Zwei gegen Alle
Wir schreiben das Jahr 2007. Ganz Europa will eine Verfassung. Ganz Europa? Nein, zwei kleine, unbeugsame, polnische Politiker leisten weiterhin erbitterten Widerstand
Die polnische Hauptstadt mauserte sich in den letzten Wochen zu einem der beliebtesten Reiseziele europäischer Politprominenz. Am 30. Mai trafen der italienische Regierungschef Prodi und der portugiesische Außenminister Luis Amado zu einem eintägigen Arbeitsbesuch in Warschau ein. Der österreichische Bundeskanzler Alfred Gusenbauer kam wiederum am 11. Juni zu Gesprächen mit dem polnischen Premier Jaroslaw Kaczynski zusammen. Mittwochs unternahm der estnische Ministerpräsident Andrus Ansip eine Stippvisite an die Weichsel. Gestern war es der frischgewählte französische Präsident Nicolas Sarkozy, heute macht Spaniens Premier Jose Luis Rodriguez Zapatero Jaroslaw und Lech Kaczynski seine Aufwartung. All diese europäischen Spitzenpolitiker eint das Bestreben, die polnische Regierung von ihrer Blockadehaltung in der Frage des europäischen Verfassungsprozesses abzubringen.
Zuckerbrot und Peitsche
Die bisherigen Resultate dieser diplomatischen Offensive fallen jedenfalls höchst bescheiden aus. Sowohl Prodi, als auch Amado konnten keine greifbaren Ergebnisse vorweisen. Österreichs Bundeskanzler Gusenbauer ließ - ohne jegliche diplomatischen Rücksichten - seiner Enttäuschung über die Unnachgiebigkeit Warschaus gegenüber der Süddeutschen Zeitung freien Lauf: Man gewinne den Eindruck, dass Polens Führung unter den Brüdern Kaczynski den Deutschen den Erfolg nicht gönne, die Reform wieder in Schwung zu bringen, so Gusenbauer. Er habe der polnischen Führung ganz klar gemacht, dass dieses Blockadehaltung Konsequenzen haben werde. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das günstig für euch ausgehen wird“, soll Gusenbauer Jaroslaw Kaczynski gesagt haben.
Mit „ernsten Konsequenzen“ und „sehr negativen Folgen“, drohten Warschau auch der Präsident des Europaparlaments, Hans-Gert Pöttering (CDU) und EU-Kommissionschef Jose Manuel Barroso. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier will sich gar eine „Zukunft der EU nicht vorstellen, wenn es nicht gelingt, eine Verständigung zu finden“.
Der französische Präsident Sarkozy versuchte es hingegen mit einer Charmeoffensive. Nach einer zweistündigen Unterredung mit Präsident Lech Kaczynski erklärte er, den polnischen Standpunkt nun „zu verstehen“. Polen sei das Land, das der Welt Johannes Paul den II geschenkt habe, das Land, das als ein Symbol des Kampfes gegen Unterdrückung gelte, schmeichelte Sarkozy seinen Gastgebern auf einer Pressekonferenz in Warschau.
In einem Interview für die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza bot er Polen sogar eine „strategische Partnerschaft im Herzen der Union“ an. Dennoch machte der französische Präsident klar, dass auch „wir den polnischen Freunden zu verstehen gegeben haben, dass wir sie nicht isoliert sehen wollen.“ Fast schon kumpelhaft stellte Sarkozy fest, dass Polen „zu groß für die Quadratwurzel“ sei und sich mit der „doppelten Mehrheit“ anfreunden solle.
Von Quadratwurzeln und doppelten Mehrheiten
Für diese „Quadratwurzel“ will aber die polnische Führung angeblich zu sterben bereit sein, wie es Jaroslaw Kaczynski formulierte. Mit dieser theatralischen Geste umriss der polnische Ministerpräsident der Kernpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Polen und der Mehrheit der EU-Staaten - den Streit um den zukünftigen Abstimmungsmodus im Machtzentrum der EU, dem „Rat der Europäischen Union“.
Die auf dem EU-Gipfel zur Diskussion stehenden Eckpunkte einer stark gekürzten, europäischen Verfassung sehen die Abstimmung vermittels der „doppelten Mehrheit“ im Ministerrat vor. Beschlüsse sollen dann gültig sein, wenn 55 Prozent der Staaten, die zugleich auch 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren, diesen zustimmen. Dieser Abstimmungsmodus würde vor allem bevölkerungsreiche Länder wie Deutschland begünstigen. Polens Mathematiker haben nun in der von den Kaczynskis propagierten Quadratwurzel der Bevölkerungszahl eine alternative Methode der Entscheidungsfindung ersonnen. Polen käme so mit seinen 39 Millionen Einwohnern auf sechs Stimmen im EU-Rat, Deutschland mit seiner doppelt so großen Bevölkerung hingegen auf acht. Zusammen mit den tschechischen Verbündeten verfügte Warschau dann über genau so viel Einfluss, wie die Deutschland. Die „Quadratwurzel“ wird von der polnischen Regierung bereits als ein Kompromiss bezeichnet, da nach dem aktuellen Abstimmungsmodus Polen im EU-Ministerrat über nahezu so viel Stimmen verfügt wie die europäischen Schwergewichte Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Italien.
Weitere Streitpunkte
Generell plädiert die polnische Regierung für ein langsameres Tempo bei der Wiederaufnahme des europäischen Verfassungsprozesses, sowie auf eine strikte Begrenzung der Zuständigkeiten der zukünftigen, reformierten Europäischen Union. Sowohl Präsident wie auch Premier Kaczynski lehnen alle Vorschläge ab, die eine zukünftige EU mit den Insignien eines Staates auszustatten trachten, wie einen europäischen Außenminister, eine Hymne oder eine Flagge. Zudem sollen nach Ansicht der polnischen Führung die Politikbereiche, bei denen Entscheidungen innerhalb des Ministerrats ohne Vetomöglichkeit der Mitgliedsstaaten fallen sollen, stark begrenzt werden.
Ende Mai formulierten die Präsidenten Polens und Tschichiens - Lech Kaczynski und Vaclav Klaus - bei einem Gipfeltreffen ihre diesbezüglichen Standpunkte. Das Prinzip der Einstimmigkeit solle dominieren und Mehrheitsentscheidungen müssten klar als ein sekundärer Mechanismus fungieren, so die von Präsident Klaus geäußerte Vorstellung künftiger EU-Entscheidungsprozesse. Sein polnischer Amtskollege Kaczynski pflichtete Klaus bei: „Die EU setzt sich weiterhin aus unabhängigen Staaten zusammen. Wir müssen klar sagen, dass es Linien gibt, die man nicht überschreiten kann.“ Die Tschechische Republik gilt als einzige „offizielle“ Verbündete Polens im derzeitigen Streit mit der EU, beide gehen auch im Hinblick auf das Raketenabwehrsystem eigene Wege.
Einer gewissen klammheimlichen Unterstützung kann sich Warschau zumindest noch aus London sicher sein, wie die Financial Times am 12. Juni berichtete. So erklärte ein hochrangiger britischer Diplomat gegenüber der FT, dass „die Polen noch alles umkippen können“ - nicht ohne eine gewisse Hoffnung in der Stimme, wie das Blatt bemerkt. Die britische Regierung müsste dann die erneut „aufgewärmte Verfassung“ nicht seiner Bevölkerung zur Abstimmung stellen, wovor man in der Downing Street „Angst“ habe. Dieses „merkwürdige Bündnis“ aus Polen, Tschechien und Großbritannien werde auf dem EU-Gipfel am 21. sicher angeklagt werden, die Europäische Union in Gefahr zu bringen. Die wahre, langfristige Gefahr stellten aber gerade die dar, die für eine „immer engere Union“ plädierten, die Tatsache ignorierend, dass gewöhnliche Europäer immer stärker enttäuscht sind, so das Fazit der FT, die damit der allgemeinen, euroskeptischen Stimmung auf den britischen Inseln Ausdruck verlieh.
Nachdem Prodi, Amado, Gusenbauer, Ansip, Sarkozy und Zapatero an Jaroslaw Kaczynski appelliert haben, sich der europäischen Integration und der „doppelten Mehrheit“ nicht in den weg zu stellen, wird sich Polens Premier am Samstag mit Angela Merkel treffen. Die Kanzlerin geht wohl davon aus, dass der Besuchsmarathon europäischer Spitzenpolitiker – der Wechsel von Drohungen und Kooperationsangeboten - den fast schon kartoffelharten Kaczynski bis dahin weich gekocht haben wird. Von diesem Treffen dürfte maßgeblich abhängen, ob der Brüsseler EU-Gipfel und der erneut initiierte Verfassungsprozess erfolgreich verlaufen bzw. weitergeführt werden. Zumindest deuten erste Hinweise darauf, dass Jaroslaw Kaczynski langsam seinen Garpunkt erreicht haben könnte, da er nach dem gestrigen Treffen mit Sarkozy „weitere Kompromissbereitschaft“ signalisierte.