Zweifel an der Mittelstandshypothese

Kleine und mittlere Betriebe gelten noch immer als Jobmotoren. Doch in neuen Krisenzeiten könnten sie mit dieser Rolle überfordert sein

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am vergangenen Sonntag trafen sich führende Vertreter aus Wirtschaft und Politik im Berliner Kanzleramt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte zu dem Meinungsaustausch Außenminister Steinmeier mit den Kollegen Steinbrück, Glos und Scholz, aber auch Vorstandsvorsitzende und Gewerkschaftsführer geladen. Neben Bundesbank-Präsident Axel Weber, fanden sich auch der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Josef Ackermann, und Telekom-Chef René Obermann am Konjunkturgipfel ein, um „gemeinsam Verantwortung in der Krise zu tragen“ und der verunsicherten Öffentlichkeit ein wenig Mut zu machen.

Deutschland ist ein starkes Land. Ich bin zutiefst überzeugt, dass wir Deutsche diese Herausforderung meistern werden.

Angela Merkel

Nach sieben Stunden präsentierten die Beteiligten dann ein vages Versprechen. Im Januar sollen Gespräche mit den Dax-30-Unternehmen stattfinden, um „Möglichkeiten zu prüfen“, im Rahmen einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“ auf betriebsbedingte Kündigungen im Jahr 2009 zu verzichten. Dabei könnten die Konzerne „arbeitsmarktpolitische Instrumente“ wie das Kurzarbeitergeld und Qualifizierungen nutzen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Verhandlungen von Erfolg gekrönt sein werden und die Protagonisten in Kürze erneut die Gelegenheit bekommen, die Marktwirtschaft als funktionierendes System mit erstaunlichen Selbstheilungskräften zu präsentieren.

Stellenabbau ohne betriebsbedingte Kündigungen

Den großen Konzernen wird die Zusage keine betriebsbedingten Kündigungen auszusprechen, umso leichter fallen, als viele von ihnen bereits entsprechende Regelungen vereinbart haben. Siemens, BMW, Allianz, die Telekom oder Bayer sind entsprechende Selbstverpflichtungen eingegangen, doch in vielen Einzelfällen resultierten daraus keineswegs die erhofften Jobgarantien. Gerade die Großunternehmen strichen in den vergangenen Jahren Tausende Stellen und kamen in Sachen „Personalumbau“ oft auch ohne betriebsbedingte Kündigungen zügig voran.

Nicht nur „Die Linke“ wertete das Treffen im Kanzleramt deshalb als Gipfel mit Ergebnissen im Null-Komma-Bereich. Auch Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands mittelständischer Wirtschaft, sprach von bloßen „Lippenbekenntnissen“ und erhob gleichzeitig deutliche Vorwürfe gegen die Beschäftigungspolitik der deutschen Großunternehmen.

Während von den Konzernen zehntausende Mitarbeiter auf die Straße gesetzt wurden, hat der Mittelstand hunderttausende sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen.

Mario Ohoven

Wer kompensiert "Beschäftigungsverluste“?

Der Zusammenhang zwischen der Beschäftigungspolitik von Großkonzernen auf der einen und kleinen oder mittleren Betrieben auf der anderen Seite, den Ohoven hier voraussetzt, wird von der einschlägigen Literatur vielfach bestätigt. Aber auch bei den politischen Verantwortungsträgern und großen Teilen Bevölkerung gelten mittelständische Unternehmen als nimmermüde Jobmotoren, die im Ernstfall fähig sind, den Stellenabbau der selbsternannten Global Player zu kompensieren.

Tatsächlich sind Betriebe mit weniger als 500 Beschäftigten, die in Deutschland knapp 80 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze stellen, entscheidend an der Entwicklung der Beschäftigungssituation beteiligt. Eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kommt allerdings zu dem Schluss, dass sie – anders als in früheren Jahren – nicht mehr in der Lage sind, Beschäftigungseinbrüche in größeren Unternehmen auszugleichen.

Dabei konnte der Mittelstand seine volkswirtschaftliche Position seit Mitte der 90er Jahre noch einmal ausbauen. Der Beschäftigungsanteil der Betriebe mit weniger als 250 Beschäftigten erhöhte sich zwischen 1994 und 2005 von 65 auf 69,6 Prozent. Der Beschäftigungsanteil der mittleren Betriebe, die zwischen 250 und 499 Arbeitsplätze zur Verfügung stellten, blieb durchgängig bei etwa 10 Prozent, doch der Anteil von Großbetrieben mit mehr als 500 Beschäftigten sank in den elf Jahren von 25 auf 20,3 Prozent. In den ostdeutschen Bundesländern fiel dieser Wert im Jahr 2005 sogar auf 14,6 Prozent.

Das Autorenteam um Thomas K. Bauer, der einen Lehrstuhl für Empirische Wirtschaftsforschung an der Ruhr-Universität Bochum innehat, attestiert den mittelständischen Betrieben noch immer einen „überdurchschnittlichen Umschlag“, wenn es um den Gewinn oder Verlust von Arbeitsplätzen geht.

So entfallen in Westdeutschland im Jahr 2005 87,3 Prozent der Beschäftigungsgewinne auf KMB (Kleine und mittlere Betriebe) mit bis zu 250 Beschäftigten, darunter 40,8 Prozent auf Kleinstbetriebe mit bis zu 9 Beschäftigten. Gleichzeitig vereinen KMB 83,4 Prozent der Beschäftigungsverluste auf sich, hieran haben Kleinstbetriebe einen Anteil von 37,2 Prozent.

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

Die Analyse der vergangenen Jahre zeige allerdings, dass kleine und mittlere Betriebe – vor allem im Westen Deutschlands – immer deutlicher an den Beschäftigungsverlusten beteiligt seien, während ihr Anteil an den Zugewinnen allenfalls leichten Schwankungen unterliege. Diese These scheint in diesen Tagen und möglicherweise auch im kommenden Jahr bestätigt zu werden. Gleich mehrere Mittelstandsvertreter schlossen eine Jobgarantie für 2009 oder einen pauschalen Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen kategorisch aus.

Instabilität der Beschäftigungsverhältnisse

Eine Ursache für das Stottern des vermeintlichen Jobmotors sehen die Wissenschaftler in der zunehmenden Instabilität der Beschäftigungsverhältnisse. So beträgt die durchschnittliche „Lebensdauer einer Arbeitsplatzes“ in westdeutschen Großunternehmen immerhin noch elf Jahre. In Kleinstbetrieben wurde für die Jahre 1994 bis 2005 dagegen ein Durchschnittwert von nur 2,5 Jahren (Westdeutschland) beziehungsweise zwei Jahren (Ostdeutschland) ermittelt. Entsprechend nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in den Jahren 2002 bis 2005, die von einer schwachen Binnennachfrage gekennzeichnet waren, vor allem in mittelständischen Betrieben ab. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vermutet hinter dieser Entwicklung eine geringere Exportaktivität und schwächere Rücklagen - Mitte der 90er Jahre konnten die kleineren und mittleren Betriebe noch sehr viel erfolgreicher auf die nachlassende Binnennachfrage reagieren.

Die Vorstellung, KMB könnten generell Beschäftigungseinbrüche in größeren Betrieben in erheblichem Umfang kompensieren, ist damit empirisch nicht gesichert. Für den Untersuchungszeitraum und auf Basis der sozial versicherungspflichtig Beschäftigten lässt sich in den Daten kein Beleg für die Hypothese finden, dass sich insbesondere kleinere und mittlere Betriebe in Jahren des Beschäftigungsrückgangs besser behaupten können als große Betriebe.

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

Positive Bilder und verallgemeinerte Ansichten

Für die Autoren ergibt sich aus den aktuellen Befunden die Frage, warum sich das „uneingeschränkt positive Bild“ der mittelständischen Unternehmen überhaupt in der Öffentlichkeit und Politik durchsetzen konnte.

Diese Zweifel sind nicht neu. Schon vor vier Jahren wurde in einer Analyse der KfW Bankengruppe, die den Großunternehmen grundsätzlich einen erheblichen Einfluss auf die Beschäftigungssituation zutraut, vorgeschlagen, auch Alter und Branchenzugehörigkeit, Ertragslage, Absatzerwartungen und die Kapitaldeckung zu berücksichtigen. Beschäftigungsrelevant seien aber vor allem Ziele, die mit Investitionsvorhaben verknüpft würden. So müsse davon ausgegangen werden, dass Unternehmen, die ihren Umsatz steigern oder eine Produktinnovation einführen, „deutlich mehr“ Arbeitsplätze schaffen als Betriebe, die ihre Anstrengungen auf Rationalisierungsmaßnahmen oder die Einführung technischer Neuerungen konzentrieren.

Auch das Institut für Mittelstandsforschung in Bonn misstraut der angeblichen Sonderrolle mittelständischer Betriebe, und das nicht nur, weil es sich bei den bisherigen Rechenspielen vorwiegend um Nettobetrachtungen handelt, die immer nur bedingt relevante Aussagen zur „Arbeitsplatzdynamik in Form von Neueinstellungen und Entlassungen“ ermöglichen. Die Mittelstandshypothese sei letztlich eine "verallgemeinerte Ansicht", möglicherweise also eine Art Gefühlssache, die das Institut vorerst auch nicht weiter präzisieren möchte. Denn die Tendenz scheint irgendwie noch zu stimmen.

Der Mittelstand hat an der positiven Entwicklung des Arbeitsmarktes 2008 sicherlich einen weiterhin hohen Anteil.

Institut für Mittelstandsforschung

Hotline für den Mittelstand

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sieht die Lage weniger optimistisch und plädiert vor dem Hintergrund der empirisch (nicht ermittelten) Fakten für eine Neubewertung der wirtschaftspolitischen Förderrichtlinien. Die Erkenntnisse der aktuellen Studie lieferten jedenfalls „keine gute Begründung für eine besondere Förderung der kleinen und mittleren Betriebe“. Die gegenteilige Meinung ließe sich allerdings mindestens ebenso überzeugend begründen, denn noch stellen diese Betriebe 80 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze, und man kann sich leicht vorstellen, wohin die Arbeitslosenquote wandert, wenn dieser Anteil von Großkonzernen übernommen würde.

Inwiefern das Bundeswirtschaftsministerium die eine oder andere Einschätzung teilt, weiß kaum jemand mit Sicherheit zu sagen, doch in der Berliner Scharnhorststraße wollen die Verantwortlichen auf keinen Fall den Eindruck zu erwecken, der noch im März 2007 zur Konjunkturlokomotive ausgerufene Mittelstand sei in Krisenzeiten auf sich allein gestellt.

Nur die finanziellen Möglichkeiten scheinen leider begrenzt. Nach dem gigantischen Schutzschirm, der über angeschlagene Banken und Kreditinstitute gespannt wurde, reichte es nur noch zu einem kleinen Konjunkturpaket, das 2009 zwar noch einmal erweitert werden soll, aber neben neuen Schuldenbergen kaum ordnungspolitische Neubestimmungen, Strukturreformen oder gar Systemüberprüfungen mit sich bringen dürfte.

Doch der stets ein wenig ratlos wirkende Bundesminister für Wirtschaft und Technologie möchte die von der Finanzkrise betroffenen Mittelständler unterstützen, "wo immer es möglich ist". Sein Ministerium hat deshalb eine "Telefon-Hotline für den Mittelstand" eingerichtet, für die der oberste Dienstherrn bereits "persönlich" zur Verfügung stand. Schon einen Tag nach der Freischaltung konstatierte das Ministerium einen "vollen Erfolg", von dem auch der gelernte Müller Michael Glos profitierte.

Die Telefonaktion hat mir gezeigt, dass die mittelständischen Unternehmen großen Bedarf an Unterstützung durch die Bundesregierung haben. Ich hatte heute die Gelegenheit, mich über die vielfältigen Probleme zu informieren, die durch die Finanzkrise bei kleinen und mittelständischen Unternehmen entstanden sind.

Michael Glos

Ein Bundesminister wird umfassend informiert - für nur 14 Cent in der Minute. Der Wirtschaftsstandort Deutschland hat also doch noch positive Schlagzeilen zu bieten.