Zweierlei atomare Gefahren durch den Ukraine-Krieg

Seite 2: Kampf um die Ukraine ist für Moskau Stellvertreterkrieg

Tatsächlich machen russischen Fachleute keinen Hehl daraus, dass der Ukraine-Krieg für sie nichts anderes als eine indirekte militärische Auseinandersetzung mit dem Westen ist – und demzufolge die russische Strategie der atomaren Abschreckung auch mit dem Krieg im Zusammenhang steht. Es sei "eine einzigartige und ziemlich gefährliche Situation zwischen zwei nuklearen Supermächten entstanden, an der die eine direkt und die andere indirekt, aber nicht weniger aktiv beteiligt ist" meint dazu der kremlnahe Politologe Fjodor Lukjanow zur Rossiskaja Gaseta.

Dass westliche Unterstützer der Kiewer Regierung die Bezeichnung eines "Stellvertreterkrieges" aufgrund des ursprünglich russischen Angriffs auf die Ukraine als nicht-NATO-Mitglied ablehnen, spielt für dieses einhellige Bild in Russland selbst keine Rolle. Es wird auch durch die massive militärische Unterstützung der ukrainischen Truppen durch den Westen gestützt und sich in Moskau nicht mehr ändern.

Atomwaffentests und Aufrüstung möglich

Dementsprechend sieht Lukjanow auch etwa den Neustart von Atomwaffentests als möglichen Kurs für eine weitere Eskalation auf Seiten Russlands, mit der es auf so empfundene Eskalationen des Westens antworten könne. Als eine solche westliche Eskalation sieht Lukjanows Kollege Alexej Gromyko von der Russischen Akademie der Wissenschaften, Enkel des gleichnamigen sowjetischen Außenministers, etwa die Lieferung von US-Raketen mit größerer Reichweite an die Ukraine oder neue Panzerlieferungen.

Doch nicht nur Atomwaffentests sind eine bereits von Moskau ins Auge gefasste nukleare Folge weiterer Eskalationsspiralen mit dem Westen. Eine andere ist eine atomare Aufrüstung. Aktuell herrsche Parität zwischen den atomaren Sprengköpfen auf den Atomraketen Russlands und den USA, ist in der russischen Fachzeitschrift Argumenty i Fakty zu lesen.

Diese wurde durch Abkommen wie Start festgeschrieben. Gegenüber "Argumenty i Fakty" prognostiziert der Sicherheitsexperte Igor Korotschenko eine mögliche russische Aufrüstung auf das Niveau, das die USA, Großbritannien und Frankreich zusammen besitzen. Er bezieht sich darauf, dass Russlands Präsident Wladimir Putin deren Atomwaffenpotential in seiner jüngsten Botschaft nicht umsonst zweifach erwähnt habe.

Selbstverständlich ist dabei, dass Russland beide Staaten in der aktuellen Auseinandersetzung als Teil eines monolithischen "feindlichen Blocks" sieht. In Zahlen bedeutet das laut der russischen Zeitschrift eine mögliche atomare Aufrüstung Russlands um 600 Atomsprengköpfe – obwohl das vorhandene Arsenal für einen Overkill aller Beteiligten schon ausreicht.

Hintertüren wegen der Gefahren offen gelassen

Selbst den Hardlinern unter den Experten sind sich dabei der Gefahren eines neuen atomaren Wettrüstens bewusst. Lukjanow bezeichnet selbst die letzte Runde des atomaren Wettrüstens zwischen der Nato und dem Warschauer Pakt in den siebziger und Achtzigerjahren als "sinnlos und extrem kostspielig", die sich nun nicht wiederholen solle.

Das Ende der bilateralen Abrüstungsverträge sei "kaum ein Anlass zur Freunde". Andere Experten sehen die früheren Belastungen durch diese Hochrüstung sogar als eine der Ursachen des Untergangs der UdSSR und es fragt sich, wie ein durch Sanktionen geschwächtes Russland eine neue atomare Hochrüstungsrunde finanziert.

Lukjanows gemäßigter Kollege Andrej Kortunow vom Russischen Rat für Auswärtige Beziehungen glaubt nicht daran, dass Russland die in Start festgelegten Obergrenzen an Atomwaffen nun überschreitet.

Er verweist darauf, dass Putin den Vertrag nur ausgesetzt und nicht gekündigt habe. Russland ziele damit vor allem auf eine Aussetzung der Inspektionen im Rahmen des Vertrags, die die USA den Russen gegenüber eingefordert habe, aber von russischer Seite aufgrund US-amerikanischer Restriktionen immer schwieriger geworden wäre.

Atomwaffeneinsatz in aktueller Lage nicht – und später?

Die drängendste und gefährlichste Frage, wann Russland denn auch Atomwaffen einsetzen und nicht nur solche aufrüsten könnten, versuchen die russischen Experten in ihren Analysen so weit wie möglich zu umschiffen. Alexej Gromyko verweist auf Äußerungen Putins, dass Russland den Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine nicht erwäge. Russland sehe auch in der Auseinandersetzung mit dem Westen noch nicht die Bedrohung, bei der man "von der nuklearen Abschreckung zum Einsatz solcher Systeme" übergehen würde.

Eine solche Gefahr sieht er jedoch unter Umständen dann, wenn der Stellvertreterkrieg in der Ukraine sich zu einem direkten Zusammenstoß der Nato mit Russland entwickle. Oder wenn Gebiete der Russischen Föderation – er nennt die Krim oder die Kaliningrad-Region – erobert würden. Fachmännisch könne man jedoch nur die aktuelle Situation beurteilen, über die Zukunft könne man nur "fantasieren".

Eine Einstellung, die unter den russischen Fachleuten verbreitet ist und wegen der man auf die düsterste und drängendste Frage der aktuellen Aufrüstungsrunde kaum eine fundierte Antwort findet.


Redaktionelle Anmerkung: Vor der ersten Zwischenüberschrift wurden Informationen zu den russischen Raketenangriffen ergänzt.