspiriertheit ist die Story ein Ärgernis; der Gedanke liegt auch ohne erneute Lektüre von Klaus Theweleits Werk "Männerfantasien" nahe, dass alle Handlungselemente samt ihren gepanzerten Körpern, ihrem Soldatenpathos und stählernen Helden nur querbeet und sehr durchsichtig die bewährten Identifikationsmuster und Rollenfantasien ihres idealtypischen 14-jährigen, männlichen Zielpublikums bedienen wollen. Überhaupt stellt Quake IV eine rein männliche Körperwelt dar; selbst das aus Filmen wie Aliens (1986) vertraute SF-Rollenstereotyp von Frauen als Pilotinnen wird nur an wenigen Stellen entkorporiert als weibliche Stimme im Funkverkehr wiederholt.
Während ältere, klischeemüde oder gar weibliche Spieler dann bei Quake IV nur unter Aufwendung von Selbstironie oder wegen der technischen Brillanz des Ganzen verbleiben werden, dürfte sich für all jene die Hemmschwelle bei Serious Sam II allerdings als deutlich niedriger darstellen. Zu bunt ist hier alles, zu offensichtlich schwachsinnig und deshalb augenzwinkernd - während sich der Held von Quake IV amputieren lässt, kotzt sich Sam in den seltenen und spielerisch irrelevanten Zwischensequenzen lieber nach einem Saufgelage mit den ulkigen Eingeborenen die Seele aus dem Leib, furzt nach einem Riesenteller Alien-Bohnen ein Dorf in Schutt und Asche oder spielt sonst den körper- und lustbetonten Hanswurst. In der Behandlung und Darstellung der Körper - bei Quake IV die Zerstörung und Metamorphose im "Stahlbad", bei Serious Sam II die lustvolle, teils infantil anmutende Freude an seinem Eigenleben - zeigt sich ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen den Spielen.
Würde man die geballte Gewalt, die der Spieler auszuüben hat, quantitativ bei beiden Spielen vergleichen, so wäre Serious Sam II sicher im Bodycount um einige Potenzen voran. Dennoch, gerade die schieren Massen von Gegnern lassen das Ganze eher zum Geschicklichkeitsspiel mit nur oberflächlichen Gewaltmotiven werden. Die Gegner tun das Ihre dazu: Wer jemals in Größe einer Ameise auf einem riesenhaften Müllplatz in einer Wiese gegen Riesenwespen, Hexen auf ihren Besen, mechanische Dinosaurierroboter sowie untote Börsenmakler gekämpft hat, wird schon aufgrund des bizarren Humors eher dem Charme von Sam verfallen als dem technisch herausragenden, aber sauertöpfischen und mit seinen Ansprüchen an Story überforderten und überfrachteten Quake IV. Serious Sam II ist puristisch und fast anarchisch in seiner Unbekümmertheit und Konsequenz. Die von Half-Life und seinen besseren Nachfolgern postulierte Überlegenheit des "interaktiven Films" als "besserem" Egoshooter muss, bei derartiger Konkurrenz, zumindest teilweise infrage gestellt werden, denn in der bunten Arcade-Inszenierung von Serious Sam II etabliert sich ein schon fast vergessen geglaubtes Subgenre des Egoshooters mit Macht von Neuem.
Während sich also Quake IV mit seinem Design, seinem hohen Anspruch an Story und Setting und - ironischerweise - seiner Ernsthaftigkeit eher an ein jüngeres und unter Umständen humorresistentes Publikum wendet, erinnert Serious Sam II absichtsvoll mit seiner Arcade-Lastigkeit, seinem Humor, seinen knallbunten Farbe und seiner Betonung der spielerischen Einfachheit und Direktheit an die fast vergessenen positiven Aspekte der Sturm-und-Drang-Zeit des Genres der Egoshooter - und schlägt überraschenderweise gefühlsmäßig auch die Brücke zu jenen simplen Arcade-Spielen der allseits in Retrowellen in Emulation und Neuauflage auftauchenden Spielautomaten-Ära. Es gibt keinen Grund, warum man nach der langen Dominanz und Stagnation der storybetonten Egoshooter der Sparte der Arcade-Shooter als neuem, altem Subgenre nicht eine erfolgreiche Renaissance wünschen sollte.